Denver - Freitag, 1. Juni 2018, 13:59 Uhr.
Terror in Toronto, Anfang des Jahres 2018: Ein 25 Jahre alter Mann rast mit seinem gemieteten Lieferwagen gezielt auf unschuldige Passanten. 10 Menschen sterben, über ein Dutzend weitere werden verletzt.
Der Fahrer war kein Mitglied der Terror-Netzwerke, die üblicherweise sofort verdächtig werden. Wie sich herausstellte, identifizierte er sich als Mitglied der "Incels". Das steht für "Involuntary Celibates" – zu Deutsch "unfreiwillig Zölibatäre": Eine obskure Online-Gemeinschaft von zumeist Männern, die Frauen und der Gesellschaft die Schuld geben für ihren selbst-empfundenen Mangel an Sex.
Die "Incels" finden, dass die weltweite Sex-Verteilung unfair ist – vor allem ihnen gegenüber. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es Angehörige dieser – bis dahin weitgehend unbekannte – Internet-Gruppe, die nun einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat.
Die Lösung des Problems der Incels ist für Ross Douthat klar: Der bekannte Kolumnist der "New York Times", plädierte für den Einsatz von Sex-Robotern. Mit deren Hilfe könne der Sexual-Frust der Incels befriedet werden, und so weitere Anschläge verhindert werden.
"Ob Sex-Arbeiter oder Sex-Roboter tatsächlich auch echte Erfüllung leisten können, ist eine andere Frage", schrieb Douthat. "Aber dass sie allmählich dazu aufgefordert werden, im Dienst einer gezielten Umverteilung, die uns heute noch gruselig, frauenfeindlich oder radikal erscheint, fühlt sich ziemlich unausweichlich an."
In einer kurz danach veröffentlichten Titel-Geschichte über Sex-Roboter im "New York Magazine" ist von Forschung zu lesen, die davon ausgeht, dass spätestens im Jahr 2050 Sex Roboter nicht nur für wütende Incels im Einsatz sein werden, sondern für die breite Gesellschaft. Menschen werden nicht nur intime Beziehungen mit Sex-Robotern haben, statt mit anderen Menschen – manche werden dies auch bevorzugen, so das Magazin.
Sind wir mehr als ein Orgasmus?
Schwester Mary Patrice Ahearn ist Psychologin und Ordensfrau der Religiösen Schwestern der Barmherzigkeit in Alma, Michigan.
Die Vorstellung von Sex-Robotern und das Aufkommen von Gruppen wie den "Incels" zeigt, dass die Gesellschaft Gott vergessen hat, wie auch jedweden transzendentalen Aspekt menschlicher Erfahrung, erklärt sie.
Worauf diese Phänomene verweisen, so die Psychologin, "ist das, worüber niemand spricht: Die überirdische Sehnsucht in uns, beziehungsweise der transzendentale Teil eines jeden von uns".
"Wenn wir diesen transzendentalen Teil – ich nenne ihn Glauben, oder Gott – ausschließen, dann müssen wir diese Leere mit etwas füllen."
Die Ordensfrau betont, dass jeder Mensch mit dieser Sehnsucht, dem Verlangen nach Unendlichkeit, ernsthaft ringen muss. Jeder Mensch müsse damit zurecht kommen, ein Verständnis dafür haben, was diese tief angelegte Sehnsucht bedeutet – statt die existentielle Leere mit Sex-Robotern und anderer Technologie zu stopfen versuchen.
"Ich würde daher folgende Frage stellen: Ist die tiefste Sehnsucht in Deinem Herzen, sexuell befriedigt zu werden, einen Orgasmus zu haben? Ist das wirklich die tiefste Sehnsucht Deines Herzens? Und diese Frage müssen sich Menschen ernsthaft fragen", so Schwester Mary Ahearn.
"Jeder hat das Verlangen nach Sex", so die Ordensfrau weiter. "Aber das gilt auch für die Kühe am Straßenrand, an denen wir vorbeifahren. Allen geht es so."
Westliche Gesellschaften – etwa die Deutschlands oder der USA – sind nicht nur zunehmend irreligiös und ungläubig. Das Risiko für die darin lebenden Menschen ist groß, die eigenen, menschliche Beziehungen in Familie und Freundschaften durch technologische Beziehungen zu ersetzen – jene Beziehungen, die Menschen überhaupt erst erlaubt, Intimität ohne sexuelle Beziehung zu erleben, warnt die Psychologin.
