16. Juli 2020
Als "der Cheef" für immer nach Hause gegangen war, erinnerten sich viele Freunde der Kirchenmusik, in Regensburg und anderswo, einfach gläubige Katholiken, Musiker und natürlich Nachbarn mit großer Dankbarkeit an den emeritierten Domkapellmeister und älteren Bruder von Benedikt XVI. Christian Heiß, seit 2019 Domkapellmeister und ehemaliger Domspatz von 1977 bis 1986, dankte für die "unvergleichliche Hingabe an die Kirchenmusik", für seine beständige Sorge um die "Regensburger Domspatzen". Besonders erwähnte er seine Bescheidenheit: "Mein letzter Besuch bei ihm vor wenigen Tagen am Krankenbett bleibt mir unvergessen. »Das bist jetzt du und nicht mehr ich«, sagte er zu mir, als ich ihn wie gewohnt mit »Herr Domkapellmeister« ansprach. Danke für alles!" Sein Nachfolger Roland Büchner sagte über den "väterlichen Emeritus": "In jeder Begegnung mit Georg Ratzinger spürte man die große Verbundenheit mit den Domspatzen, die dreißig Jahre lang sein Lebensinhalt geworden sind. Er verkörperte die Verbindung von Priester und Musiker in idealer Weise, war Vorbild und Orientierung für Generationen von Domspatzen." Christof Hartmann, ehemaliger Chormanager der Domspatzen bis 2018 und selbst 1969 bis 1978 Mitglied des weltberühmten Knabenchors, sagte: "Er lebte seine Berufung als Priester und Künstler durch und durch mit der gesamten Palette an Emotionen, blieb als Mensch bescheiden und wusste doch stets, wie er seine Ziele am besten erreichen kann. Wie man für eine Sache im positiven Sinne »brennen« kann, habe ich mir sicherlich bei ihm abgeschaut."
Dass der Gemüts- und Gefühlsmensch Georg Ratzinger auch beherzt hat schimpfen können, wenn einige Knaben aufmüpfig wurden oder nicht ganz formvollendet sangen, ist weithin bekannt – und er selbst hat eingestanden, tief beschämt, dass er zu früheren Zeiten einige freche und vorwitzige Spatzen körperlich gezüchtigt habe. Diese Entgleisungen hat er später tief bereut und um Verzeihung dafür gebeten. Was war geschehen? Es setzte also zum Beispiel bisweilen "Watsch'n", bayerisch gesagt, "Ohrfeigen". Die Berichte über die Vorgänge sind 2017 publiziert worden und jeder, der sich über die Missbrauchsvorfälle bei den Regensburger Domspatzen erkundigen möchte, kann dies tun. Nachlesen kann man dort heterogene, aber auch sehr viele positive Äußerungen über den "Domkapellmeister R.". Nur zwei Äußerungen seien genannt. Ein ehemaliger Schüler sagte, er sei "sehr beliebt" gewesen: "Die Kinder sind ihm ohne Angst begegnet, er ist immer von Trauben von Kindern umlagert worden." Ein anderer äußert sich: "Unser Domkapellmeister, unser Chef, wurde von allen Kindern geschätzt, auch wenn […] er den emotionalen Bogen häufig in den Proben sehr spannte."
