27. Mai 2023
In Deutschland haben insbesondere auf dem Synodalen Weg, aber auch in einer verfehlten Form von theologisch genannten Ansichten, wobei der gesellschaftliche Mainstream und die scheinbare „Lebenswirklichkeit“ als Orientierungspunkte dienten, zu einer Auflösung des christlichen Menschenbildes beigetragen. Ebenso wurde dort energisch und offensiv eine neue, eine ganz andere Sexualmoral gefordert.
In der großen Enzyklika „Evangelium vitae“ hat der heilige Johannes Paul II. bereits diese Phänomene und Symptome genau analysiert und substanziell kritisiert. Der Körper des Menschen werde nicht länger als „Zeichen und Ort der Beziehung zu den anderen, zu Gott und zur Welt, wahrgenommen“, sondern bloß materiell verstanden, als ein „Komplex von Organen, Funktionen und Kräften, die nach reinen Kriterien von Genuß und Leistung zu gebrauchen sind“. Gesehen wird der Mensch als eine Art Leistungsmaschine, nicht länger – wie auch der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant formulierte – als „Zweck an sich selbst“, sondern als Mittel zu einem beliebigen Ge- und damit unausweichlichen Missbrauch. Johannes Paul II. schreibt: „Infolgedessen wird auch die Sexualität entpersönlicht und instrumentalisiert: aus Zeichen, Ort und Sprache der Liebe, das heißt der Selbsthingabe und der Annahme des anderen, wie sie dem ganzen Reichtum der Person entspricht, wird sie immer mehr zu einer Gelegenheit und einem Werkzeug der Bestätigung des eigenen Ich und der egoistischen Befriedigung der eigenen Begierden und Instinkte.“
Während die Apologeten einer neuen kirchlichen Sexualmoral auftreten, als wollten sie die Menschen aus der Knechtschaft befreien, so ist das Gegenteil der Fall. Die Abkehr von der lebensfreundlichen Sexuallehre der Kirche findet statt. Eine lebensfeindliche Morallehre soll an deren Stelle treten: „So wird der ursprüngliche Inhalt der menschlichen Sexualität entstellt und verfälscht, und die zwei Bedeutungen, die das Wesen des ehelichen Aktes ausmachen, nämlich Vereinigung und Zeugung, werden künstlich getrennt: auf diese Weise wird die Vereinigung verraten, und die Fruchtbarkeit wird der Willkür des Mannes und der Frau unterworfen. Da wird die Zeugung zum ‚Feind‘, die es bei der Ausübung der Sexualität zu vermeiden gilt: wenn man sie zuläßt, dann nur deshalb, weil sie den eigenen Wunsch oder geradezu den eigenen Willen zum Ausdruck bringt, ‚um jeden Preis‘ ein Kind zu haben, jedoch nicht, weil sie totale Annahme des anderen und damit Offenheit für die Lebensfülle besagt, deren Träger das Kind ist.“
Zwischenmenschliche Beziehungen verarmen in dieser hedonistischen und materialistischen Sichtweise: „Die Ersten, die unter den Schäden dieser Verarmung zu leiden haben, sind die Frau, das Kind, der kranke oder leidende und der alte Mensch. An die Stelle des eigentlichen Kriteriums der Personwürde — nämlich das der Achtung, der Unentgeltlichkeit und des Dienstes — tritt das Kriterium der Leistungsfähigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit: der andere wird nicht für das anerkannt und geschätzt, was er ‚ist‘, sondern für das, was er ‚hat, tut und leistet‘. Das ist die Herrschaft des Stärkeren über den Schwächeren.“ Der Mensch wird auf ein Objekt reduziert und faktisch missbraucht. Was als neue sexuelle Befreiung verkauft wird – etwa durch den Lobpreis von Verhütungsmitteln –, ist ein Verrat am Evangelium.
Johannes Paul II. sieht weitere Konsequenzen. Die „Verfinsterung des Sinnes für Gott“ vollziehe sich „im Innern des sittlichen Gewissens“, im einzelnen Menschen, aber auch in der Gesellschaft, „nicht nur weil sie gegen das Leben gerichtete Haltungen duldet oder unterstützt, sondern auch weil sie durch die Schaffung und Festigung regelrechter ‚Sündenstrukturen‘ gegen das Leben die ‚Kultur des Todes‘ fördert“. Es entsteht zudem eine Relativierung oder Nivellierung der Unterscheidung von Gut und Böse: „Das sittliche Gewissen sowohl des einzelnen wie der Gesellschaft ist heute auch wegen des aufdringlichen Einflusses vieler sozialer Kommunikationsmittel einer sehr ernsten und tödlichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr der Verwirrung zwischen Gut und Böse in bezug auf das fundamentale Recht auf Leben.“ Deutlich kritisiert der Papst die „moralische Blindheit“, die in der Verwirrung des menschlichen Gewissens ihren Ausdruck findet, wenn „dieses leuchtende Auge der Seele (vgl. Mt 6, 22-23), ‚das Gute böse und das Böse gut‘ nennt (Jes 5, 20)“.
Doch es besteht Hoffnung, die „Kultur des Todes“, die teilweise wie eine Wiederkehr der schändlichen antiken Lustbarkeiten und des zügel- wie sittenlosen Lebens im alten Rom und in der hellenischen Welt anmutet, zu überwinden. Niemals würde es gelingen, so Johannes Paul II., „die Stimme des Herrn zu ersticken, die sich im Gewissen jedes Menschen vernehmen läßt: von diesem inneren Heiligtum des Gewissens kann immer wieder ein neuer Weg der Liebe, der Annahme und des Dienstes für das menschliche Leben seinen Ausgang nehmen“. Darauf dürfen wir hoffen und dafür müssen wir uns heute einsetzen. Es gilt darum, sich auf die Morallehre der Kirche zu besinnen, die im Evangelium Jesu Christi wurzelt, und nicht diese durch Neuerfindungen zu konterkarieren. Die Enzyklika von Johannes Paul II. schenkt gerade im Bereich der Sexualmoral eine verlässliche Orientierung gegen die Versuchungen des Hedonismus in der Postmoderne. Es bleibt festzuhalten: Die Morallehre der Kirche muss und sollte nicht „weiterentwickelt“ und verändert, sondern glaubwürdig verkündet werden. Es gibt noch immer – und das dürfen wir nicht vergessen – Gut und Böse. Auch wenn einst niemand mehr an diese Unterscheidung glauben sollte, wird sie fortbestehen bis ans Ende der Zeiten.
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