02 Juni, 2024 / 8:00 AM
Als der Parlamentarische Rat unter dem Vorsitz von Konrad Adenauer in der Nacht des 8. Mai 1949 das Grundgesetz (GG) beschloss, haben die Mütter und Väter der neuen Verfassung einen historischen Meilenstein gesetzt. 88 Prozent der Bundesbürger beurteilen heute das Grundgesetz als „gut“. Was sind die Gründe für die hohe Zustimmung?
Die deutsche Verfassung ist außerordentlich bürgerfreundlich. Und das hat einen einfachen Grund: Den nationalsozialistischen Unrechtsstaat und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs unmittelbar vor Augen, haben die Mitglieder des Parlamentarischen Rates kluge und wichtige Schlussfolgerungen gezogen.
Sie schufen einen freiheitlichen Rechtsstaat mit hoch wirksamen Grundrechten, die sie in fundamentaler Weise im Grundgesetz verankerten. Diese binden alle Staatsgewalt als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3). Durch ihre starke Verankerung bilden die Grundrechte nicht nur bloße Staatszielbestimmungen, sondern binden unmittelbar jeden Beamten – ob nun bei der Polizei oder beim Finanzamt – bei jedem Eingriff auf den Bürger. Mehr als „unmittelbar“ ist nicht möglich.
Gleichzeitig handelten die Verfassungsmütter und -väter höchst weitsichtig: Die Nationalsozialisten gewannen ihre Macht auch aus der Unzufriedenheit verelendeter Volksmassen. Deshalb wurde mit den Grundrechten (Artikel 1 bis 19) nicht nur der Handlungsspielraum der Bürger maximal erweitert, was eine Grundlage für das „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit mit dem jahrzehntelang wachsenden Wohlstand schuf, sondern verankerten auch in Art. 20 das Sozialstaatsprinzip. Freiheit und soziale Sicherheit sind aufeinander angewiesen.
Das Grundgesetz ist aber auch in vielen weiteren Bestimmungen weitsichtig und klug formuliert. Nie hat es einer größeren Überarbeitung bedurft. Bis heute ziehen Juristen und Politiker ihren Hut vor der damaligen Leistung. Die bittere Noterfahrung hatte die Menschen sehr aufmerksam gemacht, worauf es im Politikgeschäft ankommt; die Jahre der Weimarer Republik mit ihren fatalen verfassungsmäßig relevanten Kinderkrankheiten und die anschließende NS-Gewaltherrschaft bildeten die strengen Lehrmeister.
Bei den „Grundrechten“ (Art. 1 bis Art. 19) handelt sich sich um unmittelbare Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen. Der Kernbereich privater Lebensgestaltung ist gegen staatliche Eingriffe umfangreich geschützt.
Das Grundgesetz beginnt mit einem Paukenschlag. Nach der bekannten Präambel „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ erklärt Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die deutsche Verfassung verfügt über zwei Wurzeln, aus denen sie hervorgegangen ist: das christliche Abendland und die Aufklärung.
Beide Wurzeln sind mittlerweile Geschichte, ihr Einfluss schwindet. Beim Inkrafttreten gehörten noch 95 Prozent der Bundesbürger der katholischen Kirche bzw. anderen christlichen (vorwiegend protestantischen) Gemeinden an; ihr Anteil hat sich mittlerweile halbiert. Die Aufklärung gründet auf dem Naturrecht, das im öffentlichen Bewusstsein kaum noch wahrzunehmen ist. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das vorausgesehen, wusste aber keine andere Antwort, als er ab 1964 auf das Dilemma hinwies. Sein wichtigster Inhalt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Erläuternd beschrieb er: „Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben.“
Der Staat ist also auf Faktoren angewiesen, die ein tragendes Wertebewusstsein unter den Bürgern schaffen. Nach dem Ende von Diktatur und Krieg bestand Einvernehmen über die Vorzüge von christlichem Abendland und Aufklärung. Der Staat sollte nie wieder bevormunden und kollektivieren, sondern mündigen Staatsbürgern die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit garantieren. Der Schutz von Religion, Meinungsfreiheit und Familie bildete dazu die Basis – grundgelegt in den Artikeln 1 und 2 sowie 4 bis 6 des Grundgesetzes, ergänzt vom Gleichheitsgrundsatz (Art. 3) sowie weiteren Grundrechten wie pluralem Schulwesen, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Briefgeheimnis, Berufsfreiheit, Unverletzlichkeit der privaten Wohnung, Schutz des Eigentums und Erbrechts sowie vor politischer Verfolgung.
