Vatikanstadt - Freitag, 25. November 2022, 13:25 Uhr.
Teil eines größeren Leibes
Es gibt einen Absatz im Schreiben des Heiligen Vaters an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, der den Hintergrund für meine kurze Rede bildet. Papst Franziskus schreibt in Absatz 9 des soeben zitierten Briefes:
„Die Weltkirche lebt in und aus den Teilkirchen [Lumen gentium, 23], so wie die Teilkirchen in und aus der Weltkirche leben und erblühen; falls sie von der Weltkirche getrennt wären, würden sie sich schwächen, verderben und sterben. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Gemeinschaft mit dem ganzen Leib der Kirche immer lebendig und wirksam zu erhalten. Das hilft uns, die Angst zu überwinden, die uns in uns selbst und in unseren Besonderheiten isoliert, damit wir demjenigen in die Augen schauen und zuhören oder damit wir auf Bedürfnisse verzichten können und so denjenigen zu begleiten vermögen, der am Straßenrand liegen geblieben ist. Manchmal kann sich diese Haltung in einer minimalen Geste zeigen, wie jene des Vaters des Verlorenen Sohnes, der die Türen offen hält, so dass der Sohn, wenn er zurückkehrt, ohne Schwierigkeiten eintreten kann [vgl. Evangelii gaudium, 46]. Das bedeutet nicht, nicht zu gehen, nicht voranzuschreiten, nichts zu ändern und vielleicht nicht einmal zu debattieren und zu widersprechen, sondern es ist einfach die Folge des Wissens, dass wir wesentlich Teil eines größeren Leibes sind, der uns beansprucht, der auf uns wartet und uns braucht, und den auch wir beanspruchen, erwarten und brauchen. Es ist die Freude, sich als Teil des heiligen und geduldigen treuen Volkes Gottes zu fühlen.“
Die folgenden Worte möchten nun in jedem von uns von neuem dieses Bewusstsein wecken, dass wir konstitutiv Teil eines größeren Leibes sind, und dass gerade diese Gemeinschaft mit allen anderen Gliedern der Kirche - mehr als tausend Gesten oder lautstarke Erklärungen - jene Gastfreundschaft ermöglichen kann, die heute so notwendig ist gegenüber denjenigen, die am Straßenrand zurückbleiben.
Und in der Tat gibt es sehr viele Männer und Frauen, die sich heute nicht mehr „zu Hause“ fühlen im Haus des Herrn und draußen bleiben. Und es gibt sehr viele, die sich von den Männern und Frauen der katholischen Kirche zutiefst verraten fühlen und nicht mehr hingehen. Vor allem aber gibt es sehr viele Männer und Frauen, die kein Vertrauen mehr in uns Bischöfe haben. Und das geschieht nicht ohne Grund. Wir denken hier sofort an das schmerzliche Kapitel des sexuellen Missbrauchs und ganz allgemein des Machtmissbrauchs durch Geistliche und an all die Male, in denen unsere Reaktion als Kirche in solchen Fällen der Situation nicht angemessen war. In dieser Hinsicht werden wir nicht müde werden, die Opfer dieses Missbrauchs um Vergebung zu bitten und ihnen, wenn möglich, unsere Hilfe anzubieten; gleichzeitig werden wir nicht müde werden, jeden Tag unsere Entschlossenheit zu erneuern, auf dass es nie wieder zu Missbrauch von Minderjährigen und zu Machtmissbrauch durch Männer und Frauen der Kirche kommen möge. Was das betrifft, kann ich Ihnen versichern, dass sich das Dikasterium für die Glaubenslehre mit aller Kraft und mit größter Aufmerksamkeit dafür einsetzt, dass die im Codex des kanonischen Rechtes vorgesehenen Strafen gegen jene Kleriker verhängt werden, die sich solcher abscheulichen Verbrechen schuldig gemacht haben.