"Wir sind, was die Technologie und Kommunikationsmöglichkeiten betrifft, verknüpfter denn je", so Ahearn. Doch führe dies nicht immer auch gleich zu tieferen, zwischenmenschlichen Beziehungen. Darauf weise schon "dieses permanente Checken des Geräts, diese dauernde Unruhe damit" hin, betont die Ordensfrau.
Der Aufstieg der Incels und des Sex-Roboters sind aus dieser Sicht Anzeichen – wenn auch extreme – eines anderen gesellschaftlichen Problems: Wir sind wirklich zutiefst einsam.
Das Einsamkeits-Problem
Im Januar 2018 ernannte die britische Premierministerin Theresa May eine Staatssekretärin für Einsamkeit.
"Auch in Deutschland wären derartige politische Initiativen zu dessen Bekämpfung wünschenswert, denn auch bei uns sind Millionen von Menschen einsam", kommentierte die deutsche Psychologie-Professorin Maike Luhmann in einem Blog-Beitrag bei "Xing Klartext". Wie aus der Forschung bekannt sei, könne anhaltende Einsamkeit zu schwerwiegenden körperlichen und psychischen Problemen und zu einer verringerten Lebenserwartung führen.
Einer Studie aus dem Jahr 2016 zufolge gibt es eine starke Korrelation zwischen Depression und der Zeitdauer, die junge Erwachsene mit Sozialen Medien verbringen: Je länger jemand sich etwa auf Facebook oder Instagram aufhielt, desto depressiver war er auch.
Vor einer Einsamkeits-Epidemie hat auch der oberste Leiter des Öffentlichen Gesundheitswesens der USA gewarnt, der Surgeon General of the United States. Dr. Vivek H. Murphy bemängelte, dass diese Krise lange ignoriert worden sei.
Einsamer denn je sind eine Umfrage des Versicherungskonzerns Cigna zufolge junge Amerikaner: Mindestens die Hälfte aller Teilnehmer identifizierten sich selbst als einsam, und auf der Einsamkeitsskala der University of California verzeichnete der durchschnittliche Amerikaner eine Punktzahl von 44 – was nichts anderes bedeutet, als dass man als "einsam" eingestuft wurde.
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Dabei geht es nicht darum, grundsätzlich mobile Geräte oder Soziale Medien zu verteufeln.
Was die Cigna-Umfrage bestätigte: Wichtig ist vor allem, wie jemand sein Smartphone oder Tablet verwendet. Wer sich einfach nur passiv durch endlose Bilder-Ströme scrollt, wird eher depressiv als jemand, der damit aktiv Kontakt zu Familie und Freunden hält.
Cristina Barba ist die Cristina Barba ist die Gründerin und Geschäftsführerin von "The Culture Project", einer Organisation, die Jugendteams an Gymnasien und Jugendgruppen entsendet, um "die Würde der menschlichen Person und den Reichtum der lebendigen sexuellen Integrität zu verkünden",
In ihrer Arbeit mit jungen Menschen habe sich gezeigt, so Barba, dass Technologie die bereits aufkommenden Probleme sozialer Isolation auf die Spitze treibe. Junge Menschen sind nicht nur einsamer: Sie wissen laut Barba oft gar nicht, wie man echte Beziehungen aufbaut und pflegt.
"Es ist eine Kombination aus vielen Dingen", betonte Barba gegenüber CNA. "Der Zusammenbruch von Familie und Ehe, häufiger Umzug, kein Halt in der eigenen Pfarrei, wie das früher war... das sind alles umfassendere gesellschaftliche Probleme."
Die Rolle digitaler Technologien sei freilich aktuell besonders brisant. "Die Technologie hat das jetzt viel schneller auf das nächste Level gebracht."
Barbas Einschätzungen decken sich mit den Befunden der Forscherin und Psychologin Jean Twenge, welche die Generation nach den Millennials, die niemals eine Welt ohne das Internet und Smartphones kannte, als "iGen" bezeichnet.
