03 November, 2025 / 6:00 AM
Der folgende Beitrag ist der erste von drei Teilen über St. Paul zu Reilhac in der nördlichen Dordogne in Frankreich. Der nächste Beitrag wird am kommenden Sonntag veröffentlicht.
Vor einem Vierteljahrhundert trafen wir erstmalig auf die kleine, romanische Kirche in der nördlichen Dordogne. Sie liegt abseits der Verkehrswege, vergessen von ihrer Gemeinde, nur noch eine Erinnerung an die Zeit, als sich in ihrem Schatten die Ritter trafen, um sich für den Kreuzzug ins Heilige Land zu sammeln. Doch dank dem Engagement von Mitgliedern frommer Familien wurde dieses Kleinod aus la douce France dem Vergessen entrissen, um durch die Wiederbelebung dieses Kirchengebäudes auch kirchliches Leben auferstehen zu lassen.
Auf schmaler Straße ging es auf unserer Suche nach dem vergessenen Glaubensort Reilhac. Meint man, schon in den Orten, die wir bisher besucht haben, der Einsamkeit und der Abgeschiedenheit begegnet zu sein, so erfuhren wir in der Gegend um Reilhac eine weitere Steigerung. Dieser Landstrich wirkt wie verlassen, wie vergessen von dem hektischen Leben unserer Zeit. Und hier scheint die Zeit still zu stehen, angehalten vor vielen Jahren, als das Mähliche noch den Lebensrhythmus der Menschen prägte und noch kein Tribut an die Motorisierung geleistet werden musste. Vorbei an Kornfeldern, die gerade abgeerntet werden und die hinter dem Staub des reifen Getreides beinahe verschwinden, vorbei an Wiesen, auf denen das frisch gemähte Gras in der Hitze des Tages trocknet, umfangen von den Aromen eines reifenden Sommers. Doch allzu flüchtig wehen die Eindrücke den Reisenden an, wie gerne hätte er sie gebannt, wie gerne hätte er das Vergängliche dieses Schönen festgehalten.
Am Ortseingang das Chateau einer Familie, die ursprünglich aus Hessen stammt und die auf Seiten Buonapartes kämpfte, um dann in Frankreich heimisch zu werden. Wuchtig erscheint uns dieses Gemäuer; das Wehrhafte, ja, das Kriegerische ist noch immer zu erkennen, obwohl natürlich im Laufe der Jahrhunderte Fenster in die Mauern gebrochen worden sind. Im XI. Jahrhundert wurde der runde Turm erbaut und dann das übrige Haus im XIII. Jahrhundert. Von außen sieht das Chateau geräumig aus – doch nur von außen. Die dicken Wände verschlingen so viel Platz, nur drei nebeneinander liegende Räume weist das Erdgeschoss auf, und auch das erste verfügt nicht über viel mehr. Es war eine Befestigungsanlage, und dieser Charakter lässt keine Bequemlichkeit zu, geschweige denn großflächige Räume. Diesen Luxus konnten sich die Erbauer derartiger Landschlösser erst leisten, als die Mauern nur noch ein Schutz gegen die Witterung und gegen Diebe waren, nicht mehr aber gegen anstürmende Feinde. Als die Mauern keinen Schutz mehr gegen die rohe Gewalt darstellen mussten, verloren sie ihre Wehrhaftigkeit, und hinter ihnen konnte das Leben erwachen, das Teil der civilisation française geworden ist, dieses höfische Leben, das nur auf Versailles ausgerichtet war. Viele Besitzer der Schlösser ruinierten sich dadurch selbst, doch sie führten genussvoll ein Leben, das prunkvoll und für die anderen Häuser Europas vorbildlich war.
Die Fensterläden sind geschlossen, im Park grasen die kräftigen, braunen Limousiner Kühe, ein verlassener Ort, der noch von der Trauer über den Tod der letzten Besitzerin verschattet wird.
