Eriwan - Montag, 16. November 2020, 13:30 Uhr.
Am 9. November haben Armenien, Aserbaidschan und Russland ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, um den Krieg in der Region Bergkarabach zu beenden. Viele Armenier sind enttäuscht und wütend über die Bedingungen des Abkommens, das die dauerhafte Abtretung weiter Teile der Region an Aserbaidschan vorsieht. Ein schmaler Landkorridor in die verbliebenen armenischen Gebiete soll für fünf Jahre vom russischen Militär kontrolliert werden.
Nach Angaben des deutschen Rundfunks "ARD" hatten in Bergkarabach bis vor dem Krieg 145 000 Armenier gelebt. Etwa 100.000 Menschen waren bereits in den vergangenen Wochen angesichts massiven Beschusses geflohen. Über die aktuelle Lage und die Hintergründe des Konflikts sprach Maria Lozano vom weltweiten katholischen Hilfswerk "Kirche in Not" mit dem römisch-katholischen Priester Bernardo di Nardo. Der gebürtige Argentinier, der aus Sicherheitsgründen sein Gesicht nicht zeigen möchte, arbeitet seit drei Jahren für die kleine katholische Minderheit in Armenien.
Pater Bernardo, die Bedingungen des Abkommens sind in Armenien kritisch aufgenommen worden. Welche Folgen kann dies für das Land haben?
Die Menschen sind sehr unglücklich über die Bedingungen des Waffenstillstands, sie betrachten sie als Verrat an den tausenden von Toten und als völlige Preisgabe der in Bergkarabach lebenden Armenier. Die Folgen für das Land sind im Moment eine sehr ernste politische Krise, da die Oppositionsparteien den Rücktritt des Premierministers fordern. Möglicherweise wird es in den kommenden Wochen weitere Proteste und Demonstrationen geben.
Das Abkommen sieht vor, dass Aserbaidschan die eroberten Gebiete in Bergkarabach behalten darf. Was sind die Folgen für die dort lebenden Armenier?
Die Folgen werden sein, dass sie angesichts der Bedrohung eines Völkermords in einem ständigen Klima der Angst leben werden, so dass die meisten Einwohner ihre Heimat verlassen und nach Armenien kommen werden. Das kulturelle und religiöse Erbe ist in Gefahr.
Was sind die Wurzeln dieses Konflikts um Bergkarabach?
Der Konflikt reicht bis in die Zeiten der Sowjetunion zurück, als Stalin nach dem Krieg die Gebiete zugunsten einer, wie er es nannte, "Vermischung der Ethnien" aufteilte. Damit teilte er Aserbaidschan das armenische Gebiet Bergkarabach als autonome Region zu. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Zerstückelung der Sowjetunion wurde der antiarmenische Nationalismus in Aserbaidschan geweckt. In mehreren Städten gab es Pogrome gegen Armenier, zum Beispiel in der Hauptstadt Baku. Angesichts dieser sehr heiklen Situation erklärte sich Bergkarabach für unabhängig. Es kam zum Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Armenien siegte, Bergkarabach blieb unabhängig, was aber implizit die Annexion durch Armenien bedeutete.
In Europa wird Armenien immer mit dem Völkermord von 1915 in Verbindung gebracht. Welche Spuren erleben Sie bei Ihrer täglichen Arbeit?
Der Völkermord hat viele Spuren in der Bevölkerung hinterlassen. Die größte davon ist das schreckliche Gefühl der Ungerechtigkeit, eine solche Gräueltat zu erleiden, die auch noch von den Tätern völlig geleugnet wird. Sie zeigt sich in dem ständigen Ruf nach Gerechtigkeit, in den täglichen Gesprächen, in den Gedenkfeiern eines jeden Jahres.
Wie wirkt sich der gegenwärtige Konflikt auf die Armenier aus?
Die erste Auswirkung ist die Zerstörung von Familien, deren Angehörige im Krieg um Bergkarabach gestorben oder verstümmelt worden sind. Die Armut nimmt zu wegen der Priorität der Militärausgaben und der Zahl der Vertriebenen, die aus Bergkarabach vor allem in die Städte kommen. Die Familien nehmen so viele ihrer Verwandten, Freunde oder Bekannten auf, wie sie können, und das verschärft die Not. Hinzu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit infolge der Corona-Krise, insbesondere wegen der fehlenden Einnahmen durch den Tourismus.
Wie trägt die katholische Kirche in Armenien, obwohl sie sehr klein ist, dazu bei, die Wunden des Krieges zu lindern?
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Die Beziehung der (orthodoxen, Anm. d. Red.) Armenisch-Apostolischen Kirche zur katholischen Kirche ist eine Beziehung des gegenseitigen Respekts und der Zusammenarbeit in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse. Wir helfen den vom Krieg betroffenen Menschen in erster Linie, indem wir die Familien besuchen, mit ihnen beten, sie trösten und ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten auch materiell beistehen. Wir tun dies durch die "Legio Mariae" und die "Missionarinnen der Nächstenliebe", die Schwestern von Mutter Teresa von Kalkutta.
Welches ist die geopolitische Dimension dieses Krieges, hat der Konflikt auch eine religiöse Dimension?
Ich glaube, dass dieser Krieg die Heuchelei vieler Regierungen entlarvt, die in ihren Reden zwar den Frieden fördern, aber Waffen an die Beteiligten verkaufen. Darüber hinaus zeigt er, dass sie sich viel mehr für das Erdöl und Erdgas dieser Länder interessieren als für das Leben der Menschen. Wir erleben eine nationalistische Expansionspolitik und den Wunsch, dass sehr alte christliche Völker wie das armenische verschwinden sollen.
Fühlen sich die Armenier von der internationalen Gemeinschaft vergessen?
Die Armenier fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft, die immer mehr an geopolitischen Spielen interessiert ist, vergessen und verraten. Aber ich möchte mit einer Botschaft der Hoffnung schließen: Das armenische Volk ist immer wieder inmitten unbeschreiblicher Katastrophen auferstanden. Jetzt wird es dies wieder tun.
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