Die von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken getragene Kommission "Justitia et Pax" kam 2019 zu dem Schluss, dass die moralische Duldung der Strategie der nuklearen Abschreckung aufgegeben werden müsse, weil sich die Hoffnung auf substantielle Fortschritte in der atomaren Abrüstung nicht erfüllt habe. Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf hat als Präsident von Pax Christi am kirchlichen Aktionstag gegen Atomwaffen die Bundesregierung aufgefordert, den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen zu unterzeichnen, den die Bundesregierung bisher ablehnt. Die EKD hat schon 2007 in einer Denkschrift das Konzept der nuklearen Abschreckung als mit dem christlichen Glauben unvereinbar abgelehnt. Die moralische Verurteilung der nuklearen Abschreckung soll nun Papst Franziskus voranbringen, indem er die Ächtung von Besitz und Einsatz der Atomwaffen im Katechismus der Katholischen Kirche festschreiben lässt.

Papst Franziskus würde mit einer solchen Ächtung den Dilemmata der Friedenssicherung nicht entrinnen. Schon das II. Vatikanische Konzil sah sich 1965 gezwungen, wie Anfang der 80er Jahre auch zahlreiche Bischofskonferenzen in der Nachrüstungsdebatte der NATO, die verschiedenen Dilemmata der Friedenssicherung unter den Bedingungen der atomaren Rüstung zu reflektieren: das Dilemma zwischen biblisch gebotenem Gewaltverzicht und faktisch vorhandener kriegerischer Gewalt, das Dilemma zwischen legitimer Verteidigung und totaler Zerstörung und das Dilemma zwischen militärischer Rüstung und politischer Erpressung. Das Konzil hat zwar erklärt, dass mit der Entwicklung wissenschaftlicher Waffen das Zerstörungspotential der Rüstung "ins Unermessliche" wachse und mit ihrer Anwendung "die Grenzen einer gerechten Verteidigung weit überschritten" würden. Aber es hat die Möglichkeit einer gerechten Verteidigung auch unter den Bedingungen atomarer Rüstung nicht in Frage gestellt und die "Verurteilung des totalen Krieges" nicht an der Waffengattung, sondern an der Intention der Kriegführenden festgemacht: "Jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abstellt, ist ein Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen, das fest und entschieden zu verwerfen ist" (Gaudium et Spes 80). Nicht nur ein Krieg mit strategischen Atomwaffen, sondern auch ein Krieg mit konventionellen Waffen kann ein solches Verbrechen sein. Der Zweite Weltkrieg bietet auf beiden Seiten der Kriegsgegner solche Beispiele. Andererseits können taktische Nuklearwaffen so zielgenau eingesetzt werden, dass sie die Einhaltung der Kriterien einer gerechten Verteidigung nicht von vornherein ausschließen. Es bleibt das Risiko der Eskalation. Besitz und Lagerung von Atomwaffen sind deshalb nicht a priori verwerflich.

Zusammen mit einer glaubwürdigen Strategie mindern die Atomwaffen seit 75 Jahren das Risiko einer militärischen Aggression. Glaubwürdig ist eine Strategie dann, wenn sie einen möglichen Aggressor nicht gleich mit einer massiven Vergeltung, sondern mit der Möglichkeit einer flexiblen Gegenwehr abschreckt. Um diese flexible Antwort zu gewährleisten, war Anfang der 80er Jahre die Nachrüstung der NATO mit nuklearen Mittelstreckenraketen geboten. Diese Nachrüstung war die Voraussetzung für den INF-Vertrag von 1987, mit dem sich die USA und die Sowjetunion verpflichteten, alle landgestützten Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometer zu vernichten. In den langen Bemühungen um atomare Abrüstung war dies ein großer Erfolg, der zum Ende des Kalten Krieges beitrug. Auch wenn er 2019 von den USA gekündigt wurde, weil sich, so die Begründung, Russland unter Putin nicht mehr an den Vertrag gehalten habe, so widerlegt er doch die Behauptung, es habe in der Rüstungskontrollpolitik keine substantiellen Fortschritte gegeben.

Die Versuchung zu einem Nuklearpazifismus war in den Kirchen schon in der Nachrüstungsdebatte der NATO verbreitet. Der Reformierte Bund in Deutschland erhob die Frage der Nachrüstung 1982 in den status confessionis: Die Bereitstellung und Anwendung von Atomwaffen sei unvereinbar mit dem christlichen Glauben. Die EKD folgte ihm mit ihrer Friedens-Denkschrift 2007. Auf katholischer Seite predigten nicht nur Franz Alt und Paul Zulehner, dass die Nachrüstung mit der Bergpredigt unvereinbar sei. Auch die amerikanischen Bischöfe, die ihre Hirtenbriefe meist in Entwürfen einer öffentlichen Debatte aussetzen, vertraten im zweiten Entwurf ihres Pastoralbriefes über die "Herausforderung des Friedens" einen Nuklearpazifismus light. Sie forderten die NATO-Staaten auf, zu erklären, dass sie nicht als erste Atomwaffen einsetzen würden.

Nach Konsultationen mit Vertretern des Vatikans und der Bischofskonferenzen jener westeuropäischen Staaten, die vom NATO-Doppelbeschluss betroffen waren, führten sie in die endgültige Fassung ihres Hirtenbriefes 1983 eine methodologische Unterscheidung von grundsätzlicher Bedeutung ein, die im zweiten Entwurf noch fehlte: Die Unterscheidung zwischen Urteilen zu moralischen Prinzipien einerseits und Aussagen zu konkreten Fragen, sogenannte "prudential judgements", andererseits. Diese "Klugheitsurteile" würden auf Bedingungen beruhen, "die sich ändern können oder die von Menschen guten Willens unterschiedlich interpretiert werden können (zum Beispiel die Stellungnahme zu 'kein Ersteinsatz')". Der Verbindlichkeitsgrad der Klugheitsurteile ist geringer als der von Urteilen zu moralischen Prinzipien. Hatte der zweite Entwurf noch den Eindruck erweckt, ein Christ könne nur gegen die nukleare Abschreckung und die Nachrüstung sein, so war nun klargestellt, dass Christen zu konkreten Fragen der Rüstungstechnologie und der Militärstrategie unterschiedlicher Meinung sein können und dass deshalb denen, die die nukleare Abschreckung und die Nachrüstung bejahen, keineswegs mangelnder Glaube vorgeworfen werden darf. Deshalb ist der Katechismus nicht der geeignete Ort, um ein Urteil über die nukleare Abschreckung zu fällen.

Prof. Dr. Manfred Spieker ist Prof. em. für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück

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