4. November 2022
Im Dämmerlicht des Ukraine-Kriegs scheint es, als sei ein Konflikt fast ganz aus den Schlagzeilen verschwunden – ein Konflikt, der bereits 12 Jahre andauert: die Krise in und um Syrien. Allein Deutschland überweist Jahr für Jahr eine Milliarde Euro an die Syrien-Hilfe der Vereinten Nationen. Die UN bekräftigt immer wieder, dass es keine militärische Lösung für die syrische Krise gebe.
Im Oktober verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat einen Beschluss, in dem bestätigt wird, dass Syrien ein unsicheres Land ist. Ferner verurteile der Rat die gravierende Menschenrechtslage in Syrien.
Der Botschafter der Arabischen Republik Syriens bei der UN in Genf, Hussam Edin Aala, verurteilte den Beschluss und verwies darauf, das der von den Vereinten Nationen geführte politische Prozess auf einem Dialog zwischen den Syrern und ihrem ausschließlichen Recht basiere, die Zukunft ihres Landes fernab von ausländischer Einmischung zu gestalten.
Ist Syrien ein unsicheres Land, herrscht dort Krieg, und wie gehen die Menschen mit ihrem offensichtlich nicht enden wollenden Elend um? Wir sprechen mit jemandem, der diese Fragen besser beantworten kann als die meisten der ausländischen Journalisten und Beobachter, denn Syrien ist seine Heimat. Er wurde 1943 in Aleppo geboren und lebt dort: Erzbischof Jean Clement Jeanbart, emeritierter Erzbischof der melkitischen griechisch-katholischen Kirche von Aleppo.
So beschreibt unser heutiger Gast sein Leben: „Ich wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs in Aleppo geboren und habe seitdem in einem unaufhörlichen Lärm von Gewalt und Zusammenstößen gelebt.“ Erzbischof Jeanbart hat Kriege, Regimewechsel, Putsche und Unruhen seit 1946 erlebt und überlebt. Seit zwölf Jahren leidet auch er unter den katastrophalen Folgen des syrischen Bürgerkriegs, der sein Land verarmt und die Gläubigen erstickt, wie er sagt.
In jüngster Zeit scheint sich das Hauptaugenmerk der Nachrichten auf die Ukraine zu richten. Andere Konfliktgebiete, die Aufmerksamkeit und Hilfe benötigen, wie Syrien, scheinen vergessen zu werden. Exzellenz, warum wird Ihrer Meinung nach nicht mehr über den Krieg in Syrien, über Ihr Land, über Aleppo, und Ihrem Ruf nach der dringend benötigten humanitären Hilfe berichtet?
Ich finde, Syrien befindet sich nicht mehr im Krieg. Ich meine, es gibt keine Brände, keine Gewalt, keine Bombardierungen und keine dramatischen neuen Nachrichten. Die Massenmedien, die Journalisten, die Reporter suchen nach aufregenden Situationen. Tatsächlich aber ist dort, wo die Regierung in Syrien anwesend ist, das Leben im Land normal und jeder von uns lebt gewissermaßen in Sicherheit, also sein Schutz ist gewährleistet.
Unser eigentliches Problem in der jetzigen Situation ist eher finanzieller Natur. Die Menschen sind hilfsbedürftig. Die Sanktionen, der Boykott und den Caesar Act machen unseren Menschen hier das Leben sehr schwer, es ist sehr schwer damit zu leben.
Ich befürchte, dass die ukrainischen Probleme und der ukrainische Krieg in gewisser Weise das Interesse der Massenmedien und der Journalisten vermindert hat. Sie sprechen nun über diese Situation und scheinen sich nicht mehr für unsere Situation zu interessieren. Wir verstehen das zwar, aber wir können es nicht gutheißen, dass unser Volk vergessen wird, denn unser Volk geht durch sehr harte Zeiten.
Die sogenannte „unabhängige“ Internationale Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien unter der Leitung von Paulo Pinheiro von den Vereinten Nationen in Genf sagte: „Syrien kann sich eine Rückkehr zu größeren Kämpfen nicht leisten, aber das ist es, worauf es zusteuern könnte.“ Kann Ihr Land aus Ihrer Sicht in Aleppo einen weiteren, härteren Krieg aushalten?
Es ist wichtig zu wissen, dass Syrien nicht daran interessiert ist, einen neuen Krieg zu entfachen. Ich bin sicher, dass Syrien, dass die syrische Regierung den Frieden sucht. Einen Frieden, der Syrien seine Rechte gibt und dem syrischen Volk zurückgibt, was ihm zusteht. Ich muss sagen, dass Syrien nicht so schwach ist, wie man es darstellt. Natürlich sieht man nicht einem neuen Krieg entgegen, einem Krieg, der für unser Land sehr schädlich wäre und vielleicht die Überreste zerstören könnte, die wir zu retten in der Lage waren.
