30. Januar 2019
Sexuelle Gewalt, somit sexueller Missbrauch, ist in allen Varianten eine Straftat, von der Päderastie bis hin zur Vergewaltigung. Grauzonen gibt es nicht. Die Vertuschung von Straftaten ist ebenfalls strafbar und erfordert eine strafrechtliche Verfolgung. Was aber ist und wo beginnt spiritueller Missbrauch? Woran lässt sich ein solcher Missbrauch erkennen? "Missbrauch ist nicht das Lächeln. Missbrauch ist das Lächeln, den anderen zu etwas zu bringen, was dieser eigentlich nicht will. Missbrauch ist nicht das emotionale Prayerfestival. Missbrauch ist es, mit dieser Emotionalität Druck auf die Anwesenden auszuüben, dass sie ihr Leben in eine bestimmte Richtung verändern sollen." Doris Wagners Buch, am 28. Januar 2019 erschienen, stimmt nachdenklich, sehr nachdenklich. Ihre Analyse gilt Abhängigkeitsverhältnissen, die in der römisch-katholischen Kirche bestehen, und reicht weit darüber hinaus.
Wir erinnern uns: P. Klaus Mertes SJ informierte am 28. Januar 2010 als Rektor des Berliner Canisius-Kollegs die ehemaligen Schüler der 1970er- und 1980er-Jahre sowie die Öffentlichkeit über Missbrauchsvorfälle – wie damals etwa die "Welt" berichtete.
Der Jesuit sprach von Formen des "Wegschauens". Dieses beginne oft dort, "wo man sich entscheidet, nicht wissen zu wollen, obwohl man spürt, dass man eigentlich genauer hinschauen sollte". Er benannte eine "übergriffige Pädagogik", eine "übergriffige Seelsorge" und "Abhängigkeitsbeziehungen". Im Vorwort zu diesem Buch kennzeichnet Mertes die "spiritualisierte Gewalt" als "vernichtende Gewalt". Zugrunde liege "Machtmissbrauch", der traumatisierend auch dann wirke, wenn "sexualisierte Gewalt" ausbleibe.
Was ist Spiritualität?
Das Problem ist real und gravierend, auch wenn die Plausibilität der Analysen und Überlegungen der Autorin zumindest partiell fraglich erscheint – etwa ob die Strukturen der Kirche und die bestehenden Formen der Liturgie anfälliger für spirituellen Missbrauch sind als eine scheinbar liberale gesinnte, aufgeklärte Haltung zu Spiritualität im Raum von Kirche und Theologie. Darüber müsste kontrovers diskutiert werden. Die Autorin, Doris Wagner, arbeitet mit einem breit gefassten Begriff von Spiritualität. Sie setzt auch eine allgemein menschliche Sehnsucht, ein subjektives Bedürfnis nach spirituellen Erfahrungen voraus und schildert Meditationstechniken, die einen Bezug zur Dimension des Religiösen aufweisen. Die Grundlage hierfür bildet ihrer Auffassung nach das Sinnbedürfnis des Menschen. Dass der Markt der Spiritualitätsangebote reichhaltig ist – eine spezifisch christliche Form stellt etwa das "Herzensgebet" dar – mag unbestritten sein. Aber verspürt ein Mensch deswegen von sich aus eine Affinität zu dieser unbestimmt bezeichneten Vielfalt "katholischer Spiritualität"? Nun, ich kann als einfacher römisch-katholischer Christ nur sagen: Ich nicht.
Der "Schatz des Katholischen", schreibt Doris Wagner, werde ständig bereichert: "Jeder und jede darf und muss Sorge dafür tragen, dass die eigene Spiritualität möglichst gesund ist und dass sie nicht als Vorwand dient, anderen Menschen Schaden zuzufügen." Spiritualität versteht sie als eine Art "Lebensbewältigungstechnik", die zur Stabilisierung der Persönlichkeit beitrage. Flackerndes Kerzenlicht und Klangschalen machen jedoch nicht zwangsläufig glücklich. Die "Sinnhaftigkeit unseres Tuns" werde durch Spiritualität einsichtig. Die Erfahrung von "Sinnlosigkeit", so die Autorin, könne zu Depressionen führen.
Verkannt werden hier die pathologischen Formen. Depression, als Erkrankung, ist mitnichten Ausdruck eines Defizits im Bereich Spiritualität. "Spiritualität" sei die "Fähigkeit, mit der wir uns vor Sinnlosigkeit schützen". Frau Wagner meint, es gebe Menschen mit einer "relativ bescheidenen spirituellen Ausstattung" und einer "eingeschränkten spirituellen Handlungsfähigkeit". Diese kämen aber "dennoch gut durchs Leben" – vor allem wenn "vor Erfahrungen verschont bleiben, die ihre spirituellen Möglichkeiten übersteigen". Mit einem persönlichen Beispiel gesagt: Meine Großeltern und meine Eltern, Kinder noch, haben das NS-Regime, den Bombenkrieg und die Vertreibung erlebt, durchlitten und überlebt. Mein Doktorvater hoffte, wegen halbjüdischer Abstammung in einem NS-Arbeitslager interniert, noch immer auf den gnädigen Gott. Sie alle hatten gewiss kein Bedürfnis nach Spiritualität. Viele aber orientierten sich an einer klassischen, auch traditionellen Frömmigkeit, zu der das Vaterunser, die heilige Messe, das Stundengebet und der Rosenkranz gehörten, Gebetsformen, die vielleicht gerade deswegen Halt schenken konnten, weil sie nicht ausgedacht oder selbstgestaltet waren. So ähnlich dürfte es heute verfolgten Christen, in Syrien, im Irak und anderswo, ergehen. Der unbestimmte Begriff Spiritualität, mit dem Doris Wagner arbeitet, müsste gesondert – vor allem auch religionswissenschaftlich – geklärt werden.
