Christi Geburtskirche und Christi Grabeskirche liegen etwa so weit voneinander entfernt wie die Gedächtniskirche vom Gendarmenmarkt in Berlin. Lägen die beiden Heiligtümer in Mexiko, wären Bethlehem und Jerusalem längst schon zu einer einzigen Megametropole zusammen gewachsen und zur Hauptstadt der Menschheit erklärt worden. Denn hier wurde Gott selber Mensch. Hier wurde er geboren und hingerichtet und hier ist er nach drei Tagen im Grab wieder von den Toten auferstanden.

Stattdessen aber trennen heute enorme Mauern aus Hass, Angst und Beton nicht nur die beiden alten Königsstädte Jerusalem und Bethlehem, sondern auch Jerusalem selbst, die Hauptstadt des Heiligen Landes, wo das Christentum seinen Anfang nahm und nicht der Islam oder das Judentum. Abraham, der Urvater des Judentums, kam mit seinen Herden aus dem heutigen Irak in das verheißene Land und Moses kam aus Ägypten bis zum Berg Nebo über dem Toten Meer, wo man die Lichter Jerusalems am Abend im Westen mit bloßen Augen sehen kann. Mohammed hingegen war überhaupt nie in Jerusalem.

Doch keine Frage, dass König David mit seinen Kriegern den Jebusitern die Stadt Jebus (das nachmalige Jerusalem) um das Jahr 1000 vor Christus entrissen hat und dass sein Sohn Salomon danach oberhalb dieser Kleinstadt im Jahr 957 den ersten Tempel der Juden errichten ließ, von dem fromme Juden überzeugt sind, dass Gott von dort auch den Lehm nahm, aus dem er den ersten Menschen schuf. Auch der zweite Tempel der Juden stand da oben, den Herodes vor der Zeitenwende noch einmal gewaltig erweitern ließ. Es war das spirituelle Zentrum der Juden in aller Welt. Diese Anlage ging unter dem römischen Feldherrn Titus im Jahr 70 nach Christus in Flammen auf. Geblieben sind davon nur noch die Grundmauern um den heutigen Tempelberg in der Altstadt von Jerusalem, den die Muslime Haram ash Sharif nennen. Das heißt, der „vornehme Bezirk“.

Denn es ist auch keine Frage, das eben hier – auf genau demselben Platz (!) – im Jahr 691 der muslimische Felsendom und die Al Aksa-Moschee errichtet wurden. Der Felsendom ist der älteste monumentale Sakralbau des Islams und er blieb – mitten in Jerusalem! – bis auf den heutigen Tag immer muslimisch und mehr noch: Er blieb das goldene Zentrum Jerusalems.

Daran hat auch das christliche Intermezzo unter den Kreuzfahrern von 1099 bis 1187 nichts wesentlich geändert, auch nicht die Eroberung der Altstadt durch israelische Fallschirmjäger im Juni 1967.

Das sind nur einige Paradoxien im einzigartigen Spannungsgeflecht Jerusalems.

Es sind Spannungen und Ansprüche auf dieselben Quadratmeter Erde, die kein Friedensvertrag jemals zu lösen vermöchte. „Die wahren Probleme haben keine Lösung, sondern Geschichte“, hat der Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila einmal sehr hellsichtig erkannt. In Jerusalem aber hat jeder Stein Geschichte. Das hat die Stadt zu einem Stein gewordenen wahren Problem gemacht. Hier altert deshalb auch keine der Reportagen wirklich, die ich im Lauf von fast vierzig Jahren über die Stadt geschrieben habe. Sie bleiben alle gespenstisch aktuell.

Auch der Morgen, an dem ich Ariel Scharon am 28. September 2000 auf Armlänge bei seinem Gang „für ein Gebet“ auf den Tempelberg begleitet habe, ist mir deshalb vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Es war der vorletzte Tag des jüdischen Jahres 5760. Der Führer der oppositionellen Likud-Partei wollte mit dem Schritt die ungeschmälerte Souveränität und Autorität des Staates Israel auch auf dem muslimischen Tempelberg in Jerusalem als der ungeteilten Hauptstadt Israels vor aller Welt unter Beweis stellen, mitten in den so genannten Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina und Ehud Barak und Jassir Arafat, auch um den „Endstatus Jerusalems“.