Hinter dem Park und hinter drei, vier Häusern öffnet sich der Blick auf eine schlichte Kirche aus dem XII. Jahrhundert, die unverändert die Zeitläufte überstanden hat und die einen alten Versammlungsort des Templerordens und später des Malteserordens darstellt. Am Rande dieses Fleckens ist sie gelegen, auf einer leichten Anhöhe, von der aus der Blick gen Westen über das sanft dahinfließende Land schweifen kann. Ein wenig erglühten die Steine dieser Kirche im letzten Licht der untergehenden Sonne, als wir vor diesem Gebäude standen, und ein gehauchtes Rosa legte sich auf das Land. In dieser Verzauberung der Farben zeigte sich das Licht des Südens, dieses ganz besondere Licht, das immer wieder von den Poeten besungen und von den Malern auf die Leinwand gebannt wird. Ein feiner Nebel stieg aus den feuchten Wiesen auf und ließ die Landschaft wie durch einen Filter erscheinen. Die Konturen verloren an Schärfe, die Linien wurden weich und zerflossen in der Ferne – Formen und Farben lösten sich in der hereinbrechenden Dunkelheit auf.
Unter uns ein kleiner Weiher, auf dem ein paar Enten schwammen und der, eingerahmt mit Büschen, vor sich hinträumt, dann Wiesen, Feldgehölze, Buschreihen. Keine langweiligen großen Schläge, keine enervierende Eintönigkeit. Im Gegenteil, ein harmonisches Aufeinander-Abgestimmt-Sein der einzelnen Landschaftsteile, wie eine Komposition. So weit das Auge reicht, stößt es auf nichts Störendes, nichts Fremdartiges, nichts, was dieses Gleichgewicht hätte stören können. Wie in einer sanften Dünung gleitet die Landschaft von uns zum Horizont, Welle an Welle, Tal an Tal, bis sie dann im Dunst des Abends mit dem Firmament verschmilzt.
Vor Jahrhunderten haben sich hier die Kreuzritter getroffen, um noch einmal die Heilige Messe zu feiern, noch einmal in vertrauter Umgebung, um dann in die Fremde zu ziehen, hinein in die Ungewissheit und in die Unsicherheit. So mancher Kreuzritter sprach hier sein letztes Gebet auf heimischer Erde und suchte die Absolution von seinen Sünden, bevor er dann im Zeichen des Kreuzes und mit der Gewissheit des absoluten Wahrheitsanspruches der römischen Kirche sein blutiges Handwerk im Land der drei monotheistischen Religionen verrichtete und dabei selbst unterging. Von hier aus zogen sie los, voller Illusionen und voller Visionen, beseelt, ja okkupiert von dem Glauben an die alleinseligmachende Kirche.
Als damals die Kreuzritter gen Osten zogen, da war die Kirche noch Mittelpunkt, und die Menschen lebten mit ihr und in ihr. Doch das ist jetzt Vergangenheit, nur noch ferne Erinnerung. Und dies mussten wir schmerzlich erkennen, als wir die Kirche betraten. Wehmut überkam uns. Auch wenn diese Kirche in ihrem Äußeren nahezu unverändert die Jahrhunderte hat über sich ergehen lassen und ihre Mauern immer wieder renoviert und restauriert wurden, so dass der äußere bauliche Zustand hervorragend ist – im Inneren begegneten wir dem Gegenteil dessen, was wir außen so bewundert hatten. Armut schlug uns entgegen, bittere Armut und das Gefühl des Ausgestoßenseins. Herrlich natürlich die Architektur der Mauern, die sich gen Himmel zu erstrecken scheinen, als wenn es die vorweggenommene Gotik wäre, und dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Kirche sehr schmal ist, so dass die Außenmauern höher wirken, als sie tatsächlich erbaut worden sind. Ein ungewöhnlicher Eindruck in einer romanischen Kirche, und er war uns auch anfänglich fremd, doch in dieser bewussten Abweichung von der sonst vorherrschenden Behäbigkeit der von uns aufgesuchten romanischen Kirchen schien es uns, als wenn die Gebete und die Gesänge befreiter zum Himmel haben aufsteigen können. Die Architektur der Mauern beeindruckte uns schon, doch in was für einem Zustand zeigten sie sich im Inneren, ja, in was für einem Zustand fanden wir diese Kirche vor. Bröckelnder Putz, Staub und das Grau eines Raumes, diese triste Farblosigkeit, die das Signum der Verlassenheit darstellt. Warum nur, fragt sich der gläubige Suchende, warum nur so oft diese Diskrepanz zwischen dem Außen und dem Inneren, zwischen der Schönheit der Fassade und der Morbidität des Innenraumes?
Über drei Ebenen gliedert sich dieser Kirchenraum, drei verschiedene Höhen, aufstrebend zum Altarraum. Die Gläubigen müssen drei Stufen begehen, um vor dem Altar knien zu können und um so die Dreifaltigkeit anbeten, drei Stufen, um Gott begegnen zu können.