Das Verhältnis zu den Kirchen hat sich entkrampft. Staat und Kirche sind jeweils unabhängig, bleiben aber kooperationsbereite Partner. Der Staat weiß: Die Kirche trägt nicht nur zum Zusammenhalt und Wertebewusstsein bei, was sich daran zeigt, dass Kirchenmitglieder überdurchschnittlich ehrenamtlich tätig sind. Die kirchlichen Organisationen gehören auch zu den wichtigsten Akteuren im Sozialstaat und Bildungssystem: Sie betreiben Kindergärten, Hilfsdienste, Schulen und Krankenhäuser. Allein die kirchliche Caritas beschäftigt in rund 6.200 rechtlich eigenständigen Trägern etwa 693.000 Mitarbeiter und ist damit der größte privatrechtliche Arbeitgeber Deutschlands.
Der Staat des Bonner Grundgesetzes ist religiös neutral. Wer eine Sozialleistung anbietet, spielt im Wettbewerb der sozialen Anbieter keine Rolle. Die Religionsfreiheit (Art. 4) schützt nicht nur die private Ausübung des Glaubens, sondern auch die gemeinsame. Und die Rechte der Religionsgemeinschaften werden vom Staatskirchenrecht (Art. 140) sowie den derzeit 17 gültigen Konkordaten und Staatskirchenverträgen geregelt.
Wie ist demnächst der Islam zu behandeln? Passt er in das bestehende Staatskirchensystem? Oder sind die Unterschiede zu den christlichen Institutionen zu groß? Immerhin ist das Gemeinwesen aus dem Christentum hervorgegangen, das seit 1200 Jahren hierzulande kulturell wirksam ist. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein“ (BVerfG 93,1,22).
Grundsätzlich gilt die Religions- und Gewissenfreiheit für alle gleich – auch für Ungläubige, die Übergriffigkeiten abwehren können. So gibt es bereits Einschränkungen beim Glockenläuten. Noch stärker greift die „negative Religionsfreiheit“ beim Ruf des Muezzins, der dazu zwingt, das islamische Glaubensbekenntnis anzuhören.
Art. 140 verankert die seit über hundert Jahren bestehenden Regeln der Religionsverfassung und besteht nur aus einem Satz: „Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“ Zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung war der Islam zwar noch nicht relevant. Aber die Grundprinzipien der Religionsfreiheit, der Trennung von Staat und Kirche, des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften, der Neutralität des Staates und der Gleichbehandlung aller Religionen gelten auch für den Islam; viele allgemeine Regelungen des Art. 140 für „Religionsgesellschaften“ sind auf ihn anwendbar. Um ihn spezieller zu berücksichtigen, müsste das Grundgesetz geändert werden. Momentan erschließt sich nicht, welche Erweiterungen des Staatskirchenrechtssystems infrage kommen. Denn der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechtes wurde bereits mehrfach außerhalb der christlichen Kirchen verliehen. Oberkirchenrat Hans-Peter Hübner ist überzeugt: „Damit Religionsunterricht eingerichtet werden kann, ist es nicht erforderlich, dass die Religionsgemeinschaft Körperschaft des öffentlichen Rechts ist. Sie muss aber die Gewähr dafür bieten, dass sie die grundlegenden Verfassungsprinzipien nicht gefährdet.“ Er beruft sich auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwGE 123,49).
Trotz ihrer naturrechtlichen und damit allgemein gültigen Herleitung und Begründung haben nicht alle Staaten die allgemeine UN-Menschenrechtserklärung anerkannt. Als Gegenmodell gilt die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“, die von 55 Mitgliedsstaaten der Organisation für Islamische Kooperation angenommen wurde. Ihr Abschlusssatz lautet: „Die islamische Scharia ist die einzig zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung.“ Das Prinzip der Gleichberechtigung sucht man darin vergebens. Mann und Frau sind nur in der Würde gleich, nicht in ihren Rechten. In sieben Staaten mit Scharia-Gesetzgebung – Iran, Jemen, Mauretanien, Nigeria, Saudi-Arabien, Somalia und Sudan – sind homosexuelle Handlungen mit der Todesstrafe belegt. Der frühere Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, hat gefordert, dass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch ihre Ziele und ihr Handeln sich nicht gegen Strafgesetze, gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten dürften. Vor diesem Hintergrund stehen noch zahlreiche Klärungen im Raum.
Die schon erschienenen Folgen dieser Reihe über Kirche und Staat finden Sie HIER.
(Die Geschichte geht unten weiter)
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