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Gott ist nicht das Problem, sondern die Lösung: ein philosophisches Bekenntnis

Pater Engelbert Recktenwald

In meiner Jugend, lange vor meiner Studienzeit, kam es beim Nachdenken über Gott zu einem Gedankengang, der bis heute prägend für mein weiteres Denken wurde. Er betrifft den Zusammenhang des Gottesbegriffs mit dem des Guten.

Sünde, so hatte ich verinnerlicht, ist eine Beleidigung Gottes. Aber warum eigentlich? Es geht mir bei dieser Frage nicht um das Wort „beleidigen“. Dass es sich dabei um einen Anthropomorphismus handelt, der nicht im Sinne der Kränkung eines Ehrgefühls verstanden werden darf, war mir klar. Der Punkt ist ein anderer. Es stellte sich mir vielmehr die Frage, warum eine Entscheidung gegen das moralisch Gute ipso facto auch eine Entscheidung gegen Gott darstellt. Wie kann das sein? Im Falle, dass diese Entscheidung von einem gläubigen Christen getroffen wird, ist die Antwort klar: Wenn er daran glaubt, dass die Gebote von Gott stammen, dann ist jede Übertretung eines Gebotes eine Missachtung der Autorität Gottes. Wenn ich mich den legitimen Befehlen eines Königs widersetze, ist der König zurecht erbost, wenn ich seine Befehle wie Luft behandle. Aber nehmen wir einmal an, dass ich gar nicht wüsste, dass die geltenden Gesetze vom König stammen. In diesem Falle würde der König die Gesetzesübertretungen zwar ahnden, weil es seine Pflicht ist, für die Wahrung der Ordnung zu sorgen. Aber es wäre von ihm unfair, das Verhalten des Gesetzesbrechers persönlich zu nehmen. Dieser könnte zurecht einwenden: „Ich wusste nicht, dass es sich um deine Gebote handelt, ja, ich wusste nicht einmal etwas von deiner Existenz. Deshalb kann mein Verhalten in keiner Weise als ein Verhalten dir gegenüber als Person ausgelegt werden. Meine Missachtung der Gesetze und mein Verhältnis zu dir sind zwei Paar Schuhe. Ich habe zwar dein Gebot übertreten, und trotzdem war dies von mir in keiner Weise eine Entscheidung gegen dich. Solange ich dich nicht kannte, konnte ich mich nicht gegen dich entscheiden.“

Die Frage ist also: Wie ist es möglich, dass ein Atheist Gott beleidigt? Wie kann es sein, dass die unmoralische Handlung eines Atheisten als ein Verhalten gegenüber Gott betrachtet wird? Oder noch präziser ausgedrückt: Wie ist es möglich, dass eine Entscheidung gegen das moralisch Gute notwendigerweise immer auch eine Entscheidung gegen Gott ist? Wie kann man sich gegen jemanden entscheiden, den man gar nicht kennt? Dies ist nur möglich, wenn das moralisch Gute in einer Weise mit Gott identisch ist, die weit über den Zusammenhang hinausgeht, der zwischen einem Gesetz und seinem Gesetzgeber existiert. Nur aufgrund dieser Identität kann sich Gott von dem Verhalten des Sünders betroffen fühlen.

Jede Entscheidung gegen das moralisch Gute ist unmittelbar auch eine Entscheidung gegen Gott. Mein moralisches Verhalten konstituiert unmittelbar – also nicht bloß indirekt über einen irgendwie vermittelten Kausalzusammenhang – mein Verhältnis zu Gott. Die Sünde ist nicht bloß die Übertretung eines Gebotes, dessen Urheber mir möglicherweise unbekannt ist und von dem es folglich unfair wäre, wenn er seine Gemeinschaft mit mir von einem Verhalten abhängig machen würde, dessen Zusammenhang mit seiner Person ich nicht kenne. Tatsächlich ist dies ja bei den positiven göttlichen Geboten der Fall. Das Brechen der Sabbatruhe bzw. der Sonntagsheiligung wird demjenigen nicht als Schuld angerechnet, der von diesem Gebot nichts weiß bzw. davon weiß, aber bona fide nicht daran glaubt. Kein Christ wird einmal beim göttlichen Gericht dafür bestraft werden, dass er samstags eine Reise gemacht, kein Jude, dass er sonntags gearbeitet hat. Ganz anders sieht es bei den Geboten des natürlichen Sittengesetzes aus. Auch der Atheist hat ein Gewissen und weiß, dass er nichts Böses tun darf. Wenn er es trotzdem tut, beleidigt er Gott, und zwar auch dann, wenn ihm noch nicht einmal im Traum der Gedanke kommt, dass die Stimme des Gewissens die Stimme Gottes sein könnte. Er weiß nicht, dass er, indem er sich gegen sein Gewissen wendet, sich gegen Gott wendet. Und trotzdem wird er von Gott so behandelt, als ob er es wüsste. Das ist nur dann gerecht, wenn Gott in unzertrennlicher Weise das moralisch Gute IST, und zwar jenes Gute, das wir aus der Erfahrung unseres Gewissens kennen, also das Gute, das jederzeit und unter allen Umständen zu achten unser Gewissen gebietet.

