Warum und wie ein Kloster in Syrien Muslimen wie Christen hilft

CNA-Interview mit Schwester Carol der Gemeinschaft Mar Musa in Syrien

Schwester Carol in der Klostertür von Mar Musa
Schwester Carol in der Klostertür von Mar Musa
privat
Gegründet im 5. Jahrhundert: Mar Musa liegt an der ehemaligen Seidenstrasse
Gegründet im 5. Jahrhundert: Mar Musa liegt an der ehemaligen Seidenstrasse
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Die Gemeinschaft vor dem Heiligtum Deir Mar
Die Gemeinschaft vor dem Heiligtum Deir Mar
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Alltag im Kloster: Schwester Carol auf dem Dach
Alltag im Kloster: Schwester Carol auf dem Dach
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Gute 80 Kilometer nördlich von Damaskus, an den Ausläufern des Antilibanon-Gebirges, liegt das Kloster des Heiligen Moses von Abessinien, Deir Mar Musa al Habashi. Erbaut im 5. Jahrhundert, ist es seit dem Ende des 20. Jahrhunderts dank des Wirkens des italienischen Jesuitenpaters Paolo Dall'Oglio die Wirkungsstätte einer Gruppe von Männern und Frauen, die sich um Annäherung zwischen Christen und Muslimen bemühen – auch unter der wachsenden Bedrohung des Islamischen Staates. Eine davon ist Schwester Carol Cooke Eid. Die Arbeit des Klosters und das Schicksal von Pater Paolo hat auch Navid Kermani jüngst bei seiner vielbeachteten Rede in der Paulskirche thematisiert. Bei ihrem derzeitigen Aufenthalt in Rom gab Schwester Carol CNA dieses Interview.

CNA: Sr. Carol, was können Sie uns über das Anliegen von Pater Paolo sagen: Warum und wie hat er diese monastische Gemeinschaft gegründet?

EID: Während seiner spirituellen Exerzitien als römischer Novize der Gesellschaft Jesu hat Pater Paolo 1975 das Wort "Islam" in seinem spirituellen Horizont erblickt. Wenig später teilte er dem Jesuitengeneral Pedro Arrupe mit, er habe den Wunsch, sein Leben in den Dienst des Heils der Muslime zu stellen. Dieser nahm ihn ernst, und so wurde er nach acht Monaten in den Nahen Osten geschickt – zunächst in den Libanon, dann nach Syrien.

1982 hat er zehn Tage lang in den Ruinen des Klosters von Mar Musa in der syrischen Wüste gebetet und ist dem Zauber der Fresken der Kirche mit dem verfallenen Dach erlegen. Anfangs dachte er nur, man müsse diese Kirche restaurieren, doch in der Begegnung mit muslimischen Jägern, mit denen er zu Abend aß und den Koran las, und mit den einheimischen Christen, die allein zum Fest von Mar Musa zum Kloster heraufkamen, verstand er allmählich, dass dieser verlassene Ort die Verwirklichung seines Traums werden könnte: ein bevorzugter Ort der Begegnung und des Dialogs zwischen Christentum und Islam, zumal ein christlicher Kloster in der Wüste zum spirituellen Horizont der Muslime gehört.

CNA: Von dieser Vision zur Verwirklichung war aber kein leichter Weg, oder?

EID: Natürlich ging nicht alles leicht vonstatten, im Gegenteil. Pater Paolo musste vielerlei Hürden überwinden. 1983 bis 1990 kam er hauptsächlich im Sommer mit einigen Gruppen syrischer und italienischer Freiwilliger, um im Rhythmus von Gebet und Arbeit Renovierungsarbeiten im Kloster vorzunehmen. Die Jesuiten und der Ortsbischof zeigten sich skeptisch, doch 1991 war es dann soweit: zusammen mit dem jungen Seminaristen Jacques hat Pater Paolo das monastische Leben in Deir Mar Musa begonnen.

CNA: Mittlerweile gehören auch Frauen zur Gemeinschaft. Wie kam dies zustande?

EID: Schon früh baten Frauen, sich der Gemeinschaft anzuschliessen, Pater Paolo lehnte jedoch mehrfach ab. Die Anfragen hörten nicht auf, und als 1993 Helena, eine junge Italienerin, mit einem Empfehlungsschreiben von Kardinal Martini eintraf, sah Pater Paolo darin ein Gotteszeichen und beschloss, sich dieser neuen Dimension des gemeinschaftlichen Lebens zu öffnen. Auch im Hinblick auf unsere Berufung zur Harmoniebildung zwischen Christentum und Islam hat sich dies als prophetisch herausgestellt: aufgrund der Anwesenheit von Nonnen im Kloster brachten Muslime nun problemlos ihre Frauen und Kinder mit, wenn sie auf einen Besuch kamen, und muslimische Frauen kamen sogar allein oder in Gruppen zu uns.

