12. September 2022
„Ein 15-jähriges Mädchen wird vergewaltigt. Ein Lehrer schlägt einen Jungen, weil er in der Klasse Widerworte gibt, während der Rest der Klasse zusieht. Ein Kleinkind von seiner Mutter geschlagen weil es ein Glas zerbrochen hat. Ein Kind schläft auf der Straße weil seine Familie es rausgeschmissen hat. Online-Mobbing treibt einen Teenager in den Wahnsinn.“ – Dieser Text stammt von einem dramatischen TV-Spot von UNICEF, den der Schauspieler Liam Neeson spricht. Es werden dabei lediglich verschiedene, leere Schauplätze gezeigt, keine Personen.
Liam Neeson fährt fort: „Nur weil man Gewalt gegen Kinder nicht sehen kann, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Machen Sie das Unsichtbare sichtbar. Helfen Sie uns, damit Gewalt gegen Kinder verschwindet.“
UNICEF, der Hilfsfond der Vereinten Nationen für Kinder, ist der Meinung, dass jedes Kind ein Recht auf Sicherheit hat, und setzt sich weltweit dafür ein, Mädchen und Jungen vor Missbrauch und Ausbeutung zu schützen.
Die täglichen Schlagzeilen von der Kriegsfront in der Ukraine sollten uns alle auch auf die hilflosesten und wohl unschuldigsten Opfer des Krieges aufmerksam machen: Kinder.
Abgesehen von den Schrecken des Krieges, dass Kinder bei Angriffen getötet oder körperlich verletzt werden, ist fast jedes Kind in der Ukraine, das vor dem Krieg flieht, erschreckenden Verbrechen ausgesetzt: Gewalt, Missbrauch, sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel.
Bereits im Jahr 1924 verfasste der Völkerbund, der Vorläufer der Vereinten Nationen, die Genfer Erklärung über die Rechte des Kindes. Darin heißt es unter anderem, „dass alle Menschen den Kindern das Recht auf folgende Dinge schulden“, darunter „besondere Hilfe in Zeiten der Not, Vorrang für Hilfsmaßnahmen und Schutz vor Ausbeutung“. Schutz vor Ausbeutung – das umfasst auch Gewalt gegen Kinder.
Die Gewalt gegen Kinder macht auch vor dem Krieg nicht Halt. Kinder brauchen dringend Sicherheit, Stabilität, Kinderschutz und psychosoziale Unterstützung. Das Internationale Katholische Kinderbüro (BICE) kümmert sich in der Ukraine um Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind.
Diana Filatova, gebürtige Russin, leitet unter anderem Hilfsprojekte von BICE in der Ukraine. Sie verfügt über zehn Jahre Erfahrung im Bereich der Kinderrechte besonders in Osteuropa und ist spezialisiert auf Fragen des Schutzes von Kindern vor verschiedenen Arten von Gewalt.
Gibt es ein klassisches Profil, eine Alters- oder Geschlechtsgruppe von Menschen in Ukraine, die Kinder verletzen oder missbrauchen?
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass BICE seit mehr als 20 Jahren in der Ukraine und anderswo auf der Welt im Bereich Gewalt gegen Kinder arbeitet.
Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass bis zu eine Milliarde Kinder in der Welt Opfer irgendeiner Art von Gewalt geworden sind (Stand 2016). Und ich denke, dass dieses Ausmaß an Gewalt davon zeugt, dass es sich um ein Phänomen handelt, das tief in unseren Gesellschaften verwurzelt ist.
Gewalt gegen Kinder kann von verschiedenen Personengruppen ausgeübt werden. Es können Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn, Erwachsene, die für die Erziehung oder Freizeitgestaltung der Kinder verantwortlich sind, Gleichaltrige oder Fremde sein.
Kinder sind verschiedenen Arten von Gewalt ausgesetzt. Dabei kann es sich um körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt, psychologische oder emotionale Gewalt, Mobbing, Gewalt zwischen Gleichaltrigen wie Jugendgewalt oder Gewalt in intimen Partnerschaften handeln.
Gewalt gegen Kinder kann sehr langfristige Folgen für die körperliche und geistige Gesundheit haben. Die überwiegende Mehrheit der Kinder, die Opfer von Gewalt werden, erstatten jedoch nie Anzeige und sprechen nie mit jemandem über diese Verbrechen. Und viele Mädchen und Jungen werden Opfer von Gewalt durch genau die Menschen, die sie zu Hause, in ihrer Gemeinde oder in der Schule schützen sollen.
