12. September 2020
Aus alltäglichen Situationen wie aus der Philosophie sind uns Aussagen über den menschlichen Willen vertraut. Manchmal bezeichnet die Wendung "Der gute Wille war da …" bloß ein Scheitern, etwa wenn engagierte und bemühte, aber unzulängliche Darbietungen in Sport, Musik und Handwerk milde oder ironisch kommentiert werden. Berühmt geworden ist Immanuel Kants feierliche Wendung aus der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten": "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille." Gemäß der alten Unterscheidung vermag der Mensch autonom, also willensmäßig zu entscheiden, während Tiere dazu außerstande sind. Mein Doktorvater Gerd-Günther Grau sagte in den letzten Jahren seines Lebens knapp: "Wir sind auch nicht so frei, wie wir manchmal meinen."
Nicht nur eine wohlgegründete Skepsis, auch die medizinische Forschung zeigt Grenzen auf. Ebenso berücksichtigt werden müssen neurologische Dispositionen und psychische Erkrankungen, die uns auch daran erinnern, nicht zu selbstgewiss, zu hoch und zu anmaßend von der Willensfreiheit des Menschen zu denken. Ein Beispiel aus dem kirchlichen Leben sei noch genannt: Wenn junge Menschen heiraten, tun sie das aus freiem Willen und mit den besten Absichten. Sind sie aber wirklich in rechter Weise für die Ehe disponiert? Wissen sie, was sie tun? In Ehenichtigkeitsverfahren werden auch solche Fragen erörtert.
Karol Józef Wojtyła widmet sich in seinen geistlichen Reflexionen in lyrischer Gestalt nach dem "Gefühlsmenschen" und dem "Verstandesmenschen" sodann dem "Willensmenschen":
"Der Moment des Willens ist schmucklos und schwer wie der Schlag des Gedränges
oder wie Reitpeitschen scharf,
ein Moment, der sich sonst
nicht so aufdrängen darf,
keinem,
außer mir –
er reift nicht wie süßes Obst aus dem Gefühl,
er kommt, unüberlegt,
verkürzt den Weg –
und ist er da, dann heb‘ ich ihn auf;
und so handle ich auch.
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Gefühl und Gedanke haben nicht Platz in mir,
wenn dieser Moment kommt, der wie ein Kreuz explodiert."
(Der Gedanke ist eine seltsame Weite, Freiburg 1979, 23)
Wir sehen, dass der spätere Papst den Willen mit dem Moment der Leidenschaft in Verbindung bringt. Der Wille ist also nicht philosophisch ausgetrocknet, das Resultat mühsam und ausgiebig bedachter Handlungsmöglichkeiten. Zugleich ist er mehr als eine Regung des beschwingten Gemüts, die sich triebhaft zuspitzen, emotional reifen oder auch verdrängen oder ausblenden ließe. Der Mensch steht hier mitten in der Situation, in der er entscheiden muss, besser gesagt: sich zu entscheiden genötigt weiß. Ausweichen ist unmöglich. Die Person ist gefordert und kann nicht erst sich neu der vertieften Lektüre zuwenden. Die Bibliotheken gesammelter Klugheit sind verschlossen oder zu weit weg. Interessanterweise spricht Wojtyła weder von einem guten noch von einem bösen Willen, auch nicht etwa von dem Weg des Menschen, der sich sündhaft wider Gott entscheidet. Für die Suche nach Hilfe, Beistand oder Unterstützung ist es zu spät. Es ist nicht die Zeit des Abwägens und des Argumentierens. Wir müssen auch nicht über Kausalitäten nachdenken oder diese erfinden. Drastisch wird dieser Moment der Willensentscheidung beschrieben, der Augenblick, "der wie ein Kreuz explodiert". Für Außenstehende bleibt die Entscheidung vielleicht unklar, absurd oder auch unsichtbar. Der Mensch fühlt nicht mehr, reflektiert und philosophiert nicht mehr – er geht oder er geht nicht, mit allen Konsequenzen. In Lk 9,23 lesen wir: "Zu allen sagte er: Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf und folge mir nach." Die Stunde der Entscheidung ist nicht die Stunde des klugen Argumentierens. In der hellenischen Welt etwa hätten die Philosophen und ihre Schüler weiter nachgedacht und vernünftig reflektiert – und niemand möchte so recht heute wirklich wissen, welchen Ausschweifungen und Genüssen sie sich sonst noch hingegeben hätten. Dessen ungeachtet: Wer Platon zu seinem Meister erwählt und einem wie ihm nachfolgt, der ist kein Jünger des Herrn. Der Philosoph Karol Wojtyła hat das gewusst.
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