Der alte General wusste, was er tat. Nicht umsonst ließ er sich von einer Hundertschaft Agenten, Polizisten, schwer bewaffneten Grenzschützern und einer Sanitätseinheit begleiten, die ihre Tragbahren schon vorsorglich an dem Geländer der Rampe zum Tempelzugang durch das Maghreb-Tor in einer Reihe aufstellten.

Helikopter knatterten über der Altstadt. Vor der Al Aksa-Moschee stürzten plötzlich aufgebrachte Beter auf Scharon zu, Steine und Plastikstühle flogen durch die Luft, plötzlich fielen erste Schüsse. Tränengasschwaden trieben die Demonstranten zurück, ein verletzter Junge und ein Soldat wurden weggetragen. Nach einer dreiviertel Stunde trat Ariel Scharon den Rückzug an, gefolgt von wütenden Arabern, die mit fuchtelnden Fäusten schrien: „Der Mann will den Frieden töten!“ – „Haut ab nach Mekka!“ antwortet ihnen aus dem Pulk um den Oppositionsführer eine laute Stimme in breitem Amerikanisch: „Verschwindet aus unserem Land!“ Scharon selbst hingegen erklärte den  Fernsehsendern gleich danach auf dem Platz vor der Klagemauer: „Ich bin mit einer Botschaft des Friedens auf den Tempelberg gekommen“. Es war der Anfang der zweiten Intifada. Es war der Al-Aksa-Aufstand, der  an diesem Tag mit vierzig Verletzten begann und den Israel in einem zähen Kleinkrieg wieder niederschlug, nicht in einem neuen Sechstagekrieg, sondern in vier furchtbaren Jahren mit über dreitausend palästinensischen Toten und rund tausend eigenen israelischen Opfern.

Der Besuch Scharons war ein Funke an einem Pulverfass und er offenbarte mit diesem Schritt – ebenso wie jetzt Präsident Trump mit seiner einseitigen Entscheidung! – eine gewaltige Verachtung der Realität. Denn es war gerade keine „Anerkennung der Realitäten“, wie damals wie heute die verschiedenen Propagandafabriken aus Tel Aviv oder Washington  zu suggerieren versuchten.

Denn es ist ja keine Frage, dass Jerusalem für das Judentum eine einzigartige Rolle spielt. Das muss nicht eigens dadurch unterstrichen werden, dass Jerusalem zur Hauptstadt des Staates Israel erklärt wird. Es ist aber auch keine Frage, dass die Präsenz der Muslime auf dem Felsenberg mitten in Jerusalem seit dem Jahr 632 nicht einfach „Nichts“ ist. Auch diese Tatsache hat ein Gewicht und eine Geschichte, die sehr wohl respektiert werden wollen.

Dass Scharon damals  oder Trump heute den Friedensprozess im Heiligen Land durchkreuzten, kann dennoch  keiner behaupten. Von diesem Prozess kann schon lange keine Rede mehr sein, und falls es ihn je gab, kam er bei der unlösbaren Frage nach Jerusalem immer schon an sein Ende. Als damals in der heißen Phase der Verhandlungen der jordanische König den noblen Vorschlag vorbrachte, man solle Jerusalem aus allen Streitfragen  heraushalten und die Stadt stattdessen der „Souveränität Gottes“ unterstellen, war der Vorschlag schneller vom Tisch als er dahin gekommen war. Gleichzeitig ging der Siedlungsbau auch damals – und mitten in der Intifada – ungebremst weiter. Das heißt, der Aufbau ganzer Städte und Autobahnen Israels mitten in und quer durch Palästina. Das geht so bis auf den heutigen Tag, wo so in die palästinensische Altstadt Jerusalems vordringen und über Strohmänner angekaufte Häuser augenblicklich in stacheldrahtumsäumte Festungen verwandeln.