Auf der anderen Seite haben wir festgestellt das die syrische Armee gut gerüstet ist. Die Russen und Iraner haben der syrisch-arabischen Armee reichlich Waffen gegeben, die Ausbildung durch die Sowjets wurde verbessert und die Erfahrungen des letzten Jahres haben sie in die Lage versetzt, sich jeder Aggression zu stellen. Ich würde sagen, dass Syrien kämpfen könnte, aber das wird uns etwas kosten, es wird sehr, sehr teuer sein und es wird das zerstören, was von dieser schönen Kultur übrig geblieben ist. Die Hälfte davon wurde im letzten Krieg bereits zerstört, und ein neuer Krieg könnte den Rest zerstören und uns ohne jegliche Sicherheiten und ohne die Möglichkeit, im Land zu bleiben und weiter darin zu leben, zurücklassen.
Durch den Ukraine-Krieg hat sich die Versorgungslage der Menschen in Ihrem Land sehr verschlechtert. Grund ist unter anderem der Preisanstieg für Lebensmittel und Rohstoffe. Exzellenz, wie gehen die Katholiken mit dieser extremen und stressigen Lebenssituation um? Geben Sie unseren Zuschauern einen kurzen Einblick in das Leben Ihrer Gemeindemitglieder in dieser harten Zeit.
Das Leben in unsere Diözese und für unser christliches Volk war in den letzten Jahren sehr hart. Während der Gewalt des Krieges wurden sie bombardiert und jetzt leiden sie unter den Sanktionen, Boykott und Caesar Act und sind in einer wirklich schlechten Verfassung. Die Belastung durch diese Sanktionen ist unerträglich. Auch die Inflation. Das syrische Pfund hat an Wert verloren. In den letzten zwei Jahren hat es das Zehnfache seines Wertes verloren. Ein Dollar war vor zwei Jahren 500 syrische Pfund wert, heute sind es 50 Pfund. Sie können sich vorstellen, wenn der Lohn eines Arbeiters oder eines Angestellten in syrischen Pfund bezahlt wird, wie sich das auf seine Familie auswirkt und unter welcher Last die Familie zu leiden hat.
Geichzeitig werden 80 Prozent der wichtigen Lebensmittel, die wir auf dem Mark kaufen, die importiert sind, in Dollar bezahlt. So müssen die Menschen bei einem enormen Verlust an Kaufkraft gegenüber dem Dollar, in syrischen Pfund bezahlen. Wenn man beispielsweise also 400.000 Pfund im Monat verdient, das ist für syrische Verhältnisse ein hohes Gehalt, so sind das jetzt nicht mehr als 80 Dollar. Und Sie können verstehen, dass 80 Dollar nicht genug sind, um eine vierköpfige Familie zu ernähren.
Auf der anderen Seite ist das christliche Leben, das Leben der Pastoren, das Praktizieren des Glaubens unserer Leute gut. Wir haben das Gefühl, dass sie näher an der Kirche sind. Sie gehen jeden Sonntag in die Kirche. Die Jugend hält sich in der Nähe ihrer Pfarreien auf. Die Kirchen und Pfarreien sind immer voll und unsere Schulen funktionieren, obwohl die Kosten hoch sind.
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Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.
Wir versuchen, Hilfe und Unterstützung von unseren Freunden in Europa und Amerika zu bekommen, aber es ist sehr, sehr wenig, was wir bekommen.
Ich frage mich manchmal, wie es möglich ist, dass die westlichen Länder und die Welt sich gegenseitig unterstützen und Milliarden von Dollar zahlen, um Waffen zu kaufen, um zu kämpfen und Menschen zu töten, aber um den Menschen zu helfen, nicht zu sterben und das zu finden, was sie zum Leben brauchen, und um unseren Familien zu helfen, in Ruhe und in Frieden zu leben, schicken sie nicht mehr als ein paar tausend Dollar. Natürlich danken wir all jenen, die uns mit diesem wenigen Geld helfen.
Aber manchmal appellieren wir an die Regierungen und Anwälte in Europa und fordern sie auf darüber nachzudenken und in Betracht zu ziehen, dass sie, wenn sie etwas weniger Geld für das gegenseitige Töten ausgeben, vielleicht etwas mehr für diejenigen ausgeben, die versuchen zu überleben und zu essen.
Wir brauchen Nahrung, wir brauchen Medikamente, wir müssen unsere Kinder in die Schule schicken. Wir brauchen viele Dinge, die das menschliche Leben angenehm und menschenwürdig machen.
Sie sagten in einem Ihrer Vorträge: „Wir sollten lernen, Freunde unserer muslimischen Brüder zu sein und ihnen helfen, sich uns zu öffnen.“ Glauben Sie, dass eine enge Beziehung zur muslimischen Gemeinschaft, der dominierenden Religion in Ihrem Land, in dieser Krise hilfreich ist?
