Die Hafenviertel der großen Städte waren seit jeher Orte des Zwie- und Rotlichts. Gauner aller Art und aller Länder trieben dort ihr Unwesen, Zuhälter kontrollierten die Prostitution, Schmuggler verschacherten ihre Waren. Bettler, die Ärmsten der Armen, lagen an Molen und Kaimauern, um einen Brosamen der auf Schiffen ein- und ausgeführten Lebensmitteln zu ergattern oder einen Groschen von der Heuer der Seeleute. In den Spelunken regierten Glückspiel und Suff. Krankheiten aller Art, nicht zuletzt Cholera und Pest, kamen über die Häfen ins Land und fanden dort ihre ersten Opfer – kurzum, das was man heute als bunt bezeichnet, fand man in den Gassen der Hafenanlagen, die ihre Bewohner jedoch eher als grau und schmutzig empfanden.

So oder so ähnlich dürfen wir uns auch die Anlegestellen Genuas vorstellen. Seit jeher war die Stadt einer der größten Häfen Italiens – und auch einer der berüchtigtsten. Im 19. Jahrhundert gehörte ein bleichgesichtiger und magerer Kapuziner zu diesem bunt-grauen Panoptikum, Francesco Maria da Camporosso – "Il Padre Santo" – wie ihn die Hafeneinwohner nannten, ein Almosenbruder des Kapuzinerklosters zur unbefleckten Empfängnis.

Almosenbrüder gehörten zum Genpool des Kapuzinerordens; ja, noch bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren sie dort, wo die Kapuziner einen Konvent hatten, aus dem Straßenbild nicht wegzudenken: Kein Wunder für einen Orden, dessen Gründungsimpuls ja gerade in der Erneuerung des franziskanischen Armutsideals bestand. "Die Brüder sollen sich nichts aneignen, weder Haus noch Ort noch sonst eine Sache", schrieb der Heilige Franziskus in Kapitel 6 seiner Regel, und weiter: "Und gleichwie Pilger und Fremdlinge in dieser Welt, die dem Herrn in Armut und Demut dienen, mögen sie voll Vertrauen um Almosen bitten gehen und sollen sich dabei nicht schämen, weil der Herr sich für uns in dieser Welt arm gemacht hat". So wurde es zu einer der wichtigsten, aber auch anstrengendsten Aufgaben der Fratres, nur mit einem groben Quersack auf den Schultern durch die Straßen zu ziehen, um Geld, Lebensmittel und andere nützliche Dinge für den Unterhalt der Brüder und des Konvents zu sammeln. Zu diesem Zweck teilte man große Städte wie Genua in Bezirke ein, die dann jeweils einem verdienten Bruder zur Kollekte übergeben wurden.

Almosenbrüder waren zusammen mit den Pförtnern das Bindeglied zwischen dem Konvent und der "Welt, da draußen", mit allen ihren Problemen und Abgründen. Denn die Menschen begegneten dem Kapuzinerorden vor allem durch sie, die damit als "Öffentlichkeitsarbeiter", als Missionare vor Ort fungierten. Ihnen verdankten die Kapuziner in Italien, aber auch weiten Teilen Deutschlands und Europas, ihre Beliebtheit, ja ihre Volkstümlichkeit, denn die Brüder sammelten in vielen Fällen nicht nur, sie gaben auch. Sie kümmerten sich um ihr Viertel, sahen nach den Armen und Kranken, unterwiesen die Kinder im christlichen Glauben und fungierten als geistlicher, aber auch menschlicher Kummerkasten. Gerade weil sie keine Priester waren, konnten sie in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft den Menschen auf Augenhöhe begegnen.

Kein Wunder, dass die Oberen die Almosenbrüder mit Sorgfalt auswählten und darauf achteten, dass sie ihrer Aufgabe auch gewachsen waren. Viele bedeutende Kapuziner haben diesen Dienst versehen, unter anderem auch Felix von Cantalice, der erste Heilige des Ordens, und eben jener Francesco Maria da Camporosso, von dem wir anfangs sprachen. Dieser Francesco Maria hatte zuvor schon die harte Schule von Armut und Krankheit durchlaufen. Die Armenmission als Kollektenbruder sollte seine Berufung werden.

Das alles geschah zu einer Zeit, als die Kirche in Italien einen schweren Stand hatte. Mitten in die Ausläufer der französischen Revolution hinein wurde Francesco Maria am 27. Dezember 1804 als jüngstes Kind der Familie Croese in Camporosso geboren, auf einem Felsvorsprung über der italienischen Riviera und direkt an der französischen Grenze. Der Ort gehörte damals mit Genua zur ligurischen Republik und wurde 1806 Teil des napoleonischen Kaiserreichs. Da er am Festtag des Lieblingsjüngers Johannes geboren wurde, nannte man den neuen Erdenbürger Giovanni. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Die tiefgläubigen Eltern waren Kleinbauern; von den vier Kindern überlebten drei, was für damalige Verhältnisse schon viel war. Lesen, Rechnen und Schreiben lernte der kleine Giovanni vom Ortspfarrer Don Bernardino, der eine Elementarschule eingerichtet hatte.