In eine homogene ungeteilt jüdische und israelische Stadt werden sie Jerusalem aber auch damit niemals verwandeln können. Denn hier werden sich inkompatible Ansprüche ja bis zum Ende der Zeit immer weiter auf denselben Ort konzentrieren, der in Europa bis ins hohe Mittelalter als Mitte der Erde in unsere Landkarten und Weltbilder eingezeichnet war. Es ist der gleiche Platz, wo Wladimir Solowjew vor hundert Jahren den apokalyptischen Endkampf der Mächte dieser Welt in seiner visionären „Kurzen Erzählung vom Antichrist“ in Szene gesetzt hat. 

Bis dahin aber ist und bleibt die „ungeteilte Hauptstadt“ auf brisante Weise geteilt. „Diese Widersprüchlichkeit Jerusalems scheint schon im Namen der Stadt verankert“, hat der Schriftsteller Amos Elon (1926–2009) dazu einmal bemerkt. „Denn das Suffix ‚aim‘ in ‚Jeruschalaim‘ kennzeichnet im Hebräischen immer den Begriff eines Paares; es gehören also immer zwei Elemente zu solchen Wörtern: wie beispielsweise in ‚Einaim‘ für die Augen oder ‚Osnaim‘ für die Ohren. Und merkwürdig, in Jeruschalaim erstreckt sich dieser Gegensatz sogar auf die Landschaft. Die Stadt liegt genau auf der Wasserscheide zwischen Ost und West. Die Grenzlinie zwischen Wüste und kultiviertem Land läuft mitten durch die Stadt. Die schroffen Berge der Wüste von Juda, die im Osten der Stadt zum Toten Meer hin abfallen, stehen im krassen Gegensatz zu den grünen, bewaldeten Hügeln im Westen, wo der Wein wächst und es Weizen, Oliven und Feigen in Fülle gibt.“ Ja, mitten aus der Stadt heraus lässt sich hier im Osten der Gipfel des Ölberges erkennen, hinter dem die Judäische Wüste zum Toten Meer hin abfällt.

Jerusalem, Jerusalem. Jeruschalaim und Al Kuds. Wem gehört also die Stadt? Den Lebenden? Den Toten? Geteilt ist „die ungeteilte Hauptstadt“, wie gesagt, schon seit ewig und für immer – und so ist die Heilige Stadt wohl auch nur zu besitzen: geteilt und gemeinsam. Das scheint ihr tiefstes Geheimnis. Wenn irgendwo, dann muss endlich hier der Beweis erbracht werden, dass die verschiedensten Völker und Kulturen auch in der Enge einer einzigen Stadt ohne Massaker und ethnische Säuberungen zusammen leben können – auch wenn die Geschichte Jerusalems oft Beweise des puren Gegenteils geliefert hat. Aber es geht nicht anders. Hier werden die unerledigten Hausaufgaben der Menschheit immer wieder von Neuem auf den Tisch gelegt. „Die Israelis und die Palästinenser sind bestimmt, Tür an Tür miteinander zu wohnen“, betont Amos Oz (*1939) seit vielen Jahren schon, „ob wir es mögen oder nicht, ob wir uns mögen oder nicht, ob wir uns ähnlich sind oder nicht, ob wir uns in der Zukunft ähnlich werden oder nicht. Wir werden Tür an Tür miteinander leben müssen – als engste Nachbarn, mit allen Unterschieden, mit einer ganzen Palette verschiedener Traditionen, mit dem Bewusstsein, dass die menschliche Art eine Polyphonie bleibt und bleiben wird und bleiben muss.“ Doch Menschen wie Amos Oz und Amos Elon gehören inzwischen schon fast alle beide dem Jenseits an.