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CNA: Wieviele Personen sind denn in der Gemeinschaft?

EID: Die monastische Gemeinschaft zählt heute 11 Mitglieder, 7 Mönche und 4 Nonnen. Wir sind in drei Klöstern anwesend, nachdem Deir Mar Elian (Qaryatayn, Syrien) im August 2015 vom Islamischen Staat zerstört wurde: Deir Mar Musa (Nebek, Syrien), Deir Maryam (Sulaymaniya, irakischer Kurdistan) und San Salvatore (Cori, Italien). Unser Gründer Pater Paolo wurde am 29. Juli 2013 in Raqqa entführt und seitdem wissen wir nichts über ihn. Auch Pater Jacques wurde am 21. Mai 2015 vom Islamischen Staat entführt, glücklicherweise konnte er allerdings nach fast fünf Monaten Gefangenschaft fliehen.

CNA: Und dennoch halten Sie an der Berufung fest, der Harmoniebildung zwischen Islam und Christentum?

EID: In der heutigen Zeit ist unsere Botschaft gegen den Strom, doch mehr denn je nötig. Wir sagen es allen, die uns fragen: ja, das Zusammenleben von Christen und Muslimen ist nicht nur möglich, sondern kann auch schön und fruchtbar sein. Ja, es gibt Christen und Muslime, Menschen guten Willens, die in ihrem alltäglichen Leben und in Ausnahmesituationen davon Zeugnis ablegen. Pater Paolo pflegte zu sagen, wir werden den Islam haben, an den wir wagen zu glauben. Dies sagte er nicht blauäugig. Angesichts der Islamophobie wollte er vor den sich selbst erfüllenden Prophezeiungen warnen.  

CNA: Wie muss man sich das Leben in Ihrer Gemeinschaft, etwa im Kloster von Mar Musa vorstellen?

EID: Unser Leben ist auf drei Säulen begründet: Gebet, Handarbeit und Gastfreundschaft, im Dienste der Harmoniebildung zwischen Islam und Christentum.  Vor dem Krieg in Syrien kamen viele Menschen zu uns nach Deir Mar Musa – Nachbarn, Freunde, Mitarbeiter, Pilger, neugierige Touristen, ewig Reisende... – Christen, Muslime und Andersgläubige, die für eine Weile unser monastisches Leben teilten und dadurch einander im einfachen Rhythmus von Gebet, Handarbeit und Gastfreundschaft auf andere Weise begegneten.  

Bei uns wird jeder ermutigt, nach der eigenen Glaubenstradition zu beten und von dieser Wüstenauszeit zu profitieren, um Gott mehr Raum zu geben. Die Nicht-Gläubigen und jene, die nicht beten, sollen während der Gebetszeiten aus Respekt vor dem Gebet der anderen schweigen, und werden gleichzeitig in dieses Gebet wie eingetaucht. Vor der abendlichen Messe gibt es auch eine Stunde stille Meditation, an der alle gehalten werden, teilzunehmen.

Das Gebet ist zudem der bevorzugte Ort der Fürbitte für die anderen. Einmal hörte mich eine Gruppe muslimischer Frauen für die Heiligung der Umma beten– eine von ihnen kam hinterher auf mich zu und küsste mir die Stirn, so sehr war sie berührt. Sie hatte verstanden, dass wir die Kirche für den Islam waren. Das Gebet füreinander ist eine Schule der Liebe und des Segens.

CNA: Sie beten im Kloster nicht nur mit- und füreinander, sondern gestalten die Liturgie und Einrichtung mit Blick auf dieses Füreinander.

EID: Ja, durch die Wahl der arabischen und nicht nur der syrischen Sprache für die Liturgie sowie die der Teppiche in unseren Kirchen – wie in den Moscheen und wie es einmal in den orientalischen Kirchen üblich war – wollen wir die Nähe zueinander betonen. Die Einfachheit der Gebetsräume trägt dazu bei, dass viele Menschen – auch kirchenferne – sich bei uns zu Hause fühlen.

CNA: Und kommen dann auch die Menschen?