Ich muss sagen, dass es wichtig ist, gute Beziehungen zu unseren Brüdern, den Muslimen, in Syrien oder anderswo zu haben, damit wir in Frieden mit ihnen leben und eine menschliche Gesellschaft aufbauen können, in der die Menschen glücklich sein können. Aber das Problem, das wir haben, ist nicht unser Leben mit den Muslimen. Unsere Probleme kommen von außerhalb unseres Landes. Es sind nicht die Muslime, die mit uns in Syrien leben, die unser Problem geschaffen haben. Und eine gute Beziehung zu den Muslimen hilft auch nicht gegen die Ungerechtigkeit, denn wir haben ja dieses gute Verhältnis. Aber die Sanktionen, Boykott, der Caesar Act, dieser Druck macht uns das Leben sehr schwer und das ist das Problem. Das Problem ist, dass der Westen aufhören sollte, uns zu bestrafen, uns zu sanktionieren und uns zu behindern zu leben und zu arbeiten.
Darf ich Sie herzlich bitten ein paar persönliche Worte direkt an unsere Zuschauer, Zuhörer und Leser zu richten und dann Ihren Segen auszusprechen?
Ich sage unseren Zuschauern und Zuhörern, allen Freunden, die diesen Fernsehkanal sehen, dass wir sie lieben, dass wir wünschen, dass sie uns verstehen, dass sie einen objektiven Blick darauf werfen, was in unserem Land passiert und vor sich geht.
Sie sollen aufpassen, dass sie nicht alle Nachrichten, die sie erhalten, als wahre Nachrichten oder als Fakten ansehen. Es gibt viele Fake News, und manchmal vergleiche ich das, was in diesen Tagen passiert, gerne mit dem Turmbau zu Babel, wo jeder redet und keiner etwas von dem versteht, was gesagt wird. Und die vielen Reden und die vielen Informationen, die Sie erhalten, da könnte man sicher 50 Prozent davon abschalten. Versuchen Sie bitte, das Geschehen in sachdienlichen Kanälen und durch seriöse Journalisten zu verfolgen, und lassen Sie nicht zu, dass Fake News verbreitet werden, die nicht der Realität entsprechen.
Wir leiden, wir akzeptieren das Leid, das wir haben, wir versuchen, unser Volk zu ermutigen, aber wir müssen auch verstanden werden, und wir brauchen die Zuschauer, um Druck auf Ihre Regierung, auf die Politiker auszuüben. Bitte sagen Sie ihnen, sie sollen Mitleid mit uns haben und uns in Frieden leben lassen.
Ich möchte Sie bitten, dass Sie alles tun, was möglich ist, um die Sanktionen, den Caesar Act, aufzuheben, damit unser Leben ein bisschen weniger elend wird. Ich bitte den Herrn, Sie alle zu segnen, alle Menschen, die mir zuhören, und alle Menschen, die die Botschaften dieses geliebten Kanals hören. Und ich wünsche mir, dass er wächst und wächst, dass er uns, all den Menschen, die ihn suchen, zur Verfügung steht. Und ich danke Ihnen vielmals.
Papst Franziskus hat sich sehr häufig zur Syrienkrise geäußert. So wies es im September in einer seiner Audienzen darauf hin, dass die Krise in Syrien nach wie vor eine der schwerwiegendsten weltweit sei, was die Zerstörung, den wachsenden humanitären Bedarf, den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruch und die Armut und den Hunger in einem schrecklichen Ausmaß betreffe.
Zum Abschluss der Audienz schenkte Papst Franziskus den Anwesenden einen Postkartendruck eines Gemäldes des italienischen Künstlers Massimiliano Ungarelli. Der Heilige Vater sagte: „Dieses Bild eines syrischen Vaters, der mit seinem Sohn flieht, entspricht meiner Meinung nach der Art und Weise, wie der heilige Josef nach Ägypten fliehen musste: Er ist nicht in einer Kutsche gefahren, nein. Er war auf diese Weise auf der prekären Flucht … Ich möchte es Ihnen anbieten, damit Sie beim Anblick dieses syrischen Vaters und seines Sohnes jeden Tag an diese Flucht nach Ägypten denken, an dieses Volk, das so sehr leidet.“
Original-Interview aufgenommen in Aleppo von Kameramann Carlos Rayess | Deutscher Sprecher: Jan Terstiege | Redaktion, deutsche Übersetzung, Moderation und Schnitt: Christian Peschken für EWTN Deutschland und CNA Deutsch. Eine Produktion von Pax Press Agency, Sarl.
Hinweis: Dieser Blogpost – sein Inhalt sowie die darin geäußerten Ansichten – sind kein Beitrag der Redaktion von CNA Deutsch. Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln zudem nur die Ansichten der jeweiligen Autoren wider. Die Redaktion von CNA Deutsch macht sich diese nicht zu eigen.
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