Benedikts Theologie ist symphonisch. Die Vertiefungen des Glaubens, die er in den drei selbstständig verfassten Enzykliken dargelegt hat, berühren das Herz der Kirche und die Herzen der Gläubigen. Sein ganzes Pontifikat stand im Zeichen der Besinnung auf das Fundament des Glaubens, der geistlichen Sammlung und, was oft vergessen wird, des Dialogs mit Andersgläubigen und aufrichtig Suchenden. Wir wissen alle – und am Ende dieser Reihe werden wir auch darüber nachdenken –, dass Benedikt XVI. vom „Lumen fidei“ gesprochen hat. Papst Franziskus hat den von seinem Amtsvorgänger angefertigten Entwurf dann übernommen und geringfügig ergänzt. Vom „Lumen fidei“, vom Licht des Glaubens, spricht auch die dritte Enzyklika „Caritas in veritate“, die Benedikt am Hochfest der Apostel Petrus und Paulus, am 29. Juni 2009, veröffentlicht hat.

Wie oft werden heute – bis in die Theologie hinein – Liebe und Wahrheit getrennt, so als ob die Liebe ein romantisches Hochgefühl wäre und die Wahrheit, etwa die Wahrheit des Naturrechtes, doch nur als störend und lästig angesehen wird. Benedikt erinnert daran, dass der Herr die „Liebe in der Wahrheit“ bezeugt habe, im Leben und Sterben, mit der Auferstehung von den Toten: „Die Liebe – »caritas« – ist eine außerordentliche Kraft, welche die Menschen drängt, sich mutig und großherzig auf dem Gebiet der Gerechtigkeit und des Friedens einzusetzen. Es ist eine Kraft, die ihren Ursprung in Gott hat, der die ewige Liebe und die absolute Wahrheit ist.“ 

Heute hören wir oft, dass jeder Mensch doch seiner eigenen Wahrheit folgen kann. Doch nur weil wir eine Meinung haben und äußern dürfen, ist diese Meinung noch nicht richtig. Sind wir aber nicht unseres eigenen Glückes Schmied? Müssen wir nicht erfolgreich sein, Ansehen erwerben und Karriere machen? Junge Menschen, denen dies in der Schule vorgesetzt wird, sind oft enttäuscht von diesen schalen Weisheiten und dem öden Materialismus, der nur stumpf macht. Sie suchen nach dem Großen, nach dem, was das Leben, trägt und hält. Wenn wir unseren Mitmenschen Glück wünschen – was wünschen wir dann eigentlich?

Benedikts klare Antwort mag säkularen Glückwünschen zunächst entgegenstehen: „Jeder findet sein Glück, indem er in den Plan einwilligt, den Gott für ihn hat, um ihn vollkommen zu verwirklichen: In diesem Plan findet er nämlich seine Wahrheit, und indem er dieser Wahrheit zustimmt, wird er frei (vgl. Joh 8, 32). Die Wahrheit zu verteidigen, sie demütig und überzeugt vorzubringen und sie im Leben zu bezeugen, sind daher anspruchsvolle und unersetzliche Formen der Liebe. Denn diese »freut sich an der Wahrheit« (1 Kor 13, 6).“ Unser Glück liegt also darin, Gottes Willen zu entsprechen, Gott zu ehren und zu lieben. Glück ist Dienst und Hingabe. Die „Liebe in der Wahrheit“ werde zum „Gesicht Christi“ und zur „Berufung für uns“: „Alle Menschen spüren den inneren Impuls, wahrhaft zu lieben: Liebe und Wahrheit weichen niemals gänzlich von ihnen, denn sie sind die Berufung, die Gott ins Herz und in den Geist eines jeden Menschen gelegt hat. Jesus Christus reinigt und befreit die Suche nach der Liebe und der Wahrheit von unseren menschlichen Armseligkeiten und offenbart uns vollends die Initiative der Liebe und den Plan eines wahren Lebens, das Gott für uns vorbereitet hat.“

Liebe, die nicht auf dieser Wahrheit gründet, ist vielleicht zuinnerst gar keine Liebe. Ich kann nur lieben, wenn ich von mir selbst absehe und der Wahrheit Raum schenke. Das gilt für die menschliche Beziehung ebenso wie für den Bereich des Sozialen: „Aus der Liebe Gottes geht alles hervor, durch sie nimmt alles Gestalt an, und alles strebt ihr zu. Die Liebe ist das größte Geschenk, das Gott den Menschen gemacht hat, sie ist seine Verheißung und unsere Hoffnung.“

Liebe wird missverstanden, entstellt und entleert, in allen Bereichen des Lebens. Benedikt weist insbesondere auch auf die Gesellschaften und die lokale wie globale Wirtschaft hin. Die „moralische Verantwortung“ werde oft ignoriert und als unerheblich angesehen. Wer sich am Wachstum und Profit orientiert, strebt empor, wächst aber nicht in der Liebe, nur in der Maßlosigkeit – und gegen andere. Die Lieblosigkeit nimmt zu und hat ihre eigene Dynamik.

