31. März 2024
Erzähle mir Ostern! Das ist so schwer. Ostern, also das gänzlich Unerwartete, ist so schwer zu fassen, das können wir uns kaum ausmalen. Da stoßen auch Malbegabte an ihre Grenzen. Denn dieses Ereignis leidet unter göttlicher Überbelichtung. Die Wucht des Unfassbaren ist zu hoch für uns, das Gegenlicht zu blendend. Vieles bleibt unscharf.
Die Auferstehung Christi kann nicht erzählt werden. Im Augenblick der Auferweckung des Gekreuzigten war niemand von uns dabei. Die Kirche hat das Nachsehen; die Jünger, ja und selbst die tapferen Salbfrauen kommen zu spät. Der Auferweckte ist uns voraus. Das Unsägliche geschah in aller Herrgottsfrühe, ganz tief im Verborgenen und so leise, wie eben Gott handelt.
Ostern kommen wir immer zu spät, können nur noch ins Leere fassen. Ihn selbst aber sehen wir nicht im Grab. Er entzieht sich unseren Blicken und Zugriffen. Er fehlt uns. Er ist nicht im Bilde und hat das Weite gesucht. ER müsste sich uns anderswo zeigen. Die Gegenwart des Auferweckt-Gekreuzigten können wir nur glauben. Der Triumphalismus des Osterliedes „Das Grab ist leer, der Held erwacht“ passt kaum zum Ostermorgen. Das Wunder kommt auf leisen Sohlen auf uns zu. Es wird Ostern, auch wenn uns so wenig nach Ostern zumute ist. Wie also einen Zugang finden zu diesem schön-schweren Fest?
Vielleicht, indem wir uns einem zurückhaltenden Osterbild zuwenden, den Zugang durch die offene Grabhöhle durchschreiten und ohne Schwellenangst eine Grenzüberschreitung wagen. Unser Suchweg nach Jesu – mündet er im leeren Grab? Wenn wir uns in das zunächst nicht trostreiche Bild vertiefen, das ich Ihnen und Euch in diesem Jahr anbiete, dann befinden wir uns – im Grab und müssen mit der Abwesenheit Christi fertig werden. Was für ein seltsamer Aufenthaltsraum! SEIN Grab.
Ein menschenleeres Bild. Wir blicken aus einer ungewohnten Perspektive in den Ostermorgen, aus dem dunklen Grabinneren in das grelle Licht, das den Golgothahügel umstrahlt. Das Loch zur Höhle wird zum Portal. Draußen herrscht kein Zwielicht mehr; draußen ist es gleißend hell. Es ist schon nicht mehr Morgengrauen.
Die „Herrgottsfrühe“ liegt schon hinter uns. Wir werden geblendet vom Gegenlicht eines übernatürlich hellen Tages. Wir befinden uns auf dem Friedhof vor den Toren Jerusalems, in der Grabkammer mit einer leeren Ablage. Wir dringen ein in diesen anstößigen Ort, als wollten wir uns „am ersten Tag der Woche“ (Mk 16,1) mit eigenen Augen davon überzeugen, dass das Grab Jesu leer ist. Anders als auf unseren Friedhöfen sind die vorderorientalischen Gräber begehbar. Ungehindert haben wir Zugang zu einer Tabuzone. Hier ist niemand als wir. Es war die Stätte der seltsamen Osterpredigt eines Deute-Engels. Innerhalb des Grabes sagt der Engel den „Leichensalbfrauen“ (Peter Handke), die einen „Mumiendienst“ (Franz Kamphaus) vollziehen wollten: „Siehe, den Ort, wo sie ihn hingelegt hatten!“ (Mk 16,6).
Die drei Frauen wurden nicht genötigt, das Heilige Grab zu besichtigen; wir hingegen sind im Bilde und besuchen dieses Totenreich. Was haben wir hier verloren, was haben wir hier zu suchen, an der Endstation, dem Zielort eines Menschenlebens? Die Frage, wie wir da hineingelangen können, die Sorge, wer uns den Stein weg wälzt, hat sich erübrigt.
