11. Dezember 2017
Woran krankt Europa? Warum steht der Kontinent an einem Kreuzweg, und wie kann, ja, soll es weitergehen? Mit einem nicht nur für Sachbücher eleganten Schwung und – für seine 193 Seiten frappierenden – Tiefgang hat der Autor und Journalist Stephan Baier ein Buch über den Sinn und die Sendung des Abendlandes vorgelegt. Mit CNA sprach der Autor und Journalist über Ersatzreligionen, die Idee einer "Vereinigten Staaten von Europa" – und gute Gründe zur Hoffnung.
Herr Baier, in Ihrem neuen Buch über "Die Seele Europas" warnen Sie davor, den Staat als Religionsersatz zu behandeln und bezeichnen diesen sogar – viele katholische Leser werden schmunzeln – als Folge der Erbsünde, das ist griffig formuliert, aber was ist damit gemeint?
Wann immer wir uns vom wahren Gott entfernen, werden irdische Wirklichkeiten zu Ersatz-Göttern erhoben: die Nazis machten die Rasse zum Götzen, die Kommunisten offiziell die Arbeiterklasse, tatsächlich aber ihre Partei – und bis heute glauben viele Europäer an die Weisheit und Allmacht des Staates oder des Marktes. Tatsächlich ist der Staat ein Instrument, das wir nicht bräuchten, wenn wir alle Heilige wären. Wären wir alle immer nur selbstlos, altruistisch und gemeinwohlorientiert, dann bedürfte es keiner Macht, die mit Gesetzen und Sanktionen die Gesellschaft ordnet – insofern ist der Staat eine Folge der Erbsünde. Seine Dienstfunktion besteht darin, das Zusammenleben der Menschen gemäß dem Recht zu ordnen. Leider ist diese naturrechtliche Orientierung heute dünn geworden. Stattdessen spielen sich die Staaten – beziehungsweise die politische Klasse – immer mehr als Erzieher und Vormund der Bürger auf, denken Sie nur an die Absurditäten der Gender-Ideologie und die schöpfungswidrige Umdeutung der Ehe.
Nun hat der deutsche SPD-Politiker Martin Schulz erklärt, er will bis 2025 die "Vereinigten Staaten von Europa" schaffen. Ist das die "Redimensionierung" des Staates, von der Sie schreiben? Wie kann – wie soll – eine solche aussehen?
Macrons „Neuerfindung Europas“ oder Schulz‘ „Vereinigte Staaten von Europa“ – das sind leider nur leere Phrasen, denn eine konkrete Vision steht nicht dahinter. Die Lösung liegt im Subsidiaritätsprinzip: Wir brauchen tatsächlich mehr Europa! Dort nämlich, wo die Nationalstaaten einfach zu klein geworden sind, um zu nützen und zu schützen. Das betrifft die Außen- und Sicherheitspolitik, die Rolle Europas in der Welt. Andererseits braucht kein Mensch EU-Vorschriften für jedes Detail seines Alltags. Subsidiarität meint: Was die Gesellschaft ohne Staat regeln kann, darf nicht staatlich geregelt werden. Und wo wir den Staat brauchen, da bitte so bürgernah wie möglich: Was die Region zufriedenstellend leisten kann, darf der Nationalstaat nicht an sich ziehen; was der Einzelstaat leisten kann, darf die EU nicht an sich ziehen. Im globalen Kontext aber brauchen wir Europäer tatsächlich ein stärkeres Europa, um unsere Interessen und unsere Ideale in der Welt kraftvoll zu vertreten. Zu unserem eigenen Schutz, denn seit Jahrzehnten schwappen Krisen von außen zu uns herein. Die Finanzkrise 2008 und die Migrationskrise 2015 sind nur die Vorboten größerer globaler Krisen, gegen die wir uns wappnen sollten.
Welche Rolle spielt dabei das Christentum? Welche Rolle sollte es spielen – Sie gehen mit der Säkularisierung sehr scharf ins Gericht...
Die Identität Europas entspringt einer historischen Begegnung: Als das Christentum den von hellenischer Philosophie und römischem Staatsverständnis geprägten Raum nach und nach mit seinem Gottes- und Menschenbild erfüllte, wuchs das, was wir Abendland nennen. Alles Europäische verdanken wir dieser Verbindung: die Toleranz, die Aufklärung, die Menschenrechte, den Rechtsstaat, die europäische Kultur der Dame und des Gentleman. Und all das demoliert ein hirn- und herzloser Laizismus, der seit der Französischen Revolution unser Europa immer und immer wieder in Fieberschübe versetzt. Die Demontage von Ehe und Familie ist das augenfälligste Beispiel dafür. Benedikt XVI. hat uns Europäer aber auch – mit vollem Recht! – gewarnt, dass eine Vernunft, die sich Gott verschließt, unfähig wird zum Dialog der Kulturen. Die Sprachlosigkeit Europas gegenüber der islamischen Welt hat genau hierin ihren Grund: Erst wenn wir Europäer unsere christliche Identität wiederentdecken, werden wir auch die Kraft zum interkulturellen Dialog und zur Integration von Menschen aus fremden Kulturkreisen wiedergewinnen.