Benedikt weist darauf hin, dass die „Liebe ihrerseits im Licht der Wahrheit verstanden, bestätigt und praktiziert werden“ muss: „Auf diese Weise werden wir nicht nur der von der Wahrheit erleuchteten Liebe einen Dienst erweisen, sondern wir werden auch dazu beitragen, daß sich die Wahrheit glaubwürdig erweist, indem wir ihre Authentizität und ihre Überzeugungskraft im konkreten gesellschaftlichen Leben deutlich machen. Das ist heute von nicht geringer Bedeutung in einem sozialen und kulturellen Umfeld, das die Wahrheit relativiert und ihr gegenüber oft gleichgültig und ablehnend eingestellt ist. … Nur in der Wahrheit erstrahlt die Liebe und kann glaubwürdig gelebt werden. Die Wahrheit ist ein Licht, das der Liebe Sinn und Wert verleiht. Es ist das Licht der Vernunft wie auch des Glaubens, durch das der Verstand zur natürlichen und übernatürlichen Wahrheit der Liebe gelangt: er erfaßt ihre Bedeutung als Hingabe, Annahme und Gemeinschaft.“ 

Wenn die Wahrheit ausbleibt oder übersehen wird, gleitet Liebe in „Sentimentalität“ ab. Sie werde zu einem „leeren Gehäuse“, das beliebig gefüllt werden könne. Eine „Kultur ohne Wahrheit“ werde „Opfer der zufälligen Gefühle und Meinungen der einzelnen“. Der Begriff Liebe werde dann „mißbraucht und verzerrt“, entstellt und ins Gegenteil verkehrt: „Die Wahrheit befreit die Liebe von den Verengungen einer Emotionalisierung, die sie rationaler und sozialer Inhalte beraubt, und eines Fideismus, der ihr die menschliche und universelle Weite nimmt. In der Wahrheit spiegelt die Liebe die persönliche und zugleich öffentliche Dimension des Glaubens an den biblischen Gott wider, der zugleich »Agape« und »Logos« ist: Caritas und Wahrheit, Liebe und Wort.“

Die Wahrheit befreit den Menschen aus seinem Eigensinn, seiner „subjektiven Meinungen und Empfindungen“: „Die Wahrheit öffnet den Verstand der Menschen und vereint ihre Intelligenz im Logos der Liebe: Das ist die Botschaft und das christliche Zeugnis der Liebe. Wenn wir im augenblicklichen sozialen und kulturellen Umfeld, in dem die Tendenz zur Relativierung der Wahrheit verbreitet ist, die Liebe in der Wahrheit leben, kommen wir zu der Einsicht, daß die Zustimmung zu den Werten des Christentums ein nicht nur nützliches, sondern unverzichtbares Element für den Aufbau einer guten Gesellschaft und einer echten ganzheitlichen Entwicklung des Menschen ist. Ein Christentum der Liebe ohne Wahrheit kann leicht mit einem Vorrat an guten, für das gesellschaftliche Zusammenleben nützlichen, aber nebensächlichen Gefühlen verwechselt werden. Auf diese Weise gäbe es keinen eigentlichen Platz mehr für Gott in der Welt. Ohne die Wahrheit wird die Liebe in einen begrenzten und privaten Bereich von Beziehungen verbannt.“ Fragen wir uns heute in dieser Stunde der Weltenzeit: Welchen Platz räumen wir Gott in unserem Leben ein? Ist in der Kirche heute von Gott die Rede? Begnügen wir uns mit kulturchristlichen Wertvorstellungen und Weisungen? Geben wir der Wahrheit Raum? Erkennen wir die Wahrheit an? Oder wollen wir unseren eigenen Meinungen Geltung verschaffen? Benedikt XVI. spricht hier auf gewisse Weise auch schon über Entwicklungen in der Kirche, die immer wieder auftauchen – etwa auf dem „Synodalen Weg“. Eine Kirche, die sich dem Geist der Zeit anpasst, säkularen Ideen folgt und ihre eigene Wahrheit aus dem Repertoire von unerheblichen Philosophien kreiert, entfremdet sich von Gott und bietet den Menschen, die noch immer sehnsüchtig an ihre Pforte anklopfen, Steine statt Brot an. 

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