Das Recht auf Leben wird als ein Menschenrecht angesehen – als ein Recht, das jeder auch als elementar ansieht, schließlich steht es zumindest theoretisch jedem zu. Ungeborene Menschen können sich – wären sie hierzu in der Lage – nicht immer auf dieses Recht beziehen, ihnen wird es nur selektiv zugeordnet, nur dann, wenn die Mutter hiermit einverstanden ist. Dieser Entzug des Menschenrechts auf Leben wird nicht nur im Abtreibungsrecht manifestiert. Über diese Rechtseinschränkung wird auch im Zusammenhang mit der aktiven Sterbehilfe diskutiert, wobei diese Einschränkung schon in einigen europäischen Staaten Rechtswirklichkeit geworden ist. Unterlag nach dem letzten Weltkrieg noch die Diskussion um die Freigabe der Tötung im Rahmen der aktiven Sterbehilfe einem allseits akzeptierten Tabu, entwickelte sich schrittweise die ethische Diskussion bis zur Freigabe der Tötung durch Dritte, sollte dies gewünscht sein. Die ethische Dimension und Relevanz dieser Diskussion sind immens. Deshalb erklärte sich der Dogmatiker und Ökumeniker Kardinal Gerhard Ludwig Müller bereit, seine Sicht der ethischen und rechtlichen Einstufung der aktiven Sterbehilfe der Öffentlichkeit aufzugeben.

Wird das Menschenrecht auf Leben den Menschen von einer politischen Elite zugeordnet oder ist es doch ein Recht, das jedem Menschen, ob geboren oder ungeboren, als ein intrinsisches innewohnt?

Jeder Mensch wird gezeugt und geboren von seinem Vater und seiner Mutter. Er geht aus ihrer leiblichen Zeugungskraft hervor und trifft – so hoffen und beten wir – auf Eltern und Verwandte, die ihn voller Liebe und Hochachtung annehmen und ihm so das Ur-Vertrauen in die Gutheit des Seins vermitteln. Der Staat ist nur die Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens, er ist aber nicht der Schöpfer des Lebens oder gar der Herr und Eigentümer der Bewohner seines Territoriums. Wir sind freie Bürger, nicht Untertanen von Potentaten und Sklaven in ihren Produktionsstätten. Jeder Staat pervertiert seine begrenzte Autorität, die ihm in den Fragen des Gemeinwohls zukommt, wenn die Lenker seiner Geschicke sich als Tyrannen aufführen und sich wie Götter verehren lassen. Denn der wahre Gott, wie er in der jüdisch-christlichen Tradition geglaubt wird, ist der freigebige und Freiheit garantierende Schöpfer des Lebens. Er begründet auch die unverlierbare Würde jedes einzelnen Menschen, indem er ihn zum ewigen Heil vorherbestimmt. Das Thema der Menschenwürde ist keine abstrakte Reflexion, die nur den hellsten philosophischen Köpfen zugänglich wäre. Nach den ungeheuerlichsten Verbrechen totalitärer Staaten ausgerechnet im 20. Jahrhundert, das sich auf seine Aufgeklärtheit so viel zu gute hielt, haben die Väter und Mütter der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland die Unveräußerlichkeit der Würde jedes einzelnen Menschen und der fundamentalen Menschenrechte als Basis einer rechtsstaatlichen Demokratie formuliert. Diese Grundrechte gehen aller positiven Gesetzgebung als kritisches Richtmaß voraus. Jeder Staat und jede überstaatliche Organisation, die das in der vernünftigen, leiblichen und sozialen Natur unverfügbar vorgegebene Recht auf leibliche Unversehrtheit und das auf Freiheit des Willens und Gewissens in Fragen der Religion und Ethik leugnen und einschränken, sind automatisch zu einem Unrechtssystem pervertiert. Die Grundrechte müssen ableitbar sein aus der Vernunftnatur des Menschen und können nicht durch die staatliche Macht positivistisch und willkürlich per Mehrheitsbeschluss oder Diktat einer Herrschaftsoligarchie „von oben her“ verordnet werden. Die „politisch-mediale Klasse“ kann nicht vorschreiben, was die Philosophen zu denken haben und was die Gläubigen – noch – bekennen dürfen. Auch die subtile Uniformierung der Überzeugungen und Meinungen im religiösen, geistigen und sittlichen Leben beschwört die Gefahr einer totalitären Diktatur im modernen Gewand herauf.

