In der Katechese vom 29. Oktober 1980 (veröffentlicht in L’Osservatore Romano 80/45) wendet sich Papst Johannes Paul II. erneut der Wertschätzung des menschlichen Körpers und der Würde der Geschlechtlichkeit zu. Beides wird in keiner Weise verurteilt, allein die fleischliche Begierde soll beherrscht werden, was notwendig verbunden ist mit der Achtung der „persönlichen Würde des Körpers und der Geschlechtlichkeit“.

Wer der fleischlichen Begierde nachgeht, missachtet die Würde des Leibes, damit auch die Würde der menschlichen Person. Johannes Paul II. setzt dieses Verständnis des Leibes und der Sexualität auch gegen die „Meister des Argwohns“ – einem Wort des Philosophen Paul Ricoeurs folgend –, namentlich gegen Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, die den „Zweifel am Bewusstsein“ geschürt haben. Marx, Nietzsche und Freud nennt der Papst „drei große Zerstörer“, die sich von der Sinnsuche abgewandt haben und vom illusionären Charakter des Bewusstseins sprechen, das entziffert werden müsse.

Johannes Paul II. benennt zunächst eine Parallele zur Bibel. Die genannten Philosophen klagen das Herz des Menschen an und verurteilen es: „Ja, noch mehr, es hat den Anschein, dass sie das Herz aufgrund jener Tatsache anklagen und verurteilen, die in der Sprache der Bibel und besonders bei Johannes ‚Begehren‘, das ‚dreifache Begehren‘, genannt wird.“ Nietzsche richtet sich auf die Hoffart des Lebens aus, Marx auf die Lust der Augen und Freud auf die Lust des Fleisches.

Johannes Paul II. schreibt: „Die Ähnlichkeit dieser Auffassung mit der menschlichen Hermeneutik, die sich auf die Bibel gründet, besteht in der Tatsache, dass auch wir bei der Aufdeckung des dreifachen Begehrens im Herzen des Menschen uns darauf hätten beschränken können, dieses Herz ständig zu verdächtigen. Doch die Bibel gestattet es uns nicht, hier haltzumachen. Die Worte Christi bei Matthäus 5,27–28 sind solcher Art, dass sie, auch wenn sie die ganze Wirklichkeit des sinnlichen Verlangens und der Begehrlichkeit aufzeigen, nicht zulassen, diese Begehrlichkeit zum absoluten Kriterium der Anthropologie und der Ethik bzw. zum Kernpunkt der Hermeneutik des Menschen zu machen. In der Bibel bildet das dreifache Begehren nicht das grundlegende und schon gar nicht das einzige und absolute Kriterium für die Anthropologie und die Ethik, auch wenn es zweifellos ein wichtiger Faktor für das Verständnis des Menschen, seiner Handlungen und ihres sittlichen Wertes ist.“

Der Mensch, der den begehrlichen Blick hat, ist tatsächlich der Mensch, der von der fleischlichen Begierde beherrscht ist: „Daher ‚kann‘ er so blicken und muss sich sogar bewusst sein, dass er, den Mächten der Natur preisgegeben, auch wenn er auf diesen inneren Akt verzichtet, doch den Einfluss des fleischlichen Begehrens nicht auszuschalten vermag.“

Gemäß dem Evangelium sei es aber unzulässig, den Menschen, damit also sein Herz, beständig zu verdächtigen. Christi Worte gelten als „Anruf und Aufruf an dieses Herz“, denn dies entspricht dem „Wesen des Ethos der Erlösung“: „Aufgrund dieses Geheimnisses, das der hl. Paulus als ‚Erlösung des Leibes‘ bezeichnet (Röm 8,23), aufgrund jener Wirklichkeit, die Erlösung genannt wird, und damit aufgrund des Ethos der Erlösung des Leibes können wir das menschliche Herz nicht wegen der sinnlichen Begierde und des Begehrens des Fleisches ausschließlich anklagen. Der Mensch darf nicht stehenbleiben bei der ständigen und gnadenlosen Anklage des Herzens wegen der Äußerungen des fleischlichen Begehrens und der Libido, die der Psychoanalytiker des Unbewussten aufdeckt.“