Diese Identität zwischen Gott und dem Guten können wir in unserem Denken auf zweierlei Weise herstellen: entweder vom Gottesbegriff aus oder vom Begriff des Guten aus. Es geht also um die zwei Fragen: Wie muss ich Gott denken, damit er mit dem Guten identisch ist? Wie muss ich das Gute denken, damit es mit Gott identisch ist?

Im ersten Fall muss ich Gott so denken, dass er das Gute wesenhaft ist. Tatsächlich lehrt uns das die Theologie. Thomas von Aquin schreibt in der Summa contra Gentiles, dass Gott nicht nur gut, sondern die Güte selbst sei (Est igitur ipsa bonitas, non tantum bonus.), er ist das Gute in allem Guten (Sua igitur bonitas omnes bonitates comprehendit. Et ita est omnis boni bonum.). Gott ist mit seinen Eigenschaften wesenhaft identisch. Seine Heiligkeit ist nicht bloß – wie bei uns – ein Akzidens, also eine Eigenschaft, die von ihrem Träger real verschieden ist. Sie ist Er selbst.

Im zweiten Fall muss ich das Gute personal denken. In der Stimme des Gewissens, die mich zum Tun des Guten auffordert, begegne ich einem personalen Aufruf. Die elementare Sollenserfahrung, die mich im tiefsten Inneren anspricht, hat ihre Quelle in einer ebensolchen personalen Tiefe. Es ist tatsächlich Gott selbst, gegen den ich mich entscheide, wenn ich mein Gewissen missachte.

In beiden Fällen läuft das Verfahren auf dasselbe hinaus. Das Ergebnis besteht im Verbot, Gott und das Gute gedanklich auseinanderzureißen. Wenn ich es dennoch tue, zerstöre ich die Identität beider. Gott würde aufhören, Gott zu sein, wenn er nicht gut wäre. Das Gute würde aufhören, das Gute zu sein, wenn es nicht real wäre. Es hat die Realität eines allmächtigen, göttlichen Willens. Ich werde Gott nur dann gerecht, wenn ich es für unmöglich halte, dass er auf irgendeine Weise nicht vollkommen gut wäre. Dem Guten werde ich nur dann gerecht, wenn ich es nicht bloß für eine Idee, ein ohnmächtiges Ideal, eine Erfindung des Menschen oder ein Produkt der Evolution halte.

In meinem Philosophiestudium habe ich mit wachsender Klarheit erkannt, dass jene Identität den Schlüssel für fast alle Probleme der Grundlegung einer Ethik bereithält. Ohne Gott wird das Gute unerklärlich. Es wird seiner Verbindlichkeit beraubt wie auch seiner Relevanz für Wert und Sinn des Lebens. Das erste können wir in allen Formen des moralischen Relativismus und Subjektivismus beobachten, das zweite z. B. in der Existenzphilosophie Heideggers, die ohne Ethik auskommt und in der Herausarbeitung der Sinnrelevanz für das menschliche Dasein die Moralität durch eine außermoralisch gefasste Eigentlichkeit ersetzt, frei nach dem Motto: Es kommt nicht darauf an, ob du gut oder böse ist, sondern: Sei einfach nur du selbst! Alle Formen des Naturalismus und dessen Versuche, das im Gewissen erfahrbare Gute umzudeuten, zeigen uns, wie dieses Gute (der moralische Wert) in einer Welt ohne Gott heimatlos geworden ist. Dort, wo es im Leben eines Menschen dennoch sichtbar wird, treffen dann die resignativen Worte Gottfried Benns zu: „Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Sanfte und das Gute kommt, weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.“

Es gibt ernsthafte Versuche zu einer Ethik, die ohne jene Umdeutung auskommt, z. B. von Thomas Nagel, Jürgen Habermas oder Max Horkheimer. Bei ihnen die echten Erkenntnisse von den Grenzen, ab denen ihre Versuche scheitern, zu unterscheiden, ist ein Unternehmen, bei dem sich in meinen Anläufen zu seiner Umsetzung der oben erwähnte Schlüssel immer wieder bewährt hat. Er lässt sogar den ontologischen Gottesbeweis des hl. Anselm von Canterbury in einem neuen, überzeugenden Licht erscheinen.

Neun Aufsätze aus der Feder von Pater Engelbert Recktenwald, der seit Jahren für CNA Deutsch schreibt, kreisen um dieses Themenfeld und sind kürzlich in einem Sammelband unter dem Titel „Wirklichkeitserschließendes Sollen“ erschienen:

Engelbert Recktenwald: Wirklichkeitserschließendes Sollen; Verlag Karl Alber 2023; ISBN 9783495995112

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.

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