Das gilt auch für europäische Staaten oder die Europäische Union, die aus ihrem Selbstverständnis als parlamentarische Demokratien den falschen Schluss ziehen, dass sie mit Mehrheitsbeschlüssen die Grundrechte einschränken oder sogar aufheben könnten. Um ein abschreckendes Bespiel zu nennen: Es ist und bleibt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn staatliche Stellen den Eltern ihr natürliches Sorgerecht entziehen, nur weil diese wohlüberlegt – im einzelnen diskutable – Maßnahmen in der Corona-Krise nicht akzeptieren.

Das 5. Gebot verbietet das Töten. Unter welchen Voraussetzungen könnte aber gleichwohl das Töten von Menschen gerechtfertigt sein?

Der biblische Dekalog, spiegelt den Glauben Israels an Gott den Schöpfer des Lebens und den Befreier aus der menschenunwürdigen Sklaverei wider. Aber die Forderungen der „Zehn Gebote“ sind als das natürliche Sittengesetz jedem vernünftigen Menschen einsichtig, weil das Gegenteil den Zusammenbruch aller Menschlichkeit bedeuten würde. Ohne diese Grundsätze landen wir beim Recht des Stärkeren, d.h. dem Triumph der Macht über das Gute oder der Unterwerfung der Wahrheit unter die Lügen der Propaganda.

Die historische Rechtsform der Todesstrafe beruhte auf der Wahrheit, dass nur dann einer das Recht auf sein eigenes Leben verwirkt hat, wenn er freiwillentlich und wissentlich einen Mit-Menschen aus niedrigen Bewegründen ermordet oder wenn er böswillig die Gemeinschaft in Todesgefahr gebracht hat, wie durch einen Landesverrat. Wir wissen aber zur Genüge, wie die Todesstrafe millionenfach als Macht- und Einschüchterungsmöglichkeit instrumentalisiert wurde. Auch die abertausenden Justizirrtümer und Justizmorde an Unschuldigen haben in den modernen demokratischen Rechtsstaaten die Todesstrafe – Gott sei Dank – obsolet gemacht. 

Im Falle der Notwehr liegt die Schuld am eventuellen Tod des Angreifers bei ihm selbst, weil er mit der Bedrohung eines unschuldigen Mit-Menschen sein eigenes Leben sittenwidrig auf Spiel gesetzt hat. Dennoch ist die extreme Grenzsituation von den sittlichen Prinzipien her zu bewerten und man darf nicht umgekehrt aus ihr das generelle Tötungsverbot relativieren. Das schwer zu bewältigende Dilemma in einer Schwangerschaft, wenn das Leben des Kindes gegen das Leben der Mutter stehen sollte, kann nicht mit dem sittlichen Recht auf Notwehr bewältigt werden, sondern nur in der Logik der Liebe einer Mutter, der Gott allein beisteht.

Die Tötung menschlichen Lebens ist immer ein Akt, der nicht konfliktfrei vorgenommen werden kann. Um diesem Dilemma aus dem Wege zu gehen, hat der australische Philosoph Peter Singer den Vorschlag unterbreitet, zwischen dem Mensch an sich und der Person zu unterscheiden. Das Menschenrecht soll demnach nicht an das schiere Menschsein geknüpft werden – das Leben eines neugeborenen Menschen stuft er als weniger wert ein als das eines Schweines, Hundes oder Schimpansen –, es soll folglich nur Menschen zustehen, die über Rationalität, Autonomie und Selbstbewusstsein verfügen und damit als Personen anzusehen sind. Können Sie diese Unterscheidung hinnehmen?

Diese „Philosophen“ mit ihren Präferenzen für Schweine, Hunde und Schimpansen sind schon deshalb unglaubwürdig, weil sie ihre wahnhaften und menschenverachtenden Prinzipien nur auf andere, aber nicht auf sich selbst anwenden. Eine Mutter, die nach glücklicher Geburt ihr Kind liebkosend in die Arme nimmt, stünde nach dieser Logik sittlich auf einem tieferen Level als ein Hundenarr, der sich von seinem ausgewachsenen Vierbeiner ablecken lässt. Eine schwangere Frau oder ein neu geborenes Kind in seiner Wiege zu sehen, erweckt in jedem psychisch normalen Menschen ein freudiges Staunen über das Wunder des Lebens und stößt zudem mehr Glückshormone aus als der Anblick einer Herde von grunzendem Borstenvieh oder einer kreischenden Affenbande.

