Papst Franziskus hat in der Enzyklika Fratelli tutti seine Auffassung von dem Rechtsinstitut "Eigentum" dargelegt. Er beschreibt dieses Recht als ein sekundäres Naturrecht, das durch andere Naturrechte seine Begrenzung und Auflösung zu erfahren habe. Zur Begründung seiner Auffassung bezieht er sich auf Äußerungen des heiligen Johannes Chrysostomos, wonach das, was wir besitzen, nicht uns gehören dürfe, sondern den Armen. Weiter zitiert er Gregor den Großen, der verkündet hat, dass, wenn wir etwas den Armen geben, wir ihnen nur das gäben, was ihnen gehört. Da der Papst diese Forderungen unkommentiert in seine Enzyklika aufgenommen hat, hat er sich die rechtliche Bedeutung dieser Aussagen, wonach Reichen das Naturrecht auf Eigentum abgesprochen wird, zu Eigen gemacht. Verfolgt man konsequent diese Auffassung, dann stellt sich die Frage, aus welchem Grund der Papst im weiteren Verlauf seiner Argumentation über die Sozialpflichtigkeit räsoniert. Wenn die Güter der Reichen den Armen gehören, bleibt keine rechtliche Möglichkeit mehr, über die Beschränkung des Rechtes auf Eigentum nachzudenken. Da der Reiche das Eigentum ohne Rechtsgrund erhalten haben soll, hätte er es rechtswidrig erworben und müsste es infolge dessen herausgeben. Wenn der Papst allerdings die Sozialpflichtigkeit des unrechtmäßig erworbenen Eigentumsrechtes einfordert, hat er inzidenter eingeräumt, dass der Eigentümer sein Eigentumsrecht rechtmäßig erworben hat. 

In der Forderung nach Eigentumszuweisung an die Armen spricht sich der Papst nicht gegen die Möglichkeit aus, Privateigentum zu erwerben, allerdings darf es nur von den "richtigen" Personen erworben werden – von den Armen. Reiche haben ihr Recht auf Eigentum verspielt, nur Arme dürfen über dieses Recht verfügen. Allerdings birgt diese Forderung ein Dilemma in sich, da die Reichen durch den Übergang des Eigentumsrechtes ihr Attribut "reich" verlieren und damit arm werden, und – im Gegenzuge – die Armen dann nicht mehr arm sind, was aber die Rechtfertigung für ihre vermeintliche Rechtsposition war, sie wären reich. Folglich müssten die Neureichen das Eigentum wieder an die Neuarmen zurückgeben, schließlich sollen die Güter nur den Armen gehören, nie aber den Reichen, was auf einen immerwährenden Austauschprozess hinausläuft.

Papst Leo XIII. hat erkannt, dass das Privateigentum die unhintergehbare Grundlage einer menschlichen Gesellschaft ist und hat damit festgestellt, dass das Recht auf Privateigentum jedem Menschen zusteht und dass keinem Menschen das Privateigentum vorenthalten werden darf. Er wandte sich deshalb von der Vorstellung ab, dass die Geltendmachung des Rechtes auf Privateigentum für alle als verwerflich angesehen werden müsse, wie es Karl Marx gefordert hat. Nur wenn das Recht auf Eigentum von jedem erworben und dann geltend gemacht werden kann, hat jeder Staatsbürger auch die Möglichkeit, Vermögen zu schaffen, ohne dass er befürchten muss, sein Eigentum wieder an die Eigentumslosen abgeben zu müssen. Auch wenn vielleicht sogar das wichtigste Prinzip in der Politik ist, dass die Mehrheit der Besitzlosen über die Minderheit der Besitzenden verfügen darf, verbietet es sich, dem Eigentümer zu suggerieren, dass er unter Missachtung der Rechte der Armen sein Eigentum erworben hat.