Der Stein ist längst ins Rollen gekommen, ungehindert konnten wir diese Felshöhle betreten. Es ist Tag der offenen Tür! „Seht, der Stein ist weggerückt, nicht mehr, wo er war, nichts ist mehr am alten Platz, nichts ist, wo es war“, heißt es in einem modernen Osterlied von Lothar Zenetti. Der wie durch Zauberhand weggewälzte Stein – ein Zeichen dafür, dass Ostern etwas Stein- und Weltbewegendes geschehen ist. Zwar ist der Stein weg, doch rechte Osterfreude stellt sich nicht ein. Niemand hier, kein Engel gibt uns Klarheit. Eine seltsame Perspektive, eine offene Geschichte. Ich liebe das leere Heilige Grab von Jerusalem; der Grabeskult ist mir nicht fremd. Paradox: Ich will da rein, ich liebe das Grab. Es zieht mich an, immer wenn ich mich in Jerusalem in der Grabes- und Auferstehungskirche (der Anastasis) in die lange Warteschlange einreihe und mich endlich mit klopfenden Herzen hineinwage in das Denkmal des Osterglaubens, in das „Heilige Grab“. Unweit davon, in einer unscheinbaren Seitenkapelle, befindet sich das sogenannte „Grab des Josef von Arimathäa“.
Diese dunklen Felsenspalten lassen noch heute ahnen, dass Jesus wirklich in einem Felsengrab inmitten des aufgegebenen Steinbruchs beigesetzt wurde. Dieser Joseph hat Jesus sein eigenes Grab zur Verfügung gestellt und den Leichnam des Herrn in Leinentücher gehüllt.
Das kurze Verweilen im Heiligen Grab und im düsteren Felsengrab in der Nähe erschüttert selbst den unerschütterlichen Pilger. Was habe ich in einer Grabeskirche zu suchen, und welche Glaubenserfahrungen verspreche ich mir von dieser Expedition ins Totenreich? Wer erlaubt mir einzutreten? Ist der Ostertag der Tag der offenen Tür? Das Bild wirkt leicht unscharf. Wir stehen im Gegenlicht, werden geblendet von einem übernatürlichen Glanz, von einer Überlichtung, die uns nicht klar sehen lässt. Selbst die dunkle Golgotha-Höhe (die „Stätte des Totenkopfs“), auf der Jesus liquidiert wurde, ist umstrahlt von diesem Verklärungslicht.
Vielleicht ist „Unschärfe“ überhaupt ein Schlüsselwort, um unseren Eindruck vom Osterwunder zu beschreiben. Das diesjährige Ostermotiv lädt uns ein, mutig in die Grabhöhle Jesu hineinzugehen und von dort aus hinauszublicken in den ersten Tag der Woche. „Nichts Neues unter der Sonne“ (Koh 1,9), klagt der alttestamentliche Prediger. Einspruch! Wenn das wahr wäre, was wir an Ostern zu hören bekommen, dann wäre alles neu unter der Ostersonne! „Licht der Liebe! Scheinest du denn auch Toten, du goldnes!“, dichtet Friedrich Hölderlin. Wenn Ostern wahr wäre, dann läge Morgenglanz der Ewigkeit auf dieser Welt; ein verheißungsvolles Licht, unsagbar schön und fremd! Die Griechen sagen „Doxa“, herrlicher Glanz. Das Grab - offen und leer, der Held – erwacht? Blinzelnd müssen wir uns an das Dunkle dieser Todeshöhle gewöhnen. Uns kommen hier eher trübe Gedanken. Wir grübeln. Was ist hier passiert? Ein Einbruch? Ein Ausbruch? Kein deutender Engel steht hilfreich bereit, der uns dieses Rätsel lösen könnte. Unser Verstehen bleibt blockiert. Müssen wir uns selbst einen Reim machen auf diese mysteriöse Szenerie? Oder davonlaufen? Denn eines steht fest: „Er ist nicht hier!“ (Mt 28,6a). „Hic non est!“ (Mk 16,6).
Das leere Grab ist kein freudiges Ostermotiv, es war für die Frauen sicherlich kein Trost. Es machte sie sprachlos, ratlos. Sie hatten am Abend des Karfreitags „den Ort gesehen, wohin er gelegt worden war.“ (Mk 15,47; Mk 16,6). Und nun? Ein Leichnam ist abhandengekommen, dem sie mit Salben Gutes antun wollten, um ihn dann endgültig loszulassen. Nicht einmal die Leiche blieb den Frauen, die ihn trauernd suchten. Nicht zu fassen! Wohin hat sich der geliebte Jesus verflüchtigt?