Dieses Umfeld war es, das in dem Jungen den Wunsch aufkeimen lies, sein Leben ganz dem Herrn zu widmen. Man täusche sich nicht: Auch das war damals nicht die Regel und schon mit zehn Jahren galt er als Sonderling – oder als etwas Besonderes, wenn er etwa lieber betete statt spielte oder seinen Altersgenossen den Katechismus beibrachte. Mit dreizehn Jahren erkrankte er schwer. Die Eltern brachten ihn zum Marienheiligtum der "Madonna di Laghetto" bei Nizza. Giovanni überlebte und kam wieder zu Kräften. Aus Dankbarkeit widmete er sich den Armen des Ortes, mit denen er Taschengeld und Brot teilte. Nun war klar, das Kind gehörte Gott und ganz offensichtlich der franziskanischen Lebensweise.

Damals war gerade das französische Kaiserreich zusammengebrochen. Camporosso gehörte wieder zu Savoyen und nach abgeschüttelter "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" blühten Kirche und Klöster wieder auf. So trat der Achtzehnjährige 1822 als Franziskaner-Terziar mit dem Namen Bruder Antonius in den Konvent von Sestri Ponente ein. Aber dort war ihm das Ordensleben nicht streng genug. Als er einen jungen Kapuziner vor dem Allerheiligsten beten sieht, durchzuckt ihn ein Gedanke: "Das ist der Orden, in dem Gott dich haben möchte." Doch der Guardian von Sestri Ponente will den fleißigen und frommen Bruder Antonius nicht ziehen lassen. Insgeheim erhielt der aber die Zusage, in das Kapuzinerkloster von Voltri bei Genua eintreten zu dürfen. Bei Nacht und Nebel verließ er sein altes Kloster im Dezember 1825, weil er den Widerstand der Mitbrüder fürchtete: Aus Bruder Antonius wurde der Kapuzinernovize Francesco Maria. Ein Jahr später, am 17. Dezember 1826, legte er in Voltri der Profess ab und wurde kurz darauf von seinen Oberen nach Genua geschickt, wo er bis zu seinem Tode bleiben sollte. Nach kurzer Zeit schon übertrug man dem neuen Mitbruder die Krankenstation. Er pflegte die kranken Brüder und begleitete die Sterbenden. Nach drei Jahren kam eine neue Aufgabe: Der Almosendienst im Hafenviertel von Genua. Hier wurde er zum Heiligen – zum "Padre Santo", ohne selbst Pater zu sein.

An dieser Stelle müssen wir einen Moment innehalten, um zu verstehen, was Francesco Maria und mit ihm viele andere Brüder geleistet haben. Können wir uns das überhaupt vorstellen? All das Elend, den Gestank, den Schmutz, denen sich die Almosenbrüder tagtäglich aussetzten. Machen wir uns nicht vor: Wie schwer fällt es uns, schon den gepflegten und gesunden Nächsten zu ertragen, wenn er uns unsympathisch ist. Und dann den Bettler in der U-Bahn oder an der Straßenecke, der uns anbettelt und stinkt wie zehn Ziegenböcke! Der Autor dieser Zeilen bekennt es: Wie oft geht er mit gerümpfter Nase weiter, seinen Geldbeutel in der Tasche krampfhaft festhaltend? Wie oft kann er das Geschwätz der anderen nicht mehr aushalten, wie oft schaut er weg, wo er hinschauen müsste, wie oft muss er sich selbst anklagen, dass er lieblos gewesen ist?

Genau diesen und noch viel mehr Zumutungen liefert sich Francesco Maria da Camporosso jeden Tag aus! Schafft er das nur, weil er Armut selbst von klein auf kennt? Weil er selbst nichts besitzt, was festzuhalten lohnen würde, außer seinem Glauben und seinen Gelübden? Ist es das, was Jesus und der Heilige Franziskus uns sagten? "Geh, verkaufe, was du hast, gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!" (Mk 10, 21) antwortete Jesus dem reichen Jüngling, der wie wir die Kraft dazu nicht hatte. Und als die Jünger über diese Radikalität bestürzt waren und fragten, wer dann überhaupt noch gerettet werden könne, antwortete er: "Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich." (Mk 10,27). Es bedarf der Gnade Gottes, um diesen Weg zu gehen und womöglich liegt die Gnade auch darin, selbst arm zu sein, denn Francesco Maria bewegt sich unter seinesgleichen. Ihn trennt nichts von jenen, denen er im Hafen Genuas begegnet: Den Armen kann man nur in Armut helfen! Das ist das Geheimnis der heiligen Kapuzinerbrüder.

