Vilnius, 22 September, 2018 / 4:50 PM
Zum Auftakt seiner Baltikumreise ist der Pontifex in Vilnius gelandet: Bei seiner Rede im Präsidentenpalast sprach Papst Franziskus über die "Seele Litauens" und die Hundertjahrfeiern zur Unabhängigkeitserklärung.
CNA Deutsch dokumentiert die Ansprache, wie sie der Vatikan veröffentlicht hat.
Verehrte Frau Präsidentin,
werte Mitglieder der Regierung und des Diplomatischen Korps,
sehr geehrte Vertreter der Zivilgesellschaft und Verantwortungsträger,
meine Damen und Herren,
es ist ein Grund zur Freude und zur Hoffnung, diese Pilgerreise durch die baltischen Staaten auf litauischem Boden zu beginnen, der, wie Johannes Paul II. gerne sagte, „ein stiller Zeuge einer leidenschaftlichen Liebe zur Religionsfreiheit” ist (Ansprache bei der Begrüßungszeremonie, Vilnius, 4. September 1993).
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, für Ihre herzlichen Willkommensworte im eigenen wie auch im Namen Ihres Volkes. In Ihrer Person möchte ich das ganze litauische Volk grüßen, das mir heute die Türen seiner Heimat und seines Vaterlandes öffnet. Ihnen allen gilt meine Zuneigung und mein aufrichtiger Dank.
Dieser Besuch erfolgt zu einem für das Leben Ihrer Nation besonders wichtigen Zeitpunkt, zur Hundertjahrfeier Ihrer Unabhängigkeitserklärung.
Sie mussten ein von zahlreichen Prüfungen und Leiden (Verhaftungen, Deportationen, sogar das Martyrium) geprägtes Jahrhundert ertragen. Hundert Jahre Unabhängigkeit zu feiern bedeutet, ein wenig im Zeitgeschehen innezuhalten und das Gedächtnis des Erlebten wiederzuerlangen, um all dem nachzuspüren, was Sie als Nation geformt hat. Es geht darum, den Schlüssel zu finden, um die Herausforderungen der Gegenwart zu sehen und sie in einem Klima des Dialogs und der Einheit unter allen, die hier leben, so auf die Zukunft hin auszurichten, dass niemand ausgeschlossen bleibt. Jede Generation ist aufgerufen, sich die Auseinandersetzungen und die Errungenschaften der Vergangenheit zu vergegenwärtigen und das Gedächtnis der Väter in der Gegenwart in Ehren zu halten. Wir wissen nicht, wie das Morgen aussieht, aber wir wissen, dass es jeder Epoche aufgegeben ist, die „Seele” zu bewahren, die sie aufgebaut und dazu beigetragen hat, Situationen von Schmerz und Ungerechtigkeit in eine Chance zu verwandeln und die Wurzel lebendig und aktiv zu erhalten, die die Früchte von heute hervorgebracht hat. Und dieses Volk hat eine starke „Seele”, die es ihm ermöglicht hat, Widerstand zu leisten und Neues aufzubauen! Und so heißt es in Ihrer Nationalhymne: „Mögen deine Söhne aus der Vergangenheit Kraft schöpfen“, um mutig in die Gegenwart zu blicken.
„Mögen deine Söhne Kraft aus der Vergangenheit schöpfen.“
Im Laufe seiner Geschichte war Litauen in der Lage, Menschen verschiedener Ethnien und Religionen Gastfreundschaft, Aufnahme und Annahme zu gewähren. Jeder hat in diesem Land einen Platz zum Leben gefunden: Litauer, Tataren, Polen, Russen, Weißrussen, Ukrainer, Armenier, Deutsche ...; Katholiken, Orthodoxe, Protestanten, Altkatholiken, Muslime, Juden ...; sie alle haben in Frieden zusammengelebt, bis die totalitären Ideologien aufkamen und diese Fähigkeit zur Gastfreundschaft und zur Vereinbarkeit von Unterschieden durch Verbreitung von Gewalt und Misstrauen zerstörten. Kraft aus der Vergangenheit zu schöpfen bedeutet, die Wurzeln wiederzuentdecken und das lebendig zu halten, was an Echtem und Ureigenem in Ihnen lebt und was Ihnen erlaubt hat, zu wachsen und als Nation nicht unterzugehen: Toleranz, Gastfreundschaft, Respekt und Solidarität.
