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Wie die Blasphemiegesetze in Pakistan „als Waffe“ eingesetzt werden

Ein junges Mädchen entzündet eine Gebetskerze in einem marianischen Schrein in Pakistan

Der Staat Pakistan ist für religiösen Fanatismus auch von Privatleuten unrühmlich bekannt. Doch der Terror ist faktisch von Staats wegen sanktioniert – anhand der pakistanischen Blasphemiegesetze erleben das Tausende schmerzlich, denn sie sind zum Tode verurteilt.

Haider Ali ist 16 Jahre alt, er ist Muslim und lebt in Pakistan. Trotz seines jugendlichen Alters hat er bereits drei Jahre und zwei Monate Haft hinter sich – und nicht etwa in einem Jugendgefängnis, sondern in einer Zelle mit sechs weiteren erwachsenen Männern. Er war wegen angeblicher Blasphemie verhaftet worden. Die Anschuldigung: Er soll aus einem Koran eine Seite herausgerissen haben. Bekanntgemacht hat den Fall die christliche Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International (CSI). Deren Präsident, John Eibner, kritisiert: „Haider ist einer von Tausenden Christen und Muslimen, die aufgrund des pakistanischen Blasphemiegesetzes verfolgt werden.“

Mehr als 240 Millionen Menschen wohnen in Pakistan, fast 97 Prozent von ihnen sind Muslime. Die in der gesamten islamischen Welt bekannte Verfolgung von tatsächlicher oder angeblicher „Blasphemie“ – also der subjektiv empfundenen Beleidigung des Korans, des islamischen Propheten Mohammed oder Allahs – wird in Pakistan am radikalsten betrieben, und zwar mit Abschnitt 295 des pakistanischen Strafgesetzbuchs. Blasphemie ist demnach ein Kapitalverbrechen, worauf Gefängnis und sogar die Todesstrafe steht.

Die Blasphemiegesetze haben in Pakistan faktisch ein Klima der Straflosigkeit für religiösen Terror geschaffen. Das zeigt exemplarisch der Lynchmord an einem Manager im pakistanischen Sialkot im vorletzten Jahr, wobei im Nachhinein bewiesen werden konnte, dass alle Vorwürfe frei erfunden waren. Der Chef der Organisation „Human Rights Focus Pakistan“, Naveed Walker, beschrieb, was in Pakistan in einem solchen Fall passieren kann: „Die Sicherheitskräfte sind nicht eingeschritten. Im ersten Bericht haben sie geschrieben, es sei ihnen unmöglich gewesen, 800 bis 900 Menschen zu stoppen, aber in Wirklichkeit haben sie mit 20 Minuten Verspätung gehandelt.“ Für den verfolgten Mann kam jede Hilfe zu spät.

Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) analysiert: „Die Blasphemiegesetze sind vage ausgelegt, sodass auch friedliche Meinungsäußerungen strafbar gemacht werden können. Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Anwälte werden versucht durch konstante Drohungen einzuschüchtern.“ Bei Amnesty International (AI) kennt man konkrete Fälle: „Im Januar 2022 wurde eine Frau wegen angeblich blasphemischer Nachrichten, die sie über Whatsapp verschickt hatte, zum Tode verurteilt. Im Februar lynchte ein Mob im Bezirk Khanewal einen Mann, dem vorgeworfen wurde, er habe Seiten aus dem Koran verbrannt. Im Oktober wurde in Ghotki ein junger Mann mit Behinderungen, der jahrelang in einem lokalen Schrein gelebt hatte, von einem Mann, der ihn der Blasphemie bezichtigte, in einem Teich ertränkt.“ Gerade im letztgenannten Fall liegt die traurige Vermutung nahe, dass ein Mensch, der wegen seiner körperlichen Einschränkungen lästig wurde, unter falschem Vorwand in einer unter islamischen Vorzeichen radikalisierten Gesellschaft schlichtweg ermordet wurde. CSI-Präsident Eibner konkretisiert die Vorwürfe in Richtung Pakistan: „Böswillige Akteure können falsche Blasphemie-Anschuldigungen, die nur schwer zu widerlegen