23. Dezember 2020
Santa Maria Maggiore - die große Marienkirche - liegt auf dem Esquilin-Hügel, nur wenige hundert Meter nördlich vom Lateran, der Bischofskirche Roms. Seit undenklicher Zeit wird in der Marienkirche die Krippe Christi aufbewahrt, die gerade in der Weihnachtszeit besonders verehrt wird. Aus meiner Sicht ist es sehr plausibel, dass diese noch heute beeindruckende Prunkkirche eine überragende Reliquie beherbergte und dass die Ankunft der (einer) Krippenreliquie aus Betlehem überhaupt die Errichtung dieser Kirche zu Beginn des 5. Jahrhunderts veranlasst hat.
Sonst gibt es nämlich keinen plausiblen Grund, auf dem Esquilin in geringem Abstand zur riesigen Lateranbasilika eine weitere opulente Kirche zu bauen. Seelsorgliche Erwägungen spielten hier jedenfalls keine Rolle. Auch kann man nicht sagen, das Konzil von Ephesus 431 mit der Definition Marias als Gottesgebärerin habe eine Rolle gespielt. Denn für Konzilien wurden noch nie Kirchen gebaut, und außerdem muss Santa Maria Maggiore deutlich vor dem Konzil begonnen worden sein (erst die Einweihung erfolgte unter Sixtus III., wahrscheinlich 434 ).
Wenn man bedenkt, dass schon im 4. Jahrhundert aus Jerusalem eine Kreuzreliquie nach Rom gekommen war, die in Santa Croce in Gerusalemme beim Lateran aufbewahrt wurde, so lag es doch nahe, auch eine Krippenreliquie aus dem Heiligen Land zu importieren. In Betlehem wurde die Geburtsgrotte (spelunca, specus) samt der darin befindlichen Krippe (praesepe) bereits seit dem 3. Jahrhundert verehrt . Reliquien aus der Geburtsgrotte – Steinchen oder Erde – wurden schon längst an verschiedenen Orten außerhalb Palästinas gehandelt . Aber für Rom kam natürlich nicht so etwas Banales in Frage; es musste schon etwas Besonderes sein, eben die Krippe.
Das "praesepe" muss man sich als Futtertrog für die Tiere vorstellen . Die Krippe befand sich spätestens ab dem Anfang des 7. Jahrhunderts in Santa Maria Maggiore. War sie aus Holz? Aus Stein? Wann kam sie nach Rom? Das ist letztlich Spekulation. Es scheint aber doch wahrscheinlich, dass sie eben im Beginn des 5. Jahrhunderts noch zu Lebzeiten des heiligen Hieronymus und auf seine Vermittlung nach Rom kam.
Denn der Lateran - der päpstliche Hof - hatte exzellente Beziehungen nach Bethlehem, weil dort seit 386 bis zu seinem Tod 420 der ehemalige ,Sekretär' des Papstes Damasus (366-384) lebte. Hieronymus war in der gesamten Kirche eine Autorität; sogar ein Augustinus suchte mit ihm den Briefkontakt zur Klärung theologischer Fragen. Damasus steht nun gerade für ein Papsttum, dass sich außerordentlich für die heilige Stätten der Märtyrer, etwa in den Katakomben, interessierte. Die Wertschätzung der historischen Stätten als Bollwerken des Glaubens gehörte zum festen Repertoire auch der folgenden Päpste. Und nun lebte Hieronymus bei der Geburtsgrotte von Betlehem und schaute, wie er selber schreibt, von seiner Studierstube aus auf die Krippe. Nichts lag näher, als dass sich ein Papst von ihm eine Krippenreliquie besorgen ließ.
Dass Hieronymus hier gern den Römern half, darauf deutet eine Predigt, die er an Weihnachten in der Geburtskirche in Betlehem in Anwesenheit des Bischofs (von Jerusalem) hielt. Er sagte nämlich etwas provokant, dass er sich danach sehne, jene Krippe sehen zu dürfen, in welcher der Herr lag. Denn um Christus zu ehren, nahmen sie die schmutzige Krippe weg, brachten sie fort und setzten stattdessen eine silberne Krippe hin. Das war im Grunde eine freche Kritik am Bischof, der doch offensichtlich den Auftrag gegeben hatte, die schlichte, echte Krippe durch eine Prunkkrippe zu ersetzen. Deshalb schiebt Hieronymus sofort hinterher, er wolle die nicht verurteilen, die das zu verantworten hätten, weil sie es zur Ehre Christi taten, aber ihm wäre "jene schmutzige Krippe" lieber.
Hieronymus scheint damit zu sagen, dass der Ort der Geburt Christi nicht nur mit Silber ausgeschlagen wurde, sondern dass hier ein stärkerer Eingriff vorgenommen wurde, bei dem man auch Teile von dem Felsen(-trog?) entfernte, möglicherweise aber in einem Reliquiendepot aufbewahrte. Es ist ohne weiteres möglich, dass sich die Klage des Hieronymus bis Rom herumsprach und man daraufhin den Papst dazu brachte, die in Betlehem beseitigten Teile nach Rom bringen zu lassen.
Dass die Krippenreliquie tatsächlich nach Rom kam und den Bau von Santa Maria Maggiore veranlasste, darauf deutet das berühmte Triumphbogenmosaik. Denn dort ist die gesamte Kindheit Jesu dargestellt, aber es fehlt ausgerechnet die Geburtsszene, und das, obwohl die Kirche zu Ehren der Gottesgebärerin, der Genetrix, errichtet wurde. Wieso stellte man ausgerechnet nicht die Geburt Christi dar? Die Geburtsszene konnte entfallen, weil für sie die Krippenreliquie selbst stand (womöglich samt der Nachbildung der Geburtsgrotte).
Und es wird auch kein Zufall sein, dass dasselbe Triumphbogenmosaik in den Zwickeln ausgerechnet die Städte Jerusalem und Betlehem abbildet, womit eben die beiden Satellitenkirche des Laterans bezeichnet werden: S. Croce, die ja geradezu "Jerusalem" hieß, mit der Kreuzreliquie und Santa Maria Maggiore mit der Krippenreliquie aus Betlehem. Beides waren Herrenreliquien und zugleich Berührungsreliquien: die Krippe, auf der Christus bei seiner Geburt lag, und das Kreuz, an dem er bei seinem Tod gehangen.
Zuerst veröffentlicht in den "Römischen Notizen". Publiziert mit freundlicher Genehmigung.
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