Rationalität, Autonomie, Selbstbewusstsein, Intelligenz, Talent sind einerseits natürliche Anlagen in jedem einzelnen Menschen, andererseits aber angeborene oder erworbene Qualitäten, die in den einzelnen Menschen in gradueller Unterschiedlichkeit entwickelt und entwickelbar sind. Jeder Computer hat eine bessere Rechenleistung kraft „künstlicher Intelligenz.“ Trotzdem ist er kein Lebewesen und schon gar nicht ein geistbegabter Mensch in sittlicher Verantwortung für sein Tun und Lassen, dessen individuelle Besonderheit man „Person“ nennt. Die Definition des Person-Begriffs stammt übrigens von Boethius, einem wirklichen, aber von politischen Intrigen zu Fall gebrachten Philosophen. Der Gotenkönig Theoderich hat ihn im Jahre 524/26 wegen Hochverrats brutal hinrichten lassen. Schon seit Sokrates steht die Macht mit dem Geist auf dem Kriegsfuß.

Geriert sich der Mensch wie ein Gott, wenn er in seiner Hybris – wie es Robert Spaemann formuliert hat –die kreatürliche Gemeinschaft mit allem Lebendigen auf der Erde durch die aktive Sterbehilfe zerschneidet?

Das Wort Sterbehilfe klingt so schön nach Hilfe und Empathie. Euthanasie tönt euphemistisch nach dem guten Tod, der uns erlöst von Schmerzen und Ängsten und überhaupt von den Qualen des irdischen Daseins sowie der Not, unsere Kontingenz bewältigen zu müssen. Die wahrhaft menschenfreundliche Hilfe für einen Sterbenden besteht darin, dessen Würde als Mensch in der letzten Phase des Lebens zu achten, ihm in seiner Angst Mut zu machen. Der Mit-Glaubende wird ihn mit der Hoffnung trösten, dass unser Schöpfer uns auch im und nach dem Tod nicht alleine lässt. Gott gewährt uns Ruhe und Heimat in der ewigen Gemeinschaft mit IHM. Auch die medizinische Erleichterung des Schmerzes soll jedem Sterbenden zuteilwerden. Der seelische Beistand durch die liebevolle Pflege seitens seiner Angehörigen und der geistliche Beistand der Seelsorger sind mehr gefragt als eine scheinbare Lösung durch die Technik, indem man dem Sterbenden einfach das Licht des Lebens abschaltet, d.h. ihn bewusst und gezielt tötet. Das ist der schlimmste Angriff auf seine Würde, weil man ihm bedeutet, dass er nicht um seiner selbst willen als Person existiert und von uns geliebt wird, sondern nur soweit er für die Gesellschaft von Nutzen ist. Man gibt ihm zu verstehen, dass er wie verbrauchtes Material entsorgt wird. Und perfide verlangt man von ihm auch noch das suizidale Einverständnis, den Mitmenschen keine unnötige Belastung mehr sein zu wollen.

Könnte die Straflosstellung der Abtreibung in den ersten drei Monaten und nach Beratung Konsequenzen für die weitere rechtliche Behandlung des Rechtes auf Leben haben und dazu dienen, auch das Lebensrecht geborener Menschen zu beschneiden, schließlich wachsen alle Veränderungen des Rechts aus kleinen Anfängen, aus unbedeutenden Akzentverschiebungen, bis hin zu einer Umwertung des Rechtes auf Leben?

Die Tötung eines Menschen im Mutterleib ist ein grauenvolles Verbrechen gegen die Würde dieses Menschen in seiner absoluten Einmaligkeit. Die Tatsache, dass er sich in den ersten Phasen seiner leiblichen Entwicklung befindet, ändert nichts an seiner Existenz als individuelles menschliches Wesen. Wenn eine Mehrheit von Abgeordneten im Europäischen Parlament – in diabolischer Pervertierung des Begriffs – ein Menschenrecht auf Abtreibung fordert und die Verteidiger des Lebensrechtes jedes Menschen – gerade auch desjenigen im Mutterleib – kriminalisieren will, dann ist dies nichts anderes als ein offener Rückfall in die Barbarei. Es handelt sich um den schlimmsten suizidalen Anschlag des Rechtsstaates auf sich selbst.