Freud verkürzt das Leben auf die Triebbefriedigung. Johannes Paul II. setzt dagegen das Evangelium: „Die Erlösung ist eine Wahrheit und Wirklichkeit, in deren Namen der Mensch sich aufgerufen, ‚bewusst aufgerufen‘ fühlen soll. Er muss diesen Aufruf auch in den Worten Christi bei Matthäus 5,27–28 beachten und sie wieder im Gesamtzusammenhang der Offenbarung des Leibes lesen. Der Mensch muss sich aufgerufen fühlen, die bräutliche Bedeutung des Leibes wieder zu entdecken, ja sie zu verwirklichen und so die innere Freiheit der Hingabe, also jene geistige Haltung und Kraft zum Ausdruck zu bringen, die Folge der Beherrschung des fleischlichen Begehrens sind.“

Der Aufruf erfolgt von außen und von innen zugleich. Denn die Hörer des Wortes Christi verstehen den Anruf von innen her. Jeder Mensch vermag das inwendig zu erfahren: „Wenn er dem zustimmt, was sie in ihm bewirken sollen, kann er gleichzeitig in seinem Inneren sozusagen den Widerhall jenes ‚Anfangs‘, jenes guten Anfangs vernehmen, auf den sich Christus an anderer Stelle berief, um seine Hörer daran zu erinnern, wer der Mann und wer die Frau und was sie füreinander im Schöpfungswerk sind. Die Worte Christi in der Bergpredigt sind kein ins Leere gesprochener Aufruf. Sie richten sich nicht an den Menschen, der ganz und gar der fleischlichen Begierde ausgeliefert und unfähig ist, nach einer anderen Form der ewigen gegenseitigen Anziehungskraft zu suchen, welche ‚von Anfang an‘ zur Geschichte des Mannes und der Frau gehören. Die Worte Christi bezeugen, dass die ursprüngliche Kraft (also auch die Gnade) des Schöpfungsgeheimnisses für jeden Menschen zur Kraft (und das heißt zur Gnade) des Geheimnisses der Erlösung wird.“

Der Mensch wünscht, die Würde der personalen Beziehung zu achten und deren Ausdruck im Leib des anderen zu wahren: „Fühlt er nicht das Bedürfnis, diese mit allem Edlen und Schönen zu durchdringen? Fühlt er nicht das Bedürfnis, ihnen den höchsten Wert zu verleihen, der eben die Liebe ist?“

Johannes Paul II. distanziert damit deutlich die Philosophie und die Lehrmeinungen der Freudschen Psychoanalyse: „Der Sinn des Lebens steht im Widerspruch zur Hermeneutik des ‚Argwohns‘. Diese Hermeneutik unterscheidet sich sehr, ja grundlegend von jener, die wir in den Worten Christi in der Bergpredigt finden. Diese Worte verraten nicht nur ein anderes Ethos, sondern auch eine andere Sicht der Möglichkeiten des Menschen. Es kommt darauf an, dass er sich gerade in seinem Herzen nicht unwiderruflich angeklagt und der Begierde des Fleisches preisgegeben, sondern energisch angerufen fühlt. Angerufen zu jenem höchsten Wert, der die Liebe ist. Angerufen als Person in der Wahrheit seines Menschseins, also auch in der Wahrheit seines Mann- bzw. Frauseins, in der Wahrheit seines Leibes. Angerufen in jener Wahrheit, die Erbe von ‚Anfang‘ an, Erbe seines Herzens ist und tiefer reicht als die ererbte Sündhaftigkeit, tiefer als die dreifache Begierde. Die Worte Christi, die in die gesamte Wirklichkeit der Schöpfung und Erlösung eingeordnet sind, machen jenes tiefere Erbe aktuell und verleihen ihm wahre Kraft.“

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.

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