"Social-Networking-Sites wie Facebook versprechen, uns mit Freunden zu verbinden. Aber das Porträt von iGen-Teens, das aus den Daten hervorgeht, ist das einer einsamen, entwurzelten Generation", schrieb Twenge in einem Artikel für "The Atlantic" im September 2017. "Teens, die jeden Tag Social-Networking-Sites besuchen, aber ihre Freunde weniger oft persönlich sehen, stimmen am ehesten mit den Aussagen überein 'Oft fühle ich mich einsam', 'ich fühle mich oft ausgeschlossen' und 'Ich wünschte mir oft, ich hätte mehr gute Freunde'. Das Gefühl, einsam zu sein hat unter Teenagern im Jahr 2013 zugenommen, und ist seitdem hoch geblieben," so Twenge.
Das "Culture Project" ist darauf eine Antwort, so Barba: Eine Gruppe von Freunden, die sich zusammenfanden, um nicht nur "herumzusitzen und zu stöhnen", sondern selbst etwas zu tun. Dabei hätten sie jedoch schnell gemerkt, dass viele Jugendliche heute noch gar nicht wussten, was es bedeutet, eine Freundschaft aufzubauen und zu pflegen.
"Wir haben Eltern, die zu uns kommen und sagen, ok, es ist toll, dass du über Tugend und so redest, aber meine Kinder wissen nicht einmal, was es bedeutet, einen Freund zu haben. Kannst du über Freundschaft reden?"
Die heutigen Teenager sind eine Generation, die im Internet und in den sozialen Medien aufgewachsen ist, sagte Barba weiter – was bedeute, dass deren Vorstellung von Freundschaft der eines "Followers" gleichkommt.
"Es ist wie eine Show, die du machst", sagte sie, "es sind Leute, die dir folgen und Leuten, denen du folgst. Es ist keine Interaktion, die einzige Interaktion besteht darin, andere eifersüchtig zu machen oder nopch coolers zu sein oder sich selbst irgendwie darzustellen. Es gibt nicht wirklich einen Austausch gemeinsamer Interessen, oder jemanden, mit dem du zusammen etwas unternimmst, jemanden, der dir wichtig ist. All diese Dinge gehen in jungen Jahren durch die sozialen Medien verloren."
'Begegnung' als Lösung
Diese Krise normaler zwischenmenschlicher Freundschaften machen sich die Jugendlichen des "Culture Project" zu eigen: Sie zeigen, wie echte, gesunde Freundschaften aufgebaut werden können – leben es buchstäblich vor, erklärt Barba.
"Die [Schüler] sehen tatsächlich einfach, wie unserer Missionare miteinander umgehen – ein Gruppe junger Menschen, die normale, lustige, attraktive junge Männer und Frauen sind, die ein bisschen älter sind als sie ... und sie sehen, wie diese Leute interagieren, lernen so die schöne, gesunde, normale Dynamik von Freundschaft".
Was eigentlich ganz normal ist, sei für die jungen Zuschauer oft erhellend, sogar schockierend. Gleichzeitig werde über den Umgang mit Sozialen Medien gesprochen – und wieviel Zeit damit jeden Tag verbracht wird. Barba betont: Wichtige Themen sind dabei auch Pornografie und "Sexting" – das Versenden intimer Texte und Bilder des eigenen Körpers.
Es gehe nicht darum, Angst vor der Technologie zu schüren, oder diese als per se schlecht zu verteufeln. Ein Smartphone sei ein neutrales Werkzeug, so Barba.
Aber es gehe darum, ein Bewusstsein dafür zu wecken, wie abhängig man sich von diesen Geräten gemacht haben kann, und praktische Tipps anzubieten, um stattdessen mehr zwischenmenschlichen Umgang zu haben.
Die Herausforderung für Studenten, in dieser Hinsicht einmal zu lernen, dass man den eigenen Medienkonsum kontrollieren, ja auch einmal fasten kann – ob das nun eine Stunde pro Tag oder sogar eine Woche ist – helfe dabei enorm. Selbst kleine Schritte machen dabei einen großen Unterschied, betont Barba:
"Es ist so einfach, ein paar ganz normale, grundsätzliche Sachen. Etwa Familien und Eltern, die Zeit miteinander verbringen. Oder eine eigene Gemeinde, zu der man gehört, etwa eine Pfarrei – Menschen, die nahe beieinander wohnen, die sich umeinander kümmern, die zusammen beten, die zusammen Spaß haben, die zusammen essen, solche Dinge".
Übersetzt, redigiert und ergänzt aus dem englischen Original.
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