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Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen die Anstrengungen, die die Kirche in Deutschland in ihrem Innern unternimmt, um Sicherheitsprotokolle zu erstellen, damit jeglicher Missbrauch von Minderjährigen und jede andere Form von Gewalt gegen Erwachsene durch Kleriker und in jedem Fall innerhalb kirchlicher Einrichtungen verhindert werden, mehr als lobenswert. Dieser Einsatz hat in dem von der Kirche in Deutschland 2019 initiierten Synodalen Weg, der gerade in diesen Monaten eine besonders wichtige Phase erreicht, seine besondere Konkretisierung erfahren.
Eben in diesem Geist des „Wissens, dass wir wesentlich Teil eines größeren Leibes sind, der uns beansprucht, der auf uns wartet und uns braucht, und den auch wir beanspruchen, erwarten und brauchen“, wie es in den eingangs zitierten Worten des Schreibens des Heiligen Vaters an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland heißt, ist es meine Aufgabe als Präfekt des Dikasteriums für die Glaubenslehre, Ihnen, verehrte Mitbrüder, fünf konkrete Bedenken vorzutragen, die sich aus einer sorgfältigen Lektüre der bisher auf Ihrem Synodalen Weg diskutierten Texte ergeben.
Das erste Bedenken betrifft die literarische Gattung der Texte. Da es sich nicht um eine Synode, sondern um einen Synodalen Weg handelt, scheint vorerst kein Abschlussdokument geplant zu sein. Aber sollten wir nicht an so etwas wie ein Abschlussdokument des Synodalen Wegs oder etwas Ähnliches denken? Eine solche Frage drängt sich auf, wenn man feststellt, dass es in vielen Passagen der Texte des Synodalen Wegs allgemeine Aussagen über die im heiligen Volk Gottes vorhandenen Positionen gibt, anspielende Verweise auf wissenschaftliche und soziologische Erkenntnisse, die Verwendung von Ergebnissen der Exegese, die immer noch diskutiert werden und diskussionswürdig sind, nicht hinterfragte Erklärungen über ein Ende der Metaphysik und die Eklipse aller Wahrheit, allgemeine Protokolle über die mögliche öffentliche Anerkennung der kirchlichen Lehre und schließlich Verweise auf ungenannte Theologen und Theologinnen ohne die Möglichkeit der Identifizierung. Diese Dinge sind vielleicht für die Autoren der Texte und für qualifizierte Leser sehr klar, aber wenn wir Teil eines größeren Leibes sind und diese Texte (mit ihren bereits verfügbaren Übersetzungen in andere Sprachen) eine globale Verbreitung zu finden beginnen, scheint es nicht abwegig, ein Schlussdokument oder etwas Ähnliches vorzuschlagen, in dem ein lineareres Vorgehen und eine geringere Abhängigkeit von Behauptungen, die nicht vollständig gesichert sind, zum Ausdruck kommen kann.
Das zweite Bedenken gilt dem Zusammenhang zwischen der Struktur der Kirche und dem Phänomen des Missbrauchs von Minderjährigen durch Kleriker und anderen Missbrauchsphänomenen. Der in den Texten enthaltene Diskurs scheint, auch aufgrund ihrer Länge und der notwendigen mehrfachen Wiederholungen, der spezifischen Natur des kirchlichen Leibes nicht Rechnung zu tragen. Es versteht sich von selbst, dass alles getan werden muss, um weiteren Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker zu verhindern, aber dies darf nicht bedeuten, das Geheimnis der Kirche auf eine bloße Machtinstitution zu reduzieren oder die Kirche von vornherein als eine strukturell Missbrauch hervorbringende Organisation zu betrachten, die so schnell wie möglich unter die Kontrolle von Oberaufsehern gebracht werden muss. In dieser Hinsicht besteht die größte Gefahr vieler operativer Vorschläge der Texte des Synodalen Wegs darin, dass eine der wichtigsten Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils verloren geht, nämlich die klare Lehre von der Sendung der Bischöfe und damit der Ortskirche.