Venedig - Sonntag, 30. August 2020, 8:35 Uhr.
In Konzerthallen, Einkaufspassagen und Fahrstühlen erklingen weltweit die "Vier Jahreszeiten" von Antonio Vivaldi. Für manche sind Vivaldis größtes Meisterwerk jedoch nicht die klangliche Darstellung von Frühling, Sommer, Herbst und Winter, sondern seine sakrale Musik.
Obwohl weniger bekannt, sind Vivaldis sakrale Kompositionen sind einer Forscherin und Expertin zufolge wohl sein größter Beitrag zur Musik – eine beispiellose Kombination aus tiefer Spiritualität und zeitgenössischer Musiktrends seiner Ära.
Was viele nicht wissen: Vivaldis persönliche Spiritualität nährte sich aus der Tatsache, dass er katholischer Priester war.
"Hier ist ein absolut bizarrer Gedanke. Denken Sie an den Papst, der personifiziert Priester und spirituelle Dinge, und dann an Jimmy Hendrix, einen hervorragenden Gitarristen. Tut man die beiden zusammen, dann hat man Vivaldi", sagte die britische Forscherin Micky White gegenüber CNA in einem Interview 2017.
Diese Kombination sei "bizarr", so White, weil sich der Priester Vivaldi, zutiefst spirituell, in seiner Musik zeige.
"Jimmy Hendrix Vivaldi hören sie in den Vier Jahreszeiten; es ist ein bizarres Stück Musik."
"Es ist zeitgenössisch, wurde von einem Priester komponiert", und es bedient sich des Stils, der zu jener Zeit modern ist – eine Kombination entgegensetzter Pole, beschrieb es White. "Und das macht ihn zu einer so herausragenden Figur. Bach war kein Priester. Mozart war kein Priester, auch Beethoven nicht, aber Vivaldi war einer".
Wer Vivaldi hört, der kann schnell erkennen, dass er ein sehr stark gläubiger Mensch war. "Du hörst es in seiner Musik, du kannst es vernehmen".
White verkaufte ihr florierendes Grußkartengeschäft in England und zog nach Venedig, um ihr wachsendes Interesse an Vivaldi Leben und Wirken zu verfolgen. Heute ist sie selber eine Expertin und ein Bezugspunkt zum Thema.
Ihr Buch "Antonio Vivaldi: Ein Leben in Dokumenten" ("Antonio Vivaldi: A Life in Documents") fasst ihre Untersuchungen zusammen. Und für eine Ausstellung in Venedig, "Viva Vivaldi: Das Geheimnis der Vier Jahreszeiten", fungierte sie als Expertin und Ratgeberin.
Zu sehen war die Ausstellung in unmittelbarer Nähe der Basilika von St. Markus. Die Besucher tauchten in hochauflösende Bilder ein, Klangwelten und sogar Düften, die durch Windmaschinen sanft durch die Räume gewirbelt wurden.
Antonio Lucio Vivaldi wurde 1678 in Venedig geboren. Seinen Spitznamen, "der Rote Priester", verdankte er seiner Haarfarbe. Sein Vater war professioneller Geiger, und brachte bereits in frühen Jahren seinem Sohn das Musizieren bei. Die beiden zogen durch Venedig und traten an verschiedenen Orten gemeinsam auf.
Mit 15 Jahren begann sein Studium für die Laufbahn des Priesters. Geweit wurde Vivaldi im Jahre 1703, im Alter von 25 Jahren, und kurz danach trat er eine Stelle als Kaplan und Meistergeiger an einem örtlichen Waisenhaus an, dem "Frommen Hospital der Barmherzigkeit", Pio Ospedale della Pieta.
Das einfach als "Pieta" bekannte Waisenhaus war 1492 von einem armen Mönch als Heim für ausgesetzte Babies gegründet worden. Kleinkinder wurden dort üblicherweise von den älteren Mädchen großgezogen, die ebenfalls im Waisenhaus lebten. Während Jungen ein Handwerk lernten und mit 15 das Haus verließen, wurden die Mädchen, sofern begabt genug, als Musiker ausgebildet. Wer keine musikalischer Eignung hatte, lernte andere Fähigkeiten, etwa Nähen – und Lesen.
Die begabtesten Mädchen der "Pieta" blieben im Haus und wurden Mitglieder des renommierten, hauseigenen Orchesters und Chores. Vivaldi arbeitete von 1703 bis 1715 im Waisenhaus, dann wurde er abgewählt vom Lehrerkorpus. Erst 1723 wurde er wieder gewählt, und blieb dann bis 1740. Während dieser Zeit schuf der einige seiner berühmtesten Werke.
Nur ein Jahr nach seiner Weihe zum Priester hatte Vivaldi jedoch gebeten, vom Feiern der Heiligen Messe dispensiert zu werden – aus gesundheitlichen Gründen. Bereits seit seiner Kindheit litt der Künstler an einer unbekannten schweren Erkrankung, die man heute für eine Art Asthma hält.