Während in den Zeitungen des Donauraumes und der Oberpfalz sehr viele positive und dankbare Beiträge nach dem Requiem von Georg Ratzinger publiziert wurden, fällt auf, dass in einem Artikel der "Süddeutschen Zeitung" vom 9. Juli 2020 eine anonyme Stimme zitiert wird – beim Requiem sei nicht über die Strenge, ja über "körperliche Strafen" gesprochen worden. Dies sei "mitunter Ratzingers Methode" gewesen, "um gesangliche Perfektion zu erreichen". Dieser Satz mündet in einen Raum der Mutmaßungen. Sodann wird nämlich geäußert, was mit Blick auf die sexuellen Missbrauchsvorfällen bei den Regensburger Domspatzen vom ehemaligen Domkapellmeister gesagt worden sei: "Ratzinger beteuerte, nichts gewusst zu haben, doch haftete auch an ihm die Frage, ob er es ignoriert hatte." Sollen wir den persönlichen Aussagen von Georg Ratzinger etwa keinen Glauben schenken? Warum nicht? Wird hier ein aufklärerischer Gestus sichtbar? Wird etwas suggeriert? Man weiß es nicht genau, auch wenn man über die Missbrauchsvorfälle bei Domspatzen alles wissen kann. Die Aussage wirkt orakelhaft. In der Zeitung "Der neue Tag" aus Amberg im Bericht über die Predigt von Bischof Dr. Voderholzer liest sich das anders: "Georg Ratzinger habe sein Amt in der Kirche mit Musik verbunden und dies stets als Gnade empfunden. Zu seinem Vermächtnis für Regensburg gehöre deshalb besonders die kirchenmusikalische Tradition, die er, so Voderholzer, »wie kein zweiter vermittelt hat« und Maßstäbe setzte. Dabei habe er, so Voderholzer, seinen Anspruch auf höchste Qualität mit viel Menschlichkeit verbunden. Schüler habe er nach Jahrzehnten noch an der Stimme erkannt. Voderholzer fügt mit Blick auf den Missbrauchsskandal bei den Domspatzen an: »Es gehört zu seiner Größe, dass er dabei in der Rückschau auch Fehler eingeräumt und dafür um Verzeihung gebeten hat.«"
Die Problematik ist differenziert erforscht. Das Bistum Regensburg selbst, insbesondere Bischof Dr. Rudolf Voderholzer, war und ist ein Vorbild in Sachen Aufklärung. Ein Zitat aus der Studie von Bernhard Frings und Bernhard Löffler zu den Domspatzen, hier exemplarisch zu Domkapellmeister Georg Ratzinger sei zudem genannt: "Von persönlicher Deformation … oder einem sadistischen System kann für Ratzinger jedoch keine Rede sein. Da waren bei ihm die cholerischen Ausbrüche viel punktuell-eruptiver, bezogen eben auf Situationen der Anspannung, bzw. reaktiver, bezogen auf solche der Überforderung angesichts unaufmerksamer Sänger in größeren Gruppen. Zudem wird Ratzinger von vielen im Grundcharakter als persönlich wohlwollend, väterlich und fürsorglich beschrieben (etwa wenn er bei der sog. »Raubtierfütterung« großzügig Süßigkeiten verteilte), als freundlicher Mensch und liebenswürdiger Charakter, der den Jungen zugetan war, sich für ihre Interessen und Sorgen aufgeschlossen zeigte (freilich außerhalb der Chorprobe), und der verbindliche Gespräche führte, wenn die Eltern zu Besuch waren." Auch nicht die von Ratzinger selbst eingestandenen und bedauerten Züchtigungen werden verschwiegen, verheimlicht oder vertuscht. Verlässlich informiert darüber das Bistum Regensburg. Auf der eigenen Homepage werden die Missbrauchsvorfälle bei den Domspatzen umfassend dargestellt – und wer möchte, kann das alles nachlesen. Man braucht freilich etwas Zeit dafür, aber wer sich ein Urteil bilden will, sollte sich vielleicht die Zeit dafür nehmen, öffentlich zugängliches Material sorgfältig zu lesen. Zum Abschluss sei noch das Wort eines anderen ehemaligen Domspatzen genannt. Der heutige Profisänger und Gesangslehrer Malte Müller erinnert sich: "Für mich war Georg Ratzinger über meine aktive Zeit bei den Domspatzen hinaus bis zuletzt immer ein großväterlicher Freund, den ich gerne besucht habe und mit dem ich immer über »Gott und die Welt«, vor allem über Musik sprechen konnte. Insbesondere habe ich seine Ehrlichkeit, seine unprätentiöse Art und seinen Humor geschätzt. Seine Ästhetik im Hinblick auf Gesang hat mich bis heute nachhaltig geprägt. Ich werde ihn sehr vermissen!" Eine Woche vor seinem Tod gab "der Cheef" Karl-Heinz Liebl, von 1977 bis 2018 Chorleiter bei den Domspatzen mit auf den Weg: "Vergelt’s Gott!" So können wir, darunter sicher viele Künstler, Freunde und Liebhaber der Kirchenmusik überall in Deutschland, nichts Besseres tun, im Gedenken und im stillen Gebet vielleicht noch einmal sagen: "Vergelt’s Gott, lieber, verehrter Herr Domkapellmeister, und danke für Ihren treuen Dienst. Wir bleiben im Gebet verbunden und werden Sie nie vergessen. Mögen Sie in Frieden ruhen – und mit den Engeln im Himmel musizieren."
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