Auf der unteren Ebene, dort, wo die Gläubigen durch die mit Nägeln verstärkte Tür eintreten, stehen ein paar einfache, leicht gebaute, schmucklose Bänke, die so gar nicht in diesen uralten Kirchenraum zu passen scheinen. Ihnen haftet nichts Artifizielles an, und sie wirken vor den wuchtigen Mauern so unscheinbar, dass der Besucher Angst hat, sich hinzusetzen, um sie nicht zu zerstören.
Neben der Eingangstür auf der Südseite, das gesamte Gotteshaus ob seiner Ungewöhnlichkeit beherrschend, führt eine wurmstichige Leiter in die Höhe der Kirche. Sie ist angelehnt an einen mächtigen Querbalken, der einmal die flache Decke trug. Doch diese ist nur noch rudimentär vorhanden. Ab und an ein paar Bretter, die in uns nur noch die Illusion einer Decke erwecken können, mehr aber nicht. Und so führt diese Leiter ins Nirgendwo, jeglicher Zweck ist ihr abhandengekommen, und sie versinnbildlicht nur noch einen Weg ohne Ziel. Durch das Fehlen der Decke sieht der Betrachter zwar die hölzerne Decken- und Dachkonstruktion, und der schon ungewöhnlich hohe Raum gewinnt dadurch noch mehr an Höhe, doch ist die fast verschwundene Decke wie eine Wunde, die schmerzt und die uns fortwährend den Niedergang dieser Kirche vor Augen führt.
Auf der Nordseite, wie unmotiviert, haften die Reste einer hölzernen Kanzel an der Wand. Keine Treppe führt mehr zu ihr herauf, sie ist an der Wand befestigt, wie der Nestbau einer Schwalbe, und sie wirkt wie festgeklebt – ein bizarres Überbleibsel einer verschwundenen Gläubigkeit. Lediglich die Jahreszahl „1759“ verweist darauf, dass zumindest im Barock die Gläubigen noch Predigten von dieser Kanzel hören wollten und dass zu der damaligen Zeit das Leben in dieser Kirche noch nicht erloschen war.
Auf der unteren Ebene beteten die Gläubigen, auf der oberen die Priester, dort, wo der Altar steht. Abgeschottet sind diese beiden Ebenen durch die mittlere Ebene, sie trennt die Welten des Profanen vom Sakralen, die der Gläubigen von der der Priester; sie ist wie ein Zwischenreich. Aber diese mittlere Ebene verband auch die beiden äußeren miteinander, sie bildet die Brücke, das Gemeinsame zwischen diesen beiden Welten, und sie führt uns zu den Ursprüngen dieses Gotteshauses. Von dieser Ebene geht es hinab in die Krypta, die aber nicht – wie sonst üblich – das Tor zum Tode markiert, von der mittleren Ebene führt vielmehr eine ausgetretene Treppe in einen kleinen lichtlosen Raum, in dem dem suchenden Gläubigen symbolhaft das Leben entgegentritt. Der Raum ist nur einige Quadratmeter groß und so niedrig, dass wir nur gebückt stehen konnten. Feucht sind die Wände, auf dem Fußboden schlängelt sich Wasser in flachen, ausgewaschenen Rinnen entlang, das aus der hinteren Wand sickert und das sich dann in einem kleinen Becken sammelt. Mit einer Taschenlampe leuchteten wir diesen kleinen Raum aus, und als der Lichtstrahl in das mit kristallklarem Wasser gefüllte Becken fiel, wurde die Krypta mit einem Schlag aus ihrem tiefen Schlafe erweckt. Überall sahen wir das gebrochene zurückgeworfene Licht der Taschenlampe, irisierende Lichtpunkte, die über die Steinmauern huschten. Die Klarheit dieses unterirdisch fließenden Wassers steht in einem so krassen Widerspruch zur Morbidität der Kirche über uns. In diesem unterirdischen Raum strömt das Wasser aus der Erde, Tag für Tag, Jahr für Jahr, und das schon seit über einem Jahrtausend, immer wieder neues Leben hervorbringend. Über diese bonne fontaine wurde die Kirche gebaut, und in diesem sprudelnden Wasser versinnbildlicht sich das Wort aus der Offenbarung Johannes: „Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst" (Offb. 21,6).