In seinem Brief, in dem er um den Dispens bittet, beschreibt er die Krankheit als eine "Verengung der Brust".
Der Forscherin White zufolge "muss es sehr hart gewesen sein für Vivaldi, das Lesen der Messe aufzugeben. So etwas ist eine Entscheidung, die jeder für sich selbst alleine treffen muss, und ein gutes Gehalt gab er damit auch auf."
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Was Gerüchte betrifft, dass Vivaldi aus dem Priesterstand verstossen oder exkommuniziert wurde? "Die sind ignorant und so dämlich", sagte White gegenüber CNA. Mit Tatsachen hätten diese nichts zu tun.
Das gleiche gelte auch für Gerüchte, dass der Grund, warum Vivaldi für mehrere Jahre bei der Pieta keine Stelle hatte, daran lag, dass er Chormädchen missbraucht habe.
"Das ist nicht nur unwahr, sondern auch unmöglich", so White. Die Frauen, die im Orchester wirkten, blieben oft bis zu ihrem 70. oder 80. Lebensjahr an der Pieta. Zudem sei das Haus von mehreren Aufsehern kontrolliert worden, die im Falle eines solchen Missbrauchs sofort gehandelt hätten. Die britische Expertin ist überzeugt: "Das geht nicht zusammen".
Wer aufgrund persönlicher Vorurteile oder Spekulationen über geschichtliche Dinge urteile, und dann anderen erklärt: "'So muss es gewesen sein' oder 'der und die haben dieses und jenes gesagt'", so White weiter, gerate in eine Sackgasse.
Als sie mit ihrer eigenen Erforschung des Lebens und Wirkens von Vivaldi begonnen habe, und die vorliegenden Daten in einen tatsächlichen Zusammenhang bringen konnte, "ergab das alles einen Sinn", sagte sie. "In der Forschung geht es um Tatsachen, nicht Meinungen, es handelt sich nicht um Vorstellungen, sondern Fakten".
So besteht White darauf, dass seine Priestertum wahrscheinlich ein wesentliches Element seiner Musik war: Auch nach dem Aussetzen seiner liturgischen Pflichten blieb Vivaldi ein Geistlicher. "Einmal Priester, immer Priester", so White.
"Er wurde geweiht, er blieb sein ganzes Leben lang ein Priester und seine Spiritualität drückt sich in seiner Musik aus, man muss nur zuhören und dann nimmt das auch wahr".
Trotz seiner gesundheitlichen Probleme machte Vivaldi musikalisch Karriere. Viele Aufträge aus ganz Europa kamen zu ihm, und er selber reiste häufig. Im Jahr 1722 zog er nach Rom, spielte unter anderem für Papst Benedikt XIII., und kehrte dann 1725 nach Venedig zurück.
Die verschiedenen Werke, die er im Lauf seiner musikalischen Karriere schuf, umspannen Konzerte – für Violine wie Orchester – sowie Arien, Sonaten, Opern und Kirchenmusik.
Auch wenn ihn seine vielen Opern und die um das Jahr 1721 herum komponierten Vier Jahreszeiten berühmt machten: Für White ist die sakrale Musik Vivaldis "einfach auf einer anderen Ebene". Doch sein gesamtes Schaffen sei im Glauben verwurzelt.
Vivaldi komponierte Fassungen unter anderem des Gloria, des Credo, von Stabat Mater, dem Magnificat, Dixit Dominus and Laetatus Sum. Letzteres mit gerade mal mit 13 Jahren.
Viele weitere fehlen jedoch, betonte White. Angesichts seiner 38 Jahre langen Schaffensperiode gebe es wahrscheinlich zahlreiche Stücke, die noch einer Entdeckung harren. White fuhr fort: "Ich bin sicher, dass er ganze Massen komponiert hat, absolut sicher"; doch diese seien offenbar verschollen.
Trotz seines Erfolgs starb Vivaldi verarmt, am 28. Juli 1741, in Wien. Er war nach Österreich gezogen, nachdem er Kaiser Karl VI., dem er sein "Opus 9" gewidmet hatte, im Jahre 1728 kennengelernt hatte.
Der Kaiser war so beeindruckt von Vivaldis Werk, dass er dem Komponisten mit einem Ritterschlag ehrte, und einer Einladung nach Wien. Der Herrscher verstarb jedoch kurz nach der Ankunft Vivaldis in Wien wenige Jahre später, und so – ohne Beziehungen oder anderes Einkommen – verarmte Vivaldi. Mit 63 starb er an einer Infektion.
Für White ist Vivaldis größtes Vermächtnis seine Musik. "Die Musik strömt aus ihm (...) Es ist wie ein Wasserfall", so White gegenüber CNA.
"Vivaldo könnte ohne Probleme ein Rockkonzert veranstalten, und Vivaldi spricht jeden an. Er ist einzigartig." Man könne über Barock reden, über Romantik...aber Vivaldis zeitlose Energie stehe darüber.
Erstfassung veröffentlicht am 7. August 2018.
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