Deshalb haben wir bei BICE beschlossen, unsere Bemühungen auf die Vorbeugung und Unterstützung von Fällen von Gewalt zu konzentrieren, die im so genannten Kreis des Vertrauens geschehen. Das bedeutet, dass wir unsere Aktivitäten auf die Sensibilisierung und Prävention bei den Kindern selbst, aber auch bei Eltern, Lehrern und anderen verantwortlichen Erwachsenen konzentrieren. Außerdem unterstützen wir den Aufbau von Kapazitäten bei Kinderschutzeinrichtungen, damit sie Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind, vor Ort angemessen unterstützen können.
Sie sagten, dass die überwiegende Mehrheit von Kindern, die Opfer von Gewalt geworden sind, nie Anzeige erstattet. Erklären Sie uns kurz, wie Sie von Verstößen erfahren?
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BICE arbeitet mit lokalen Organisationen, lokalen Agenten zusammen, die in ihren Ländern gut etabliert und bekannt sind. Das bedeutet, dass sie Berichte über Gewalt gegen Kinder aus vielen verschiedenen Quellen erhalten. Sie können zum Beispiel von den Kindern selbst kommen. Das Kind kann zum Beispiel nach einem Präventionsworkshop mit unserem Partner eine Meldung machen. Wir können sie per Telefon, über eine Hotline oder per Chat erhalten und kontaktieren. Meldungen können auch von Familienmitgliedern, oft von Lehrern, seltener aber manchmal von Ärzten oder Freunden des Kindes oder Freunden der Familie gemacht werden, das sind wichtige Quellen.
In den Ländern, in denen die behördenübergreifende Zusammenarbeit besser etabliert ist, können die Meldungen an unsere Partner auch über die Sozialbehörden oder die Strafverfolgungsbehörden erfolgen.
Hat Ihrer Beobachtung nach die Gewalt gegen Kinder in der Ukraine zugenommen, nachdem der eigentliche Krieg in diesem Jahr begann?
Ja, natürlich stellt der Krieg eine unmittelbare Bedrohung für das Wohlergehen und das Leben von Kindern dar. Kinder werden verletzt oder getötet. Die für das Wohlergehen der Kinder notwendige Infrastruktur, wie Krankenhäuser oder Schulen, wird beschädigt oder zerstört. Die Familien müssen fliehen, und manchmal werden sie getrennt. Dies hat also enorme Auswirkungen auf das Leben der Kinder.
Bei BICE haben wir in Zusammenarbeit mit unserem örtlichen Partner abgesprochen, auf diese Krise mit zwei Hauptaktivitäten zu reagieren. Erstens durch die Bereitstellung von humanitärer Hilfe, die am dringendsten ist. Und das kann durch Lebensmittelpakete geschehen, Wasser, sanitäre oder Hygiene-Pakete, Dinge wie Decken oder Kochutensilien. Außerdem haben wir beschlossen, auf ein anderes dringendes Bedürfnis zu reagieren, und das ist die psychologische Hilfe. Unser Partner eröffnete eine Beratungsstelle für Familien und Kinder, die vom Krieg betroffen sind, und diese Beratungsstelle nimmt Anrufe per Telefon oder Nachrichten per Chat entgegen. Zwischen April und Juli dieses Jahres gingen mehr als 700 Anrufe und Nachrichten ein, und ich denke, dass der Inhalt dieser Anrufe und Nachrichten sehr relevant ist, denn wir erfahren von den Schwierigkeiten der Familien und Kinder vor Ort, und viele von ihnen sprachen mit uns über regelmäßige Panikattacken und ständige Angst, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörung, Schlafschwierigkeiten, Schwierigkeiten, zu agieren, etwas zu tun.
Die Auswirkungen sind also enorm, und ich meine, dass es jetzt, wo der Winter kommt und der Konflikt weitergeht, für uns alle, die internationalen Organisationen und die internationale Gemeinschaft, sehr wichtig ist, für Familien und Kinder in der Ukraine bereit zu bleiben.
Sie erwähnten psychologische Schwierigkeiten. Die nächste Frage klingt vielleicht etwas provokativ, aber soll dieses Verbrechen nicht entschuldigen. Sind aus psychologischer Sicht die Täter, die Gewalt gegen ein Kind ausüben, nicht in gewisser Weise auch selbst Opfer, verursacht durch Missbrauch gegen sie als Kind, oder Umstände wie Krieg? Was ist Ihre Meinung dazu?
Ich möchte diese Frage zunächst unter dem allgemeinen Gesichtspunkt des Phänomens der Gewalt gegen Kinder beantworten. Alle Gewalt gegen Kinder kann verhindert werden und keine Gewalt gegen Kinder kann gerechtfertigt werden.