Unter der Kirche fließt das lebendige Wasser, in der Kirche darüber wurde den Gläubigen das lebendige Wasser verheißen, diese Worte Gottes, die in der Mystik die Nähe zu Gott vermitteln. Und so wird diese Quelle zum Sinnbild der göttlichen Verheißung. So wie uns Wasser das materiale Leben ermöglicht, so ermöglicht uns das von Christus verheißene lebendige Wasser ein Leben in Gott. Diese Symbolik rührte uns schon – genauso wie es die Gläubigen im zwölften Jahrhundert empfunden hatten, und die deshalb auf dieser ursprünglich keltischen Kultstätte ein Gotteshaus errichteten.
Nur schwer konnten wir uns von diesem unterirdischen mystischen Orte trennen, zu unmittelbar empfanden wir dort das Wort Gottes und seine Anwesenheit in dieser Kirche. Doch wir wollten noch die höchste Ebene erreichen, den Ort der Kirche, den Chor, in dem der Altar steht. Dieser ist schlicht, aus Steinen gemauert, wie ein Tisch und wie für die Ewigkeit gedacht. Neben diesem, in den Fußboden eingelassen, einige Grabplatten, die aber nur noch an ihren Ausmaßen als solche zu erkennen sind, sämtliche Gravuren sind seit langer Zeit verwischt, abgeschliffen von den Füßen der Priester und der Gläubigen. Kein Ewiges Licht erstrahlte mehr in diesem Raum, kein Gebetbuch fanden wir, keine Bibel, aufgeschlagen auf dem Altar, zum Gottesdienst einladend. Nur eine Figur war hier aufgestellt, doch sie wirkte eher wie eine Kinderpuppe, so naiv war sie geformt. Und sie stellt das Jesuskind dar. Es steht aufrecht, die blonden Locken unter einer Haube versteckt, die rechte Hand hängt herunter, während die linke, angewinkelt, auf dem Herz liegt. Umhüllt ist diese Figur, die vielleicht dreißig Zentimeter groß ist, von einem bodenlangen Kleide, das an den Ärmeln und am Halsausschnitt mit weißen Spitzen abgesetzt ist. Das Kleid selbst ist leuchtendrot, mit goldenen Ranken verziert. Sogar im dumpfen Dämmerlicht der Kirche leuchtet dieses Rot ein wenig. Das Kleid stellt den einzigen Farbklecks in diesem Gemäuer dar, den einzigen Farbtupfer, der aus dem Grau der kirchlichen Umgebung heraussticht. Ist diese rote Farbe nur ein Zufall, ist diese wiederum präraffaelitisch anmutende rote Figur deshalb in der Kirche aufgestellt worden, weil die Farbe Rot sich so stark von der Farbe der Mauern abhebt, oder soll uns die rote Farbe mehr vermitteln, als nur eine ästhetische Empfindung? Die Farbe Rot symbolisiert in der Tradition der mittelalterlichen Mystik nicht nur die Liebe, sondern sie versinnbildlicht auch das Leben. Und so findet der Betrachter in dieser Figur wiederum die Vollendung der magischen Dreizahl: Die Ebene des Volkes, das Zwischenreich und dann der Chor. Unten in der Krypta das lebendige Wasser, oben im Kirchenschiff das lebendige Wort Gottes und auf dem Altar das Sinnbild des Lebens, das rote Kleid des Jesuskindes. Ob gewollt oder nicht: Das Symbolhafte ist dieser mittelalterlichen Kirche immanent, dazu ist es zu tief in die Mauern eingedrungen, dazu ist es zu stark mit der Tradition dieses Ortes verwoben.
(Die Geschichte geht unten weiter)
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Neben dieser Figur einige ausgebrannte Teelichter, nur noch diese kleinen Metallhülsen, die man sonst wegzuwerfen pflegt, und auch sie mit Rost überzogen und so aufzeigend, dass sie vor langer Zeit erloschen sind. Doch an der Wand steht ein metallener Kerzenleuchter, und neben ihm liegen einige Kerzen. Unseren Obolus steckten wir in den kleinen danebenstehenden Opferstock, entnahmen eine Kerze und zündeten sie zur Ehre dieser Kirche an. Hell leuchtete sie im Dämmerlicht dieses einsamen Gotteshauses, und in ihrem Lichtkreis wandelte sich die Traurigkeit, die uns befallen hatte, in Zuversicht. Tot ist diese Kirche nicht, sie schläft nur ihren tiefen Schlaf der Vergessenheit. Jederzeit könnte sie wieder zum Leben erweckt werden, Gott ließ sie nicht links liegen. Die Gläubigen müssen es nur wollen!
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