EID: Zur Katechese am Morgen, die hauptsächlich von Pater Paolo gehalten wurde, kamen fast alle – es war eine offene Zeit des Zuhörens, des Fragens und des Austauschs, in der wir ausgehend von unseren Heiligen Büchern, der Kirchenlehre und der Tradition der Wüstenväter über Gott und Mensch nachsannten.  Eine weitere Gelegenheit bietet die gemeinsame Arbeit im Dienste aller. In Mar Musa gab es immer viel zu tun: Essen zubereiten und servieren, abwaschen, waschen, putzen, bei der Käse- und Kerzenproduktion aushelfen, ebenso bei den landwirtschaftlichen Projekten, dem Bau oder im Klosterladen... all diese Arbeiten werden zum Raum des gegenseitigen Kennenlernens in einer meist fröhlichen und brüderlichen Atmosphäre.

CNA: Sie erheben die Begegnung zum Prinzip?

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EID: Wissen Sie, es ist so: Die Gastfreundschaft ist die Schule des Willkommenheissens des Anderen. Sie ist auch Sakrament, weil in jedem Gast Gott selbst ins Haus eintritt. Da das Kloster Haus Gottes ist, sind alle – auch Mönche und Nonnen – Gäste und Gastgeber. Nur am ersten Tag ist einer bei uns Gast, ab dem zweiten fühlt sich jeder zu Hause und wird Gastgeber. Vor dem Krieg, als die monastische Gemeinschaft jeden Mittwoch Mar Musa verließ, um nach Mar Elian zu gehen, waren die Besucher für Gebet, Handarbeit und Gastfreundschaft verantwortlich.

In Mar Musa ist die Gastfreundschaft die anspruchsvollste Herausforderung, weil sie ein stetige Öffnung erfordert – aus sich herauskommen und Raum schaffen für den Anderen in sich.

CNA: Vermischt sich so nicht die Identität, beziehunbgsweise löst sich im anderen auf?

EID: Für unsere Gemeinschaft ist die Gastfreundschaft der Schlüssel und der Weg zum Dialog, und der Dialog ist Gastfreundschaft und Beziehung zwischen Verschiedenen, die verschieden bleiben in ihrer Wahrheit. Der wahre Dialog lässt den Anderen so sein, wie er ist,  respektiert seine Werte, sorgt für ihn, erkennt, dass auch der Andere eine Wahrnehmung der Wahrheit besitzt, von der ich lernen kann, die Geschenk für mich ist. Es geht nicht darum, die eigene Wahrnehmung der Wahrheit auf die des Anderen anzupassen, den Anderen auf die eigene Wahrheitswahrnehmung zu bringen oder Kompromisse einzugehen. Keiner von uns besitzt die Wahrheit, vielmehr sind wir Pilger auf dem Weg zur einzigen Wahrheit, die uns beide erschaffen hat, uns ruft und sich uns offenbart im Raum unserer zwischenmenschlichen Beziehungen.

CNA: Ist dieser Weg nur in Mar Musa gangbar?

EID: In unserer multikulturellen Welt kann der Weg des Friedens nicht auf die Gastfreundschaft verzichten. Wenn ich in einem einzigen Satz Mar Musa definieren sollte, würde ich sagen, dass es eine Werkstatt ist, wo man im Alltag – bei aller religiösen Verschiedenheit – das Zusammenleben und sogar die Brüderlichkeit lernt. Für mich ist es ein Mikrokosmos, eine Vorwegnahme des Königreichs Gottes, in dem ich durch das Zusammenleben und den Dialog das Reichtum, die Schönheit und die Wichtigkeit des Anderen unter den Augen des einzigen Gottes entdeckt habe, den orientalische Christen wie Muslime in ihrer Muttersprache Allāh nennen.  

CNA: Wie sieht diese Arbeit pastoral aus? Können Sie einige Beispiele geben?

EID: Heute dreht sich unsere pastorale Arbeit hauptsächlich um die Unterstützung der vom Krieg betroffenen Menschen in Syrien und im Irak. In Deir Maryam, unserem Kloster in Sulaymaniya im irakischen Kurdistan, leben seit dem Sommer 2014 mehr als 200 christliche Flüchtlinge aus Qaraqosh mit uns. Dort hat auch die Imamschule die Initiative ergriffen und uns aufgesucht, damit wir gemeinsam den Dialog zwischen Islam und Christentum fördern. Es haben soweit eine ganze Reihe von fruchtbaren Begegnungen stattgefunden. In Nebek, der Nachbarstadt von Deir Mar Musa, haben wir auch vielen Menschen, die bleiben wollten, geholfen, ihre teilweise oder ganz zerstörten Häuser wieder aufzubauen.