Dennoch beleuchtet jeder Blick in die Vergangenheit hier auch immer schon die Zukunft prophetisch und warnend mit. In der Beschreibung des „Jüdischen Krieges“ durch Flavius Josephus waren die radikalen jüdischen Zeloten die wahren Akteure des Untergangs ihrer Metropole, mehr noch als der Römer Titus, der Jerusalem im Jahr 70 schließlich in Brand setzte. Seit alters her scheint hier keiner vitaler als die Radikalen; in Jerusalem überleben sie jede Katastrophe und es bleibt verstörend, dass sich so viele alte Visionen vieler Zeiten zusammen mit Berichten furchtbarer Massaker so deckungsgleich auf diesen einen konkreten kleinen Ort beziehen.

Vor allem solcher Verheißungen wegen haben sich alle Orte des Abendlands in der langen Geschichte Europas auch immer auf diese Stadt hin orientiert – und mehr noch auf ihr vollendetes Abbild im himmlischen Jerusalem hin. Jeder Dom, jede Dorfkirche und jede Kapelle zwischen Palermo und Oslo weiß davon ein Lied zu singen. Und wer, wenn nicht Europa sollte sich deshalb heute auch besonders mitverantwortlich für das fühlen, was hier geschieht – im Guten wie im Bösen?! Denn die Unheilsgeschichte Europas hat ja schließlich erst Israel in gewaltigen Wehen zurück in die Welt und in die Geschichte gepresst. Die Tragik des heutigen Jerusalems ist undenkbar ohne die Vertreibung und Ermordung der Juden Europas, vom neunzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert, von den Russen bis zu den Deutschen  – wofür hier heute vor allem die Palästinenser ihren Preis bezahlen.

Es ist diese lange Geschichte, die wir heute im Heiligen Land nachlesen können wie in einem offenen Buch: Jerusalem faktisch in der Hand Israels. Darin, wie auf einem Handteller, der ehemalige jüdische Tempelberg in der Hand der Muslime, mit großen Teilen der Altstadt Jerusalems. Sollte Israel seine Hand jemals zu schließen versuchen, könnte das Drehbuch für den Weltuntergang hier zugeklappt werden. Es wäre das Ende.

Darum wurde ausgerechnet in Jerusalem schon im neunzehnten Jahrhundert das Prinzip des Status Quo als ein quasi heiliger Grundsatz zur Erhaltung des Friedens für die so unfriedliche Heilige Stadt gefunden. 

Doch wie sollen sich Christen im Streit um Jerusalem nun positionieren, aus der unser Erlöser und wir alle herstammen? Zunächst einmal so. Hier kann es nur eins für uns geben: Das ist radikale Parteilichkeit – und zwar für beide Seiten!

Dann ein Zweites. Als Christen mit Helena, der Mutter Kaiser Konstantins, um das Jahr 325 erstmals von Jerusalem Besitz ergriffen, ließen sie den alten zerstörten Tempelplatz als prophetisches Zeichen unberührt liegen und bauten stattdessen die Grabes- und Auferstehungskirche Christi im Westen der Ruinen des alten Tempels als neues Zentrum der Stadt auf. Denn für sie war ja Maria, die Mutter Gottes, inzwischen zum neuen Tempel geworden. Die Jungfrau, das heißt: dieses kleine jüdische Mädchen sei als Mutter Jesu zum letzten „Haus“ geworden, in dem Gott Wohnung genommen habe, erklärten sie damals, noch realer und konkreter als vorher im Allerheiligsten des alten Tempels. Skandalöser und kühner war noch nie von der Würde des Menschen gedacht worden – und vor allem nicht von der Würde der Frau. Seit damals verehren die Christen die Tochter Annas und Joachims als ihren neuen Tempelberg – an dessen Nordseite sie bei der Anna-Kirche zur Welt kam, wo noch heute ihr Geburtsort verehrt wird.

Darum verlangt die neue Krise um Jerusalem wohl am besten einen Feldzug des Rosenkranzes von den Kirchen des Westens und des Ostens wie in den Tagen von Lepanto, mit dem Zusatz: „Maria, Königin des heiligen Landes, bitte für uns, für Israel und Palästina, für Netanyahu und Abbas und Putin und Trump und für Jerusalem! Amen!“

Zuerst erschienen im VATICAN Magazin. Veröffentlicht bei CNA mit freundlicher Genehmigung.

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