In dem Verweis auf die eigentumsrechtlichen Vorstellungen von Johannes Chrysostomos und Gregor des Großen scheinen vermeintliche urchristliche Vorstellungen auf, die allerdings nicht beinhalten, dass – wie im Kommunismus – das Rechtsinstitut "Privateigentum" nicht existiert. Im Gegenteil. Jeder hatte die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben, allerdings unterlag es, wie es in der modernen Rechtssprache lautet, der Sozialpflichtigkeit. Auch wenn in der frühen Gemeinde – so Kardinal Müller – gegolten habe, dass allen alles gemeinsam gehöre, so habe gleichwohl keine Gütergemeinschaft vorgelegen. Die Reichen hätten sich vielmehr der "Sozialpflichtigkeit" verbunden gefühlt und hätten infolge dessen ihre Güter und ihr Eigentum der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt. Eine totale Aufgabe des Eigentums zu Gunsten der Armen ist demnach nicht in der Bibel gefordert, nur eine Sozialpflichtigkeit. Diese Forderung hat Papst Leo XIII. vollkommen zu Recht aufgegriffen und sie zur Grundlage der katholischen Soziallehre erhoben. Diese wurde dann auch das Fundament, auf dem unsere Eigentumsordnung aufgebaut ist. Nicht der Eigentumsentzug ist demnach das Fundament unserer Gesellschaft, sondern die sinnvolle Nutzung des Eigentums unter Berücksichtigung des Gemeinwohles. 

Die Folge ist, dass lediglich eine gesellschaftliche Übereinkunft über das Ausmaß der Sozialpflichtigkeit herbeigeführt werden muss. Unter Berücksichtigung der eigentumsrechtlichen Vorstellungen von Papst Franziskus könnte – unter Umgehung der eigentumsrechtlichen Forderungen von Leo XIII. – die Sozialpflichtigkeit so weit ausgedehnt werden, dass das Eigentumsrecht zwar nicht theoretisch, aber praktisch aufgehoben wird. Dies wäre dadurch möglich, dass das Eigentumsrecht der Reichen einer totalen Sozialpflichtigkeit unterliegen müsse, damit das Eigentum ausschließlich von den Armen genutzt werden kann. Nur dann wäre zumindest in der tatsächlichen Auswirkung die Forderung von Johannes Chrysostomos und Gregor dem Großen erfüllt. Rechtlich ist freilich ein solcher tatsächlicher Eigentumsentzug zumindest und zum Glück in der nicht-kommunistischen Welt ausgeschlossen. Das Eigentumsrecht darf nicht in seinem Kernbereich weder tatsächlich, noch rechtlich aufgehoben werden. Diese Möglichkeit besteht nur, wenn eine adäquate Entschädigung gezahlt wird.

Die katholische Soziallehre will einen starken Mittelstand aufbauen. Denn nur dadurch können die Unterschiede von arm und reich nivelliert werden. "Dieser Schritt – so wiederum Kardinal Müller – ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg ganz gut gelungen."

Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums darf nicht über das Eigentumsrecht an sich triumphieren. Das Eigentumsrecht steht über der Sozialpflichtigkeit. Im Eigentumsrecht des Eigentümers ist die Berechtigung zu allen einzelnen Verhaltensweisen verankert, Einschränkungen sind folglich immer Rechte und Ansprüche an fremden Sachen. "Solche Rechte sind Geschöpfe der einzelnen Rechtsordnungen", wie der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch konstatiert hat, also nur von Menschen gemachte positive Rechte. Damit ist ausgeschlossen, dass das Naturrecht auf Eigentum, das übrigens inzwischen als eine katholische Sonderlehre von großen Teilen der Rechtswissenschaft – leider – abgelehnt wird, als ein sekundäres Naturrecht angesehen werden darf. Auch wenn das Naturrecht durch ein anderes Naturrecht vermeintlich eingeschränkt wird, kann es aber nicht durch das Naturrecht selbst eingegrenzt werden, sondern nur durch ein von Menschen gemachtes positives Recht. Und dieses Recht ist immer geringwertiger als das Naturrecht.

Nur wenn das Privateigentum für jeden gewährleistet wird und dieses im Interesse des Gemeinwohls genutzt wird, kann auch jedermann Vermögen erwirtschaften. Diese Intention steht hinter den Lehren von Leo XIII. und der katholischen Soziallehre. Allerdings wird sie von vielen Potentaten der Dritten Welt nicht befolgt – ein Grund für die Armut.

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