In Deutschland hat man sich der Illusion hingeben, dass der Staat auch ohne das Strafrecht seine Verantwortung für das uneingeschränkte Lebensrecht der Kinder im Mutterleib erfüllen könne. Die Praxis spricht dem Hohn. Vor allem hat sich das falsche Bewusstsein eingeschlichen, dass nur das Handeln Unrecht ist, das bestraft wird. Was erlaubt ist, scheint auch Recht zu sein. Die Rechtsordnung ist zwar nicht identisch mit der Ethik. Beide Ordnungen dürfen aber auch nicht völlig beziehungslos nebeneinanderstehen. Sonst wird aus dem Recht Willkür und aus der Sittlichkeit eine Privatangelegenheit.

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Müssen in der Diskussion über die Freigabe der aktiven Sterbehilfe auch – wie es der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde gefordert hat –, Kräfte berücksichtigt werden, die dem Recht vorausliegen und die wir in der Religion finden?

Der positiven Rechtsetzung in den veränderbaren staatlichen Gesetzen und der entsprechenden Rechtsprechung muss ein sittliches Bewusstsein vorausgehen, das sie trägt. Auch die positiven Gesetze können nicht immer formalistisch angewendet werden. Es gibt nach den Umständen auch Ausnahmen. Wenn ein Fußgänger bei Rot über die Ampel geht, darf der Autofahrer, dem die Ampel grün zeigt, dennoch nicht auf sein Recht pochen und den Fußgänger gefährden. Anders gesagt: Niemand hat das Recht, seine sittliche Vernunft auszuschalten und sich auf sein formales Recht zu berufen oder sogar einen Befehlsnotstand geltend zu machen, um der Verantwortung für die negativen Folgen seiner Handlungen zu entgehen. Auch wenn einem europäischen Arzt eine Abtreibung per Gesetz befohlen wird, ist er für den Tod des Kindes genauso verantwortlich wie sein Kollege in China für staatlich angeordneten Organraub.

Dürfen utilitaristische Gesichtspunkte, was rein finanzielle Gründe sein dürften, herangezogen werden, um die aktive Sterbehilfe zu rechtfertigen?

Gewerbsmäßig betriebene „Sterbehilfe“ oder Beihilfe zum Selbstmord ist nichts anderes als ein schweres Verbrechen gegen die Würde und das Leben einer menschlichen Person, auch wenn es noch so schönfärberisch als eine Wohltat im schlimmsten Sinne des Wortes „verkauft“ wird.

In einigen europäischen Staaten ist die aktive Sterbehilfe freigegeben worden. Können Sie die Auffassung des französischen Literaten Michel Houellebecq teilen, der konstatierte, dass ein Staat, der die Euthanasie legalisiere, jeden Respekt verloren habe, so dass er aufgelöst werde müsse, um einem anderen System Platz zu machen?

Ja. Ich kann ihm ohne weiteres zustimmen. Er ist nicht der einzige Denker, der auch ohne explizite Berufung auf Gott im jüdischen und christlichen Sinn die Grundlagen der europäischen Kultur der Vernunft und Humanität gefährdet sieht. Mit ihrem Programm der systematischen Dechristianisierung hat die politisch-mediale Nomenklatura das eigene Todesurteil für das Europa unterschrieben, das sie zu repräsentieren vorgeben. 

Nur eine mächtige Renaissance der Wahrheit von der unveräußerlichen Würde, die bedingungslos jedem individuellen Menschen von Natur zukommt, kann uns retten vor den Abgründen einer Orwell'schen Diktatur der nackten Macht ohne Geist und des Kalküls der Nützlichkeit ohne Moral, von der die faschistischen und stalinistischen Systeme im 20. Jahrhundert nur grausame Präludien boten. Aber wie haben unsere von drei absolutistischen Staaten Russland, Preußen und Österreich sowie dann von der Sowjetunion und Nazi-Deutschland brutal unterdrückten Nachbarn im Osten gesungen? Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben...

Gläubige Menschen wissen, dass die Feinde des Gottesvolkes seit jeher „ihr Vertrauen setzen auf Wagen und Rosse“ (Ps 20,8), also heute auf die Finanzmacht der Eliten und die Gehirnwäsche für die Massen. Aber gegen alles bloß irdische Kalkül „bekennen wir den Namen des Herrn unseres Gottes. Zu ihm ruft der Beter: Rette mich vor dem Rachen der Löwen und vor den Hörnern der Büffel.‘“ (Ps 22, 22).

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