10. Juli 2022
Katholiken sind mit dem Argument vertraut, dass neben der Heiligen Schrift gewiss auch die "heilige Tradition" als Regel für den Glauben benötigt wird. Ist nicht eine kirchliche Autorität notwendig, um zu bestimmen, was überhaupt als Schrift gilt ("Kanon")? Diejenigen, die dies – eine solche Autorität, die "apostolische Sukzession", die in der Tradition begründet ist (Clemens von Rom, Ignatius von Antiochien) – leugnen, behaupten, dies stehe nicht in der Schrift.
Logischerweise kann die Heilige Schrift ihren eigenen Kanon nicht bestimmen. Überdies ist die protestantische Behauptung des sola scriptura ("die Schrift allein") selbstzerstörerisch, da sie ebenfalls nicht in der Schrift zu finden ist.
Wie steht es aber mit der schärferen Auffassung, dass nicht die Tradition notwendig ist, sondern dass die Tradition ausreicht und die Schrift unnötig ist? Man nennt dies nulla scriptura ("ohne Schrift").
Diese Ansicht taucht im Ansatz in einer brillanten Abhandlung des Dominikaners Melchior Cano auf, nämlich über die Quellen theologischer Erkenntnis (De Locis Theologicis, Salamanca, 1562). Cano argumentiert zu Recht, dass die Kirche älter ist als die Schrift; dass der Herr keine Bücher geschrieben oder gar den Aposteln befohlen hat, Bücher zu schreiben, sondern ihnen vielmehr befohlen hat, zu predigen; dass viele Dinge, die von Christen geglaubt werden müssen, nicht ausdrücklich in der Schrift zu finden sind (wie etwa "drei gleiche Personen in einem Wesen").
Indem er darauf hinweist, dass Paulus und Johannes in ihren Briefen auf die Lehren verweisen, die sie überliefert, aber nicht niedergeschrieben haben, kommt Cano zu einer überzeugenden Schlussfolgerung. Wir haben zwei Petrusbriefe, sagt er, und doch wissen wir, dass Petrus sieben Jahre in Antiochia und weitere 25 Jahre in Rom geblieben ist:
Dann hat er also nichts gelehrt durch das, was er gesagt hat – nur das, was er in diesen beiden Briefen niedergeschrieben hat? Wie meinen Sie das? Andreas, Thomas, Bartholomäus, Philippus – haben sie nicht, ganz ohne Schriften, sondern allein durch das, was sie sagten, Gemeinden gegründet, wohin sie gesandt wurden und wo sie blieben, in Kontinuität mit dem Glauben und mit unserer Religion? Einigen wir uns also darauf – es steht uns nicht einmal offen, es zu leugnen –, dass die Glaubenslehre in ihrer Gesamtheit nicht schriftlich fixiert ist, sondern zum Teil in gesprochenen Worten überliefert wurde, die von den Aposteln stammen. [Hervorhebungen von Michael Pakaluk]
Das ist die Formulierung "ganz ohne Schriften". Das war der Zustand der frühen Kirche für mindestens 30 Jahre.
Dann fand ich diese Ansicht vollständig in der wunderbaren Reihe von 90 Predigten des heiligen Johannes Chrysostomus über Matthäus wieder. Er beginnt folgendermaßen:
Es wäre in der Tat angebracht, dass wir die Hilfe des geschriebenen Wortes gar nicht brauchen, sondern ein so reines Leben führen, dass die Gnade des Geistes anstelle von Büchern in unseren Seelen ist, und dass, wie diese mit Tinte beschrieben sind, so auch unsere Herzen mit dem Geist sind. Da wir aber diese Gnade ganz und gar von uns gewiesen haben, so lasst uns wenigstens den zweitbesten Weg einschlagen.
Der Heilige weist darauf hin, dass Gott mit Noah, Abraham, Ijob und Mose in vertrauter Weise gesprochen hat, und zwar ohne jegliche Schriften. Außerdem hat der menschgewordene Gott den Aposteln keine Schriften überlassen, wie er es hätte tun können, sondern er hat ihnen den Geist versprochen und gegeben.