Schauen wir auf die Welt, in der wir leben, in der die Stimmen, die Spaltung und Konfrontation säen, immer lauter werden – dabei werden die Unsicherheit und die Konflikte oft instrumentalisiert – oder die behaupten, dass die einzige Möglichkeit, die Sicherheit und den Fortbestand einer Kultur zu gewährleisten, darin besteht zu versuchen, andere Kulturen zu beseitigen, auszulöschen oder wegzudrängen. Ihr Litauer habt hier einen eigenen Ausdruck beizusteuern: „den Unterschieden Raum geben“. Durch Dialog, Offenheit und Verständnis können diese Differenzen zu einer Brücke der Einheit zwischen Ost- und Westeuropa werden. Dies kann die Frucht einer gereiften historischen Entwicklung sein, die Sie als Volk der internationalen Gemeinschaft und insbesondere der Europäischen Union anbieten. Sie haben am „eigenen Leib“ erfahren, wie versucht wurde, ein Einheitsmodell durchzusetzen, das alle Verschiedenartigkeit mit dem Anspruch beseitigen wollte, dass die Privilegien einiger weniger über der Würde anderer oder dem Gemeinwohl stehen. Das hat Benedikt XVI. zurecht deutlich gemacht: »Das Gemeinwohl wünschen und sich dafür verwenden ist ein Erfordernis von Gerechtigkeit und Liebe. [....] Man liebt den Nächsten umso wirkungsvoller, je mehr man sich für ein gemeinsames Gut einsetzt, das auch seinen realen Bedürfnissen entspricht« (Enzyklika Caritas in Veritate, 7). Alle auftretenden Konflikte finden nur unter der Bedingung dauerhafte Lösungen, dass diese in der konkreten Achtung gegenüber den Menschen, insbesondere den Schwächsten, wurzeln, und wenn man sich berufen fühlt, den Blick zu weiten, »um ein größeres Gut zu erkennen, das uns allen Nutzen bringt« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 235).
In diesem Sinne heißt Kraft aus der Vergangenheit schöpfen der Jugend Aufmerksamkeit zu schenken, die nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart dieser Nation ist, solange sie mit den Wurzeln des Volkes verbunden bleibt. Ein Volk, in dem junge Menschen Raum für ihr Wachstum und ihre Arbeit finden, wird ihnen helfen, sich als Protagonisten beim Aufbau des sozialen und gemeinschaftlichen Gefüges zu fühlen. So können alle ihren Blick hoffnungsvoll in die Zukunft richten. Das Litauen, von dem sie träumen, steht und fällt mit der unermüdlichen Suche nach politischen Ansätzen aller Art, die die aktive Teilhabe der jungen Generation am Gesellschaftsleben fördern. Zweifellos wird dies ein Samen der Hoffnung sein, denn es wird zu einer Dynamik führen, in der die „Seele“ dieses Volkes weiterhin Gastfreundschaft hervorbringen wird: Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden, gegenüber den Jungen, den Alten, die das lebendige Gedächtnis sind, gegenüber den Armen – Gastfreundschaft letztlich gegenüber der Zukunft.
(Die Geschichte geht unten weiter)
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Ich versichere Ihnen, Frau Präsidentin, dass Sie - wie bisher - auf den Einsatz und die Zusammenarbeit der katholischen Kirche zählen können, damit dieses Land seine Berufung als Brücke der Einheit und Hoffnung erfüllen kann.
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