17. Juni 2023
Das Leben, so legt Johannes Paul II. in „Evangelium vitae“ dar, trage „unauslöschlich eine ihm wesenseigene Wahrheit in sich“. Er schreibt: „Der Mensch muß sich, wenn er das Geschenk Gottes annimmt, bemühen, das Leben in dieser Wahrheit zu erhalten, die für jenes wesentlich ist. Die Abwendung von ihr ist gleichbedeutend mit der eigenen Verurteilung zu Bedeutungslosigkeit und Unglück, was zur Folge hat, daß man auch zu einer Bedrohung für das Leben anderer werden kann, sobald die Schutzdämme niedergerissen sind, die in jeder Situation die Achtung und Verteidigung des Lebens garantieren.“
Dies erfahren wir heute auf besondere Weise im alten Europa, das seine christlichen Wurzeln verrät oder leugnet, wenn es den Lebensschutz relativiert und die Abkehr hiervon als gesellschaftlichen Fortschritt feiert. Das Gesetz des Herrn stehe im Dienst des Lebensschutzes und offenbare die Wahrheit, in der das Leben seine volle Bedeutung erhalte. Der Mensch sei für das Gute geboren: „Das Gute, das erfüllt werden soll, kommt nicht wie eine beschwerende Last zum Leben hinzu, weil der Grund des Lebens selbst ja das Gute ist und das Leben nur durch die Erfüllung des Guten aufgebaut wird. … Nur wenn man sich der Fülle der Wahrheit über Gott, über den Menschen und über die Geschichte öffnet, erstrahlt das Wort ‚du sollst nicht töten‘ wieder als Gut für den Menschen in allen seinen Dimensionen und Beziehungen.“ Der Mensch solle das Gesetz Gottes in allem befolgen, nicht also sich auf der „Suche nach alternativen Lebensprojekten zum Plan Gottes“ verlieren. Mit Blick auf Jesus Christus vermag der Mensch den „eigentlichen und tiefsten Sinn des Lebens zu begreifen und zu verwirklichen: nämlich eine Gabe zu sein, die sich in der Hingabe erfüllt“. In Christus werde das Gesetz zur Frohen Botschaft von der „Herrschaft Gottes über die Welt“. Wer dem Herrn nachfolgt, wählt die Selbsthingabe zu den Schwestern und Brüdern: „Es ist das Gesetz der Freiheit, der Freude und der Seligkeit.“
Der heilige Johannes Paul II. verweist auf das Kreuzesopfer Christi. Am Karfreitag werde der Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen sichtbar: „Auch wir befinden uns heute inmitten eines dramatischen Kampfes zwischen der ‚Kultur des Todes‘ und der ‚Kultur des Lebens‘. Aber von dieser Finsternis wird der Glanz des Kreuzes nicht verdunkelt; ja, dieses hebt sich noch klarer und leuchtender ab und offenbart sich als Mittelpunkt, Sinn und Vollendung der ganzen Geschichte und jedes Menschenlebens.“
Der ans Kreuz geschlagene Herr wird erhöht und „im Augenblick seiner äußersten Schwachheit wird die Identität des Gottessohnes offenbar: am Kreuz offenbart sich seine Herrlichkeit!“ Wer auf das Kreuz Christi sieht, auf das Sterben Jesu, der erkenne den „Sinn des Lebens und des Todes jedes Menschen“: „Das von Jesus gewirkte Heil ist Geschenk des Lebens und der Auferstehung. Während seines Erdendaseins hatte Jesus auch Heil geschenkt, indem er alle heilte und segnete (vgl. Apg 10, 38). Aber die Wunder, die Krankenheilungen und selbst die Auferweckungen waren Zeichen für ein anderes Heil, das in der Vergebung der Sünden, das heißt in der Befreiung des Menschen von der tiefsten Krankheit, und in seiner Erhebung zum Leben Gottes selbst besteht. Am Kreuz erneuert und verwirklicht sich in seiner ganzen, endgültigen Vollendung das Wunder von der von Mose in der Wüste erhöhten Schlange (vgl. Joh 3, 14-15; Num 21, 8-9). Auch heute begegnet jeder in seiner Existenz bedrohte Mensch, wenn er auf den blickt, der durchbohrt wurde, der sicheren Hoffnung, Befreiung und Erlösung zu finden.“
Als der römische Soldat die Lanze in die Seite Jesu stößt, fließen Blut und Wasser heraus – die Sakramente: „Es ist das Leben Gottes selbst, das dem Menschen zuteil wird. Es ist das Leben, das durch die Sakramente der Kirche — deren Symbole sind das aus der Seite Christi geflossene Blut und Wasser — ständig den Kindern Gottes mitgeteilt wird, die so das Volk des neuen Bundes bilden. Vom Kreuz, der Quelle des Lebens her entsteht das ‚Volk des Lebens‘ und breitet sich aus.“ Am Kreuz erreicht der Herr den „Gipfel der Liebe“ und verkündet durch sein Sterben, „dass das Leben seinen Mittelpunkt, seinen Sinn und seine Fülle erreicht, wenn es verschenkt wird“. Johannes Paul II. sieht darin das Beispiel für den Weg der Hingabe, um den „Sinn und die Bestimmung unseres Daseins in ihrer Wahrheitsfülle zu verwirklichen“. Johannes Paul II. wählt so Worte des Gebetes: „Wir können das fertigbringen, weil Du, o Herr, uns das Beispiel gegeben und uns die Kraft deines Geistes mitgeteilt hast. Wir können das fertigbringen, wenn wir jeden Tag mit Dir und wie Du, dem Vater gehorsam sind und seinen Willen tun. Laß uns daher mit bereitem und selbstlosem Herzen jedes Wort hören, das aus dem Mund des Herrn kommt: so werden wir lernen, nicht nur das Leben des Menschen ‚nicht zu töten‘, sondern es in Ehren zu halten, zu lieben und zu fördern.“ Gerade heute ist die Morallehre der Kirche, die dem Evangelium Jesu Christi folgt, angefochten und bedroht. Wir sind von Stürmen des Säkularismus umgeben. Aber der Weg der Hingabe steht uns offen. So können wir Zeugnis ablegen für die Liebe Gottes und dem Weg der Kirche aller Zeiten und Orte treu bleiben. Wir müssen die kirchliche Morallehre in diesem Sinne nicht zeitgeistlich weiterentwickeln – das wäre auch wider die Weisung des Herrn –, aber wir sind dazu bestellt, sie glaubwürdig und weltoffen zu leben und zu verkünden. Das tun wir auf gute Weise, wenn wir das göttliche Geschenk des Lebens achten und ehren – und lieben.
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