Der Leerraum markiert einen Verlust. Den Frauen ist nicht nur der lebendige Jesus gestorben, selbst der Leichnam kam abhanden. Alles weg! Die suchenden Frauen greifen ins Leere und können ihren Jesus nicht einmal salben. Ein untröstlicher Augenblick. Was ist hier passiert? „Keine Erdstöße, sondern Himmelsbeben“ (Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, München 1997, S. 182). Eine übermenschliche Gewalt hat die Grabkammer geöffnet und die todsichere Ordnung dieser Welt durcheinandergebracht. Etwas Welterschütterndes muss hier passiert sein.
Wenn Ostern wahr ist, dann ist es eine Zeitenwende, ein „Zeitbeben“. Hermetisch Abgeriegeltes wird durchlässig; Grabsteine geraten ins Rollen; der Weggesperrte ist fort. Ist ein solcher Stein-Bruch schön oder schrecklich? Sollen wir staunen und vor Freude Halleluja singen, oder sollen wir uns mit Furcht und Zittern von diesem ‚Andersort‘ davonmachen? Sind wir im Bilde?
Die einzig plausible Erklärung für dieses unbeschreibliche Ereignis: In diesem Totenhaus muss - Gott gehandelt haben. Über Nacht ist alles anders geworden. Ostern macht nur Sinn, wenn es Gott gibt. Auferweckung Jesu – das ist die reine Tat Gottes, seine ureigene Herzensangelegenheit! Nur Gott kann so ganz neu anfangen! Ja, wir wissen es und haben es als Theologen oft genug gehört: das leere Grab allein ist kein Beweis für die Wahrheit der Auferweckung des Gekreuzigten. Doch mein Glaube kann auf das leere Grab nicht verzichten. Ostern feiern wir nicht im Grab. ER müsste sich selbst anderenorts zeigen. Es treibt ihn ins Freie. Darum: Ortswechsel, eine Kehrtwende ist angesagt. Das leere Grab allein wäre eine Sackgasse, es kann nur Wendepunkt und Transitort sein. Der Engel sagt den Frauen: Hier seid ihr am falschen Ort. Haltet euch nicht zu lange hier auf! Hier bekommen wir den Lebendigen nicht zu sehen. „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ (Lk24,5)
In dieser Höhle könnte ich nur die deprimierende Wahrheit feststellen: Fehlanzeige! Er ist nicht hier. Also: Mach dich davon, dreh dich um, geh ins Licht, nutze die Graböffnung als Tür ins Freie, suche das Weite, suche seine Spuren, suche ihn anderswo. Wagt die Nachfolge! Vielleicht werdet ihr ihm draußen plötzlich und unerwartet in die Arme laufen und erlebt ein unverhofftes Wiedersehen. Vielleicht werden wir diejenigen sein, die den Auferweckten zum ersten Mal sehen und seine unentrinnbare Nähe spüren. Er vor uns - gefüllt mit Gottesleben. ‚Draußen‘ steht er uns bevor. Wir können ihn nie in unseren Besitz bekommen und in Mausoleen einmauern. Er selbst muss an uns vorübergehen und sich uns zeigen.
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Die Kirche kann ihn nicht hervorzaubern. Und vor allem kann sie ihn nicht ersetzen; sie kann ihn nur staunend bezeugen. Nehmen wir uns noch einmal in dieser Grabhöhle wahr. Im Grab herrscht keine gähnende Leere. Wir sind dort - als Zeuginnen und Zeugen eines für uns unerklärbaren Ereignisses. Ein Steinsarkophag fehlt. Doch zurück bleibt (nach dem Evangelisten Johannes 20, 5 und 6; vgl. 19,40 und Lk 24,12) etwas Stoffliches, ein Textil auf der Grabbank, das zur Umhüllung des Leichnams notwendige und nun überflüssige Leinentuch. Der, welcher sich in dieser ganz gewöhnlichen Grabhöhle - ohne Ausschmückung oder Inschriften - befand, war nur flüchtig hier und ließ das Leinentuch beinahe so lässig zurück, wie wir, wenn wir am Morgen das Bettlaken von uns werfen, das Bett verlassen und in den neuen Tag auferstehen.