Risiken geistlicher Begleitung
Unabhängig hiervon – und das gelingt der Autorin sehr gut – werden verstörende Dominanzphänomene beschrieben und reflektiert. Dies gilt etwa für die Rolle "geistlicher Begleiter" im weiten Feld der Pastoral, die grenzüberschreitend in die persönliche Sphäre von Suchenden und begleiteten Personen eingreifen. Weil sie ihre "Interventionen" nicht reflektieren, beeinträchtigen sie die "spirituelle Selbstbestimmung" von anderen. Kurzum, sie werden übergriffig.
Doris Wagner schreibt ganz richtig: "Niemand darf spirituelle Ressourcen oder Praktiken nutzen, die ihn selbst oder andere Menschen verletzen. Das gilt im Extremen wie im scheinbar Harmlosen und Gutgemeinten."
Skizziert wird die Ambivalenz des "geistlichen Führers", der einerseits Wertschätzung vermittelt, andererseits aber den Menschen "manipuliert und ausbeutet". Frau Wagner stellt Formen der "toxischen Spiritualität" vor. Sie spricht "in sich geschlossene Gemeinschaften" an, die ein "elitäres Weltbild" und eine "ideologische Selbstüberhöhung" praktizieren, mit "apokalyptischen Weltbildern" arbeiten. Gewiss lassen sich manche Menschen von spirituellen Fantasien verführen, wenn Wetterphänomene "irgendwie" als "Zeichen für Gottes Wohlwollen" gedeutet, "totalitäre Glücksnarrative" vorgestellt und "Selbstaufopferungs-Ideale" glorifiziert werden. Es entstehen dann auch Formen einer spirituellen – so möchte ich sagen – Sklavenhaltergesellschaft. Eine Nebenbemerkung hierzu: Die Entzauberung von geistlichen, geistigen oder spirituellen Lehrmeistern ist dringend erforderlich, auch in der Philosophie.
Warum wird bis heute etwa der griechische Philosoph Platon als Begründer der abendländischen Philosophie verehrt, idealisiert und verklärt – trotz der bekannten Formen des Machtmissbrauchs gegenüber Schülern, trotz der von ihm exzessiv betriebenen Päderastie? Aufklärung tut Not. Doris Wagner sieht den spirituellen Missbrauch analog zur Gewalt in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen: "In gewalttätigen Beziehungen bringt ein Partner den anderen komplett unter seine Kontrolle. Es geht ihm darum, Macht über den anderen auszuüben. Er kontrolliert ihn, isoliert ihn von seinem sozialen Umfeld, überwacht seine Kommunikation, setzt ihm klare Grenzen, macht ihm teils absurde Vorschriften, ist krankhaft eifersüchtig, erträgt keinen Widerspruch, schreibt ihm bis ins Detail vor, was er zu tun und zu lassen hat, und reagiert bei Grenzüberschreitungen mit brutaler Gewalt."
Was die Kirche feiert
Mit sehr vielen, auch sehr anschaulichen Beispielen erläutert Doris Wagner die Formen des spirituellen Missbrauchs. Ein Seelsorger müsse sich fragen: "Wer andere Menschen begleiten, ohne sie zu manipulieren, der sollte sorgfältig auf die eigenen Emotionen achten: Was empfinde ich, wenn ein von mir begleitete Person ein von mir gemachtes Angebot zurückweist? Was empfinde ich, wenn sie mir mit leuchtenden Augen zuhört? Bin ich selbst innerlich frei gegenüber den Reaktionen der von mir begleiteten Menschen und kann ich sie frei lassen?" Vollkommen richtig: Jede Form von Distanzlosigkeit in seelsorglichen Beziehungen sollte vermieden werden. Wer dazu außerstande ist, eignet sich nicht für seelsorgliche Aufgaben aller Art.
Meiner Überzeugung nach ist es zudem nicht Aufgabe der Kirche, spirituellen Bedürfnissen und Sehnsüchten zu entsprechen und diese auch noch zu befriedigen. Die Kirche ist auch weder als eine psychotherapeutische Einrichtung noch als eine Anstalt für esoterische Praktiken gegründet worden. Darum könnte zur geistlichen Erneuerung der Kirche ein Gedanke hilfreich sein. Der Mailänder Erzbischof Carlo Maria Kardinal Martini äußerte vor vielen Jahren gegenüber dem Agnostiker Umberto Eco: "Die Kirche befriedigt keine Erwartungen, sie feiert Geheimnisse."
Das Buch von Doris Wagner: "Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche" ist im Verlag Herder erschienen und hat 208 Seiten.
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Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998 bis 2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte zahlreiche Bücher im Verlag Herder. Gegenwärtig arbeitet er an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Er publiziert regelmäßig in den "Mitteilungen des Instituts Papst Benedikt XVI.".
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