CNA: Das Kloster kümmert sich konkret um Muslime wie Christen?

EID: Bevor der Islamische Staat Deir Mar Elian zerstörte, haben 2013 über fünf Monate Tausende von Muslimen aus zwei benachbarten Dörfern in unserem Kloster Zuflucht gefunden. Später haben wir ihnen geholfen, ihre zerstörten Häuser wiederaufzubauen, doch leider Gottes wurden diese nach eineinhalb Jahren nochmals zerstört.

CNA: Und heute?

EID: Heute sind Christen und Muslime aus dieser Gegend auf der Flucht. Mithilfe von verschiedenen Hilfsorganisationen tun wir, was wir können, um deren bittere Not zu lindern: wir verteilen unter anderem Lebensmittel, Medikamente, Heizöl, finanzieren Operationen, zahlen Mieten etc. Die meisten würden am Liebsten das Land verlassen, doch die Möglichkeiten sind sehr begrenzt und stehen nur denen offen, die etwas Geld haben. Einige haben den langersehnten Frieden in Europa suchen wollen und sind unterwegs ertrunken, Frauen, Männer, Kinder, die wir persönlich kannten. Es bleiben die Armen und die wenigen, die aus Überzeugung in ihrer Heimat bleiben wollen. Mit ihnen und für sie haben wir entschieden, zu bleiben.

CNA: Papst Franziskus hat erst in Bangui und dann auch im Petersdom die Heiligen Pforten geöffnet für das Jahr der Barmherzigkeit. Er hat die Menschen gebeten, für Frieden zu beten. Was erhoffen Sie sich vom Heiligen Jahr?

EID: Das Jahr der Barmherzigkeit ist Gabe und vor allem Aufgabe. Ich erhoffe mir, dass es zum Jahr der Gnade wird. Barmherzigkeit ist die zentrale Botschaft des Evangeliums und zugleich die Eigenschaft Gottes, mit der Er im Koran am meisten bezeichnet wird ("Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers"). Es ist die Eigenschaft, die den Menschen zum Menschen macht. Ich erhoffe mir, dass im Jahr der Barmherzigkeit das Gleichnis des barmherzigen Samariters zu unserer tagtäglichen Meditation wird. Nicht umsonst hat Jesus den Samariter, den verachteten und unreinen Fremden, als Hauptfigur für sein Gleichnis und Modell für uns gewählt.

CNA: Und mit Blick auf Europa?

EID: Auf Europa bezogen erhoffe ich mir, dass wir der sich anschleichenden Angst vor dem Anderen entgegenwirken, indem wir zum Beispiel anfangen, die Begegnung unserer Nachbarn – ob einheimische Muslime oder Menschen fremder Herkunft – zu suchen, uns für sie und ihre Sorgen zu interessieren, nicht so sehr um ihnen in der Integration zu helfen als vielmehr um echte Beziehungen, ja Freundschaften mit ihnen zu pflegen.

Ich erhoffe mir, dass wir Menschen im Westen unsere Zuschauermentalität verlieren, mit der wir auf die in anderen Ländern stattfindenden dramatischen Ereignisse blicken: wir sind froh, dass diese woanders und nicht vor unserer Tür geschehen, und wenn wir merken, dass die Gefahr sich naht und uns treffen kann, dann schliessen wir unsere Grenzen und wollen uns am Liebsten in unseren Identitätsbunkern verriegeln und die Ausländer – die "anderen" – loswerden.  

CNA: Aber Tatsache ist doch, dass Islamisten, auch und gerade in Syrien und Irak die Christen wie manche Muslime verfolgen, versklaven, ermorden?

EID: Was in Syrien und im Irak passiert, betrifft uns zutiefst und stellt unsere Menschlichkeit auf dem Prüfstand: wenn wir uns mit dem Schmerz- und Notleidenden solidarisch zeigen, wachsen wir in unserem Menschsein; wenn wir nur an die Verteidigung unserer persönlichen und nationalen Interessen denken, dann werden die Kräfte, die sich um Polarisierung und Spaltung bemühen, bei uns eine beackerte Erde vorfinden. Nicht Gewalt oder Rückzug bedarf es, um einen dritten Weltkrieg zu vermeiden, sondern Beziehung, Dialog und echte Freundschaft. Vor dieser Herausforderung stehen wir heute.