Als Jesus das Weite suchte, trug er nicht dieses wallende weiße Leichentuch. Jesus war nicht zu halten; der Tod griff nach ihm, in seinen Händen bleibt nur dieses Tuch (griech. sindon, vgl. Mk 15,46; Mt 27,59; Lk 23,53; Joh 19,40f). Als das „Turiner Grabtuch“ wird diese Christusreliquie heute verehrt. Was trug Jesus dann, wenn er dieses Linnen zurückließ? Von wem wurde Er neu „überkleidet“ (2 Kor5,2ff)? Das Leinentuch ist ein geheimnisvolles Relikt, ein ‚Zeichen‘, etwas buchstäblich Zurückgebliebenes, Abgeworfenes, eine Spur des abwesenden Christus, ein „heiliger Rest“. Als sei dieses ‚Schwellengebiet‘ eine Schlafhöhle; als habe sich hier eine verpuppte Raupe zum Schmetterling verwandelt und habe die leere Hülle zurückgelassen. Als sei jemand aufgestanden und habe nur einen Lichteindruck hinterlassen. Mysteriös! Das leere Grab allein bleibt ein eher negatives Zeichen, vieldeutig, rückwärtsgewandt, missverständlich. Fragen bleiben offen. Das ist kein Bild einer geschenkten Nähe Jesu, nicht einmal ein Trauerort. Das leere Grab ist ein stummer und mehrdeutiger Zeuge der Auferweckung Jesu; es weckt vielleicht unsere Neugier, aber keine Osterfreude, keinen ‚Evangelisierungsschub‘. Die Leere ist ein Ausdruck des „Du fehlst uns, Jesus!“
Mit dieser Leerstelle allein kann unser Glaube nichts anfangen. Das Bild bedeutet alles oder nichts. Es macht uns „auferstehungssehnsüchtig“. Da muss noch mehr kommen ... Bleibt nicht zu lange im Bilde, im Grab! Lauft ihm nach, sucht ihn in eurem ‚Galiläa‘. „Dort werdet ihr ihn sehen“ (Mk 16,7), in einer Welt, die fortan im Osterlicht liegt. Feiert ihn draußen, erzählt von ihm, lasst ihn an unerwartetem Ort an euch heran! Das leere Grab alleine wäre unwichtig, und wir würden unnötigerweise dort verweilen, auf Kosten dessen, was wirklich wichtig ist. Das wäre das Osterwunder: Jesu leise Annäherung draußen, sein Lockruf, der uns im Freien, in meinem Leben ereilt. ER hat sich uns entzogen und er kommt uns entgegen. Eine offene Geschichte der Jesussuche beginnt am offenen Grab. Wir vermissen dich so!
Lassen wir das Grab hinter uns, treten wir hinaus ins Offene, denn Ostern ist ein offenes, ein auch uns öffnendes Geheimnis. Brechen wir auf ins Licht – überwältigt vom Glanz, staunend über das Unfassbare, in der Gewissheit, dass sein Grab nicht Endstation ist, dass Er draußen auf mich wartet und darauf hofft, entdeckt zu werden. Hoffentlich entdecken wir draußen – auch in der frühlingshaften Schöpfung - Spuren der Erlösung. Hoffentlich treffen wir Ihn. Weil es Ostern gibt, darum hoffen wir weit über unser Grab hinaus, darum werden auch wir Christus in die Arme laufen. Ja, es ist ‚Vorübergang des Herrn‘!
Pfarrer Kurt-Josef Wecker ist Seelsorger in der Pfarr- und Wallfahrtsgemeinde St. Clemens Heimbach und bischöflicher Beauftragter für Wallfahrtspastoral in der Diözese Aachen.
Hinweis: Dieser Gastbeitrag ist kein Beitrag von CNA Deutsch. Weder Form noch Inhalt noch die geäußerten Ansichten und Formulierungen macht sich die Redaktion von CNA Deutsch zu eigen.