Wenn das so ist, warum haben wir dann überhaupt eine Heilige Schrift? Aus demselben Grund, sagt er, aus dem Mose die Tafeln vom Berg herabbrachte, wegen unserer Verdorbenheit: "Da sie im Laufe der Zeit Schiffbruch erlitten – die einen in Bezug auf die Lehre, die anderen in Bezug auf das Leben und die Sitten –, war es notwendig, dass sie [Glaube und Sitten] durch das geschriebene Wort wieder in Erinnerung gerufen wurden."
All das unterstreicht nur, wie wichtig es heute ist, die Heilige Schrift zu studieren, sagt Chrysostomus: "Bedenkt nun, welch großes Übel es für uns ist, die wir so rein leben sollten, dass wir nicht einmal des geschriebenen Wortes bedürften, sondern unsere Herzen wie Bücher dem Geist überließen, und nun, da wir diese Ehre verloren haben und dieser bedürfen, auch dieses zweite Mittel nicht mehr gebührend anwenden."
Und er fügt hinzu, um seine Herde noch weiter zu ermutigen: "Denn wenn es ein Tadel ist, dass wir der geschriebenen Worte bedürfen und nicht die Gnade des Geistes auf uns herabgelassen haben, so bedenke, wie schwer die Anklage ist, wenn wir uns nicht einmal nach dieser Hilfe richten, sondern das Geschriebene mit Nachlässigkeit behandeln, als ob es ohne Absicht und willkürlich ausgeworfen wäre, und so unsere Strafe mit Vermehrung auf uns herabziehen."
All das macht Sinn. Der Geist ist jetzt bei uns, so sicher wie der Sohn bei der Gründung der Kirche bei uns war. Aber warum ist seine Gegenwart für uns in der Praxis nicht ebenso ausreichend wie im Prinzip?
Wir können nicht in die ersten Jahrzehnte der Kirche zurückkehren, aber wir können uns das christliche Leben vorstellen als ein geschichtetes. Stellen Sie sich zunächst vor, dass alles, was geschrieben wurde, aus Ihrem Leben entfernt ist, nicht nur die Bibel, sondern auch die Schriften der Konzilien, d. h. die seither niedergeschriebene Tradition. Sie verfügen noch über beträchtliche Reichtümer. Machen Sie den besten Gebrauch davon?
Was meine ich damit? Ich meine: Sie kennen das Apostolische Glaubensbekenntnis, die Grundgebete, den Rosenkranz. Sie können vor den Tabernakel gehen und wahrhaft vor dem Herrn beten. Sie werden sofort sehen, dass Sie viel mehr beten müssen, um mit Gott vertrauter zu werden. Außerdem müssen Sie ständige Abtötung üben, um dem Heiligen Geist Raum zu geben.
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Sie haben Beispiele von Heiligen, deren Leben Sie kennen. Wahrscheinlich kennen Sie Wunder in Ihrem Freundeskreis. Selbst die bloße Existenz von Bischöfen, unabhängig von ihrer Heiligkeit, zeugt von der Realität der Gründung der Kirche. Jeder Priester legt Zeugnis ab von der Einsetzung der Eucharistie.
Und Sie haben die Sakramente.
Versuchen Sie, so im Geist zu leben. Nun kommen die Heilige Schrift und die schriftliche Überlieferung hinzu. Natürlich sind diese Schichten nicht zeitlich voneinander getrennt oder isolierbar, aber jede ist dazu bestimmt, die andere zu unterstützen.
Man kann argumentieren, dass sola scriptura – dieser Fluch für das Verständnis des Glaubens und der Kirche – für die protestantischen Reformatoren nur deshalb wie eine notwendige Regel aussehen konnte, weil die Katholiken offensichtlich nicht genug aus dem Glauben nulla scriptura lebten.
Der Autor, Michael Pakaluk, lehrt an der "Catholic University of America" in Washington, D.C.
Übersetzung des englischen Originals mit freundlicher Genehmigung von "The Catholic Thing".
Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln allein die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht die der Redaktion von CNA Deutsch.
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