Gleichzeitig argumentieren Sie im Buch, dass Europa eine "nicht delegierbare Verantwortung für den gesamten Mittelmeerraum" habe, und hier quasi als Ordnungsmacht diesen sichern soll. Wie ist das zu verstehen?
Ohne Frieden im Mittelmeerraum gibt es keine Sicherheit für Europa. Schon die alten Römer wussten, dass das „mare nostrum“ für ihre Macht und ihren Frieden wichtiger ist, als alles, was sich nördlich der Alpen abspielt. Heute ist das „Mar mediterraneo“, dieses „Meer zwischen den Ländern“, eine Wohnstandsgrenze, eine Kulturgrenze und eine Fertilitätsgrenze: Südlich dieses Meeres liegt ein demografisch pulsierendes Afrika, dessen Bevölkerung rasch wächst, nördlich ein langsam vergreisendes Europa. Afrika ist gezeichnet von Armut, Gewalt, Unsicherheit und korrupten Eliten – Europa lebt trotz aller Probleme in Rechtssicherheit, Wohlstand und Frieden. Wir sollten ja nicht glauben, das Mittelmeer sei unser schützender Burggraben: Millionen Afrikaner sitzen auf gepackten Koffern! Und im Orient tobt eine Art Dreißigjähriger Krieg innerhalb der islamischen Welt – ein Krieg um Macht und Deutungshoheit. Wenn wir Europäer unseren südlichen und östlichen Nachbarn im Mittelmeerraum nicht helfen, ihre Probleme zu bewältigen, dann kommen diese Probleme zu uns!
Sie zitieren Otto von Habsburg: "Europa muss eine Supermacht des Friedens werden". Wie ist das zu verstehen – ja, zu realisieren – angesichts der politischen und gesellschaftlichen Realitäten zum Jahresende 2017?
Der Egoismus ist zum Leitstern der Außenpolitik der Weltmächte geworden: Donald Trump predigt „America first“ – was für den Rest der Welt ja sicher kein Ideal ist. China ist mit seinem unersättlichen Hunger nach Rohstoffen und Absatzmärkten global präsent und zur modernen Kolonialmacht geworden. Putin dehnt Russlands Macht- und Einflusszone gewaltsam aus, in Nahost ebenso wie im Kaukasus und in Syrien. Europa soll und kann eine Macht anderer Art sein, denn es vertritt Interessen, die auch seinen Nachbarn wohltäten – und es vertritt Ideale, an denen auch andere Kulturkreise und Kontinente genesen könnten. Europa hat über Jahrhunderte Gutes und Schlechtes in die Welt exportiert. Heute, in einer chaotischer gewordenen, gefährlichen Welt könnte es sich auf das Gute konzentrieren.
Einer drängenden Realität – dem Kindermangel – widmen Sie ein ganzes Kapitel, und plädieren für ein zukunftsfrohes, zuversichtliches Europa, auch mit Rückgriff auf Papst Benedikt – denn Zukunft bedeuet für Sie nicht nur christliche Wurzeln, sondern Blüte. Was würden Sie einem jungen Menschen, einem jungen Paar sagen, das sich fragt, ob und wie viele Kinder es bekommen soll?
Nur Mut! Das möchte ich jungen Paaren zurufen: Kinder sind ein Segen! Und sie bringen Farbe ins Leben! Die Kinderlosigkeit unseres Kontinents ist eine wahre Tragödie: gesamtgesellschaftlich, bald auch wirtschaftlich, jedenfalls aber individuell. Vereinsamung und Altersarmut werden die großen sozialen Herausforderungen unserer vergreisenden Gesellschaft. Doch eine Politik, die immer nur bis zum Tellerrand der nächsten Wahl blickt, belohnt weiterhin Singledasein und Kinderlosigkeit, bestraft systematisch Familienbildung und Kinderreichtum. Ohne Kinder keine Zukunft! Das gilt für die ganze Gesellschaft, für unsere durch Renten und Pensionen, Gesundheits- und Pflegekosten bald heillos überforderten Sozialsysteme. Es gilt aber auch ganz persönlich: Das Ja zu Kindern ist eine Wette auf die Zukunft.
Stephan Baier, "Die Seele Europas. Von Sinn und Sendung des Abendlandes" ist erschienen im Fe-Medienverlag.