Wie ich bereits zu Beginn unseres Gesprächs erwähnte, können Gewalterfahrungen in der Kindheit enorme Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern und Erwachsenen haben, insbesondere auf die psychische Gesundheit. Diese Auswirkungen können beispielsweise gesundheitssschädlicher Stress sein, Selbstmordgedanken, lebenslange Depressionen oder problematische Verhaltensweisen wie Aggression, aber auch sexuelles Risikoverhalten oder Drogenmissbrauch.
Jüngste Forschungen legen nahe, dass Erwachsene, die in ihrer Kindheit Gewalt erlebt haben und danach nicht entsprechend beraten wurden, ein höheres Risiko haben, selbst Gewalt anzuwenden, wenn sie erwachsen sind, und damit eine neue Generation von Opfern schaffen.
Deshalb ist es für uns sehr wichtig, nicht nur Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind, zu unterstützen, sondern auch Kinder, die straffällig geworden sind oder mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Denn wir glauben, dass diese Art von ganzheitlichem Ansatz diesen Teufelskreis der Gewalt wirklich brechen kann.
Wenn Sie von Gewalt gegen ein Kind erfahren, gehen Sie dann auch strafrechtlich und juristisch dagegen vor, vielleicht sogar gegen die Täter, die vielleicht zur eigenen Familie des Kindes gehören?
Ja, wann immer es möglich ist, beziehen wir in unsere Projekte die rechtliche Unterstützung von Kindern, die Opfer von Missbrauch geworden sind, mit ein. Außerdem bieten wir den Strafverfolgungsbehörden spezielle Schulungen zu Ermittlungen und kindgerechten Befragungen an, damit sie besser wissen, wie sie mit Kindern, die Opfer von Gewalt geworden sind.
Allgemein gesagt sind die Weiterleitungsmethoden ein sehr wichtiger Aspekt in der Arbeit von BICE und unseren Partnern. Wenn wir beispielsweise eine Präventionsveranstaltung vorbereiten, müssen wir sicher sein, dass wir wissen, was zu tun ist, wenn das Kind zu uns kommt und sagt, dass es Opfer von Gewalt war, und wir es an die zuständigen Stellen weiterleiten können.
Ich möchte hinzufügen, dass auch unsere Partner an nationale Gesetze gebunden sind, wenn es darum geht, an wen sie sich wie und unter welchen Umständen wenden.
Wie ich bereits sagte, über die Übermittlungsverfahrensweisen zu sprechen, ist ein wichtiger Teil unserer Angebote zum Aufbau von Kapazitäten. So haben Kinderschutzspezialisten oder auch Lehrer oder Ärzte die notwendigen Informationen darüber, wie man Gewalt gegen Kinder erkennt und wie man sie meldet. Denn nach unserer Auffassung muss ein Kind angemessenen rechtlichen Beistand erhalten und auch offiziell auf kindgerechte Weise als Opfer anerkannt werden. Nur so kann dem Kind bei seinem Heilungsprozess und auf seinem Weg zur Stabilität wirklich geholfen werden.
Zum Schluss etwas sozusagen in eigener Sache zum Thema Gewalt gegen Kinder: Papst Franziskus hatte im Dezember 2019 entschieden, das sogenannte Päpstliche Geheimnis bei der Verfolgung von Missbrauchsstraftaten abzuschaffen. Außerdem hatte er angeregt, jährlich einen Gebetstag für Opfer sexuellen Missbrauchs zu begehen. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte festgelegt, dass dieser von den Kirchengemeinden um den 18. November begangen werden sollte, was zugleich der „Europäische Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“ ist.
Sabine Hesse, Präventionsbeauftragte des Bistums Rottenburg-Stuttgart, schrieb dazu ein Gebet, in dem es unter anderem heißt: „Wir denken heute besonders an die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die sexuellen Missbrauch erleiden mussten und müssen – auch in deiner Kirche.“ Und weiter: „Wir wollen darauf achten, was viele nicht sehen wollen: sexuelle Übergriffe und den Missbrauch von Vertrauen und Macht. … Du unser Gott, steh uns bei.“
Original-Interview aufgenommen in Genf von Kameramann Andriy Ryndych | Deutsche Sprecher: Christine Wolff, Matthias Ubert | Redaktion, deutsche Übersetzung, Moderation und Schnitt: Christian Peschken für EWTN Deutschland und CNA Deutsch. Eine Produktion von Pax Press Agency, Sarl.
Hinweis: Dieser Blogpost – sein Inhalt sowie die darin geäußerten Ansichten – sind kein Beitrag der Redaktion von CNA Deutsch. Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln zudem nur die Ansichten der jeweiligen Autoren wider. Die Redaktion von CNA Deutsch macht sich diese nicht zu eigen.
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