12. Dezember 2020
Zu allen Zeiten der Geschichte sind Christen Versuchungen in unterschiedlicher Gestalt begegnet und ausgesetzt. Wer verführt uns? Wovon lassen wir uns in Versuchung führen? Ganz schlicht lässt sich zunächst erwägen, ob es sich nicht einfach so verhält: Wenn wir uns nicht von Gott und der Kirche führen lassen, sind wir schon ins Getriebe der Verlockungen dieser Welt geraten.
Die alltägliche Nachlässigkeit etwa ist ein Zeichen dafür: Wir meinen so vieles erledigen zu müssen, dass die "Dinge Gottes" – so legt Benedikt XVI. dar – wie "eine Sekundärwelt, derer es eigentlich nicht bedarf", erscheinen. Vor lauter Geschäftigkeit werden wir vergesslich. Das Gebet erscheint dann als nicht ganz so wichtig. Der Kirchgang bleibt aus. Die Werke der Barmherzigkeit überlassen wir wohltätigen Organisationen. Manchem erscheint der Glaube der Kirche wie eine Illusion, wie ein bloßes Trugbild. Auf dem Gymnasium etwa wurde, so erinnere ich mich, der Religionsunterricht in die Randstunden verdrängt, am Freitagnachmittag blieb Zeit dafür. Dann störte das Fach nicht den Lehrplan. Auf die "Dinge Gottes" schien es nicht so sehr anzukommen in dieser Welt. Ist es nicht sehr viel vernünftiger, ausgeruht Mathematikunterricht erteilt zu bekommen? Sollten wir uns am Sonntag nicht erholen, Sport treiben, um so die Herausforderungen in der kommenden Woche zu bestehen, und dafür auf den Gottesdienst verzichten?
Vielleicht haben Versuchungen wie diese auch in unser Leben längst leise Einzug gehalten. Benedikt schreibt: "Der Kern aller Versuchung … ist das Beiseiteschieben Gottes, der neben allem vordringlicher Erscheinenden unseres Lebens als zweitrangig, wenn nicht überflüssig und störend empfunden wird. Die Welt aus Eigenem, ohne Gott, in Ordnung zu bringen, auf das Eigene zu bauen, nur die politischen und materiellen Realitäten als Wirklichkeit anzuerkennen und Gott als Illusion beiseitezulassen, das ist die Versuchung, die uns in vielerlei Gestalten bedroht." (Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Freiburg im Breisgau 2007, 57)
Immer wieder verdeutlicht Benedikt XVI., dass der Mensch versucht ist, sich auf seine eigenen Ideen und Meinungen zu konzentrieren, Pläne und Absichten zu verfolgen, die dazu führen, dass die "Welt aus Eigenem" gebaut und stabilisiert wird. Der Glaube an Gott erscheint als ein Bestandteil der Tradition, möglicherweise als Dekoration und letztlich als entbehrliches Überbleibsel, das höchstens aus Gründen der Nostalgie noch beiläufig beachtet wird: "Zum Wesen der Versuchung gehört ihre moralische Gebärde. Sie lädt uns gar nicht direkt zum Bösen ein, das wäre zu plump. Sie gibt vor, das Bessere zu zeigen: die Illusionen endlich beiseitezulassen und uns tatkräftig der Verbesserung der Welt zuzuwenden." Zugleich betont Benedikt: "Es geht um Gott: Ist er der Wirkliche, die Wirklichkeit selbst, oder ist er es nicht? Ist er der Gute, oder müssen wir das Gute selber erfinden? Die Gottesfrage ist die Grundfrage, die uns an den Scheideweg der menschlichen Existenz stellt." (ebd., 57)
Räumen wir Gott einen bevorzugten Platz in unserem Leben ein? Oder sind wir versucht, ihn zu übersehen, zu verkennen oder zu ignorieren? Was hat, so können wir fragen, eigentlich Jesus Christus uns gebracht? Benedikt erwähnt Wladimir Solowjews bekannte Erzählung über den Antichristen. Nicht einmal dieser empfiehlt direkt die "Anbetung des Teufels": "Er schlägt uns nur vor, uns für das Vernünftige zu entscheiden, für den Vorrang einer geplanten und durchorganisierten Welt, in der Gott als Privatangelegenheit seinen Platz haben mag, aber in unsere wesentlichen Absichten uns nicht dreinreden darf." Die "Anbetung des Wohlstands" und die "vernünftige Planung" (ebd., 70 f.) würden als primär wesentlich ausgegeben.
Jesus habe weder den "Weltfrieden" noch den "Wohlstand für alle" verwirklicht, auch nicht die "bessere Welt". Was hat Jesus gebracht? "Die Antwort lautet ganz einfach: Gott. … Er hat Gott gebracht: Nun kennen wir sein Antlitz, nun können wir ihn anrufen. Nun kennen wir den Weg, den wir als Menschen in dieser Welt zu nehmen haben. Jesus hat Gott gebracht und damit die Wahrheit über unser Wohin und Woher; den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Nur unserer Herzenshärte wegen meinen wir, das sei wenig. Ja, Gottes Macht ist leise in dieser Welt, aber es ist die wahre, die bleibende Macht. … Im Kampf gegen Satan hat Jesus gesiegt: Der verlogenen Vergöttlichung der Macht und des Wohlstands, der verlogenen Verheißung einer durch Macht und Wirtschaft allen alles gewährenden Zukunft hat er das Gottsein Gottes entgegengestellt – Gott als das wahre Gut des Menschen." (ebd., 73 f.)
Die Versuchungen sind geblieben. Aber sie werden nicht immer als solche erkannt. So reichen Versuchungen auch in den Raum der Kirche, in die Theologie und in die Verkündigung hinein. Angefochten und gefährdet ist die ganze Weggemeinschaft des Glaubens, somit auch Sie und ich. Das Ringen, in den Versuchungen zu bestehen, vollzieht sich zumeist unsichtbar, verborgen vor der Welt oder in existenziellen Krisen des Einzelnen.
Wir sind versucht, Gott beiseitezuschieben, im kirchlichen Leben, auch bei allen Bemühungen, die Kirche zu erneuern oder zu reformieren. Darum bleibt das Wort des greisen Regensburger Bischofs Michael Buchberger beherzigenswert, ein wichtiges Memento auch heute. Die deutschen Bischöfe berieten darüber, wovon auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Rede sein sollte. Es gab einen lebhaften Austausch. Erzbischof Buchberger sagte nur knapp: "Von Gott." Seine Mitbrüder verstummten.
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