Wir selbst erleben es, wenn ein uns naherstehender Mensch erkrankt oder ein schweres Schicksal zu tragen hat. Dann tun wir alles, um ihm zu helfen, um seine Schmerzen, sein Leid, seine Trauer zu lindern. Wir tun es aus Liebe. Doch diese Liebe erstreckt sich eben oft nur auf unser nächstes Umfeld und reicht kaum darüber hinaus. Der heilige Almosenbruder geht einen Schritt weiter, sein Umfeld ist dort, wo er gerade ist. Er liebt die Menschen, die er vorfindet, weil er Jesus liebt und ihm nachfolgt. Das ist der Unterscheid zwischen Otto Normalverbraucher und einem Heiligen! Dabei brauchen wir nicht zu verzweifeln, denn zuerst antwortet Christus dem reichen Jüngling auf die Frage, wie er das ewige Leben erlange: "Du kennst doch die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen Vater und deine Mutter!" (Mk 10,19). Der Herr überfordert uns nicht. Das Heiligwerden dauert dann nur eben etwas länger.

Das war also die Mission und die Gnade Francesco Marias und sie ging, weil er sein Charisma bedingungslos lebte, mit Wundern einher. Er hatte die Seelenschau ohne Beichtvater zu sein, er gab treffsicher Ratschläge. Gerne kümmerte er sich um die Angehörigen der Seeleute und berichtete ihnen, ob es ihren Ehemännern und Söhnen gut gehe oder ob sie in Gefahr oder gar gestorben seien. Ein entsetzter Mitbruder bat ihn daraufhin, doch vorsichtig zu sein mit solchen Aussagen, die doch schlimmste Auswirkungen haben könnten. Er antwortete nur: "Aber nein! Die erste Eingebung ist die beste. Sie kommt von Gott; die späteren kommen von unserem grübelnden Verstand und sind oft falsch." So kommuniziert man mit Gott!

Auf seine Fürsprache wurden auch Kranke geheilt. Schon nach kurzer Zeit nannten ihn die Genueser nur noch "Il Padre Santo". Zu ihm ging man, wenn man Hilfe oder ein gutes Wort brauchte. Die Menschen warteten sogar noch vor dem Konvent auf ihn, bis er von seinen anstrengenden Sammelaktionen vom Hafen zurückkehrte. Dabei schonte er sich nicht, ging sogar im Winter barfuß bis zur Erschöpfung mit blaugefrorenen Füßen. Am Ende litt er unter Thrombose und offenen Beinen. Er musste seine Sammeltätigkeit aufgeben und half im Konvent bei den Armenspeisungen mit.

Auch die politischen Zeitläufe hatten die Kapuziner und mit ihnen Fra Francesco Maria eingeholt. Italien taumelte in den Wogen des Risorgimento. Das geeinte Land war eine Freimaurerrepublik, was der Heilige auch mehrmals auf den Straßen Genuas zu spüren bekam, wenn sogenannte Liberale mit Steinen nach ihm warfen. Am 31.12.1866 schließlich sollte das Kapuzinerkloster per Regierungsbeschluss geschlossen werden. Vorher konnte Francesco Maria seinem geliebten Genua aber noch einen letzten Dienst erweisen.

Im Sommer 1866 brach die Cholera in der Stadt mit einer nie gekannten Heftigkeit aus. Ein großes Sterben begann. "Il padre Santo", an Beinen und Füßen krank und altersschwach bot Gott sein Leben für das Ende der Epidemie an. So geschah es! Am 17. September 1866 erlag er genau dieser Krankheit und mit diesem Tag erlosch die Cholera in Genua. Sogar liberale Zeitungen widmeten dem beliebtesten Einwohner der Stadt einen Nachruf – das Kloster mussten die Kapuziner Ende des Jahres trotzdem verlassen. So sind sie, die Neuerer ihrer Zeit! Genua hat dafür einen Fürsprecher im Himmel. 1929 wurde Francesco Maria von Pius XI selig-, 1962 von Johannes XXIII. heiliggesprochen.

Was bleibt? Heute, in Zeiten wo alles machbar und damit organisierbar ist, gibt es zwar noch eine Armenpastoral; die Almosenbrüder aber sind verschwunden. Über ihr Verschwinden nachzudenken, bedeutet nicht nur über die Kirchenkrise (Stichwort: mangelnde Berufungen, wenige Gläubige), sondern auch über unsere postchristliche und postmoderne Gesellschaft selbst nachzudenken. In welchem Viertel sollte Francesco Maria noch unterwegs sein, wo würde man Sinn und Zweck seines Auftauchens überhaupt noch verstehen? Wer sollte noch an seine Wunder glauben, ja sie überhaupt begehren? Ein Almosenbruder taugt im heutigen Straßenbild bestenfalls noch als Motiv für ein surrealistisches Gemälde. Denn auch die Konvente selbst müssen heute keine Almosen mehr sammeln.

Leise, ganz leise, steigt da die Ahnung auf, dass jene Kombination aus Christusnachfolge, Armut und Nächstenliebe, wie sie die Almosenbrüder lebten, aber auch heilige Priester wie Pater Pio, Voraussetzung für die Gnade der Wundertätigkeit und der Seelenschau gewesen ist. Wohl deswegen sind diese Phänomene heute fast ganz verschwunden, zumal durch die rasant sinkenden Berufungen das notwendige Fundament dafür fehlt. Mit dem Heiligen Francesco Maria haben wir aber einen Fürsprecher dafür, dass die Wunder nicht ganz aufhören. Jene Wunder, die Kirche und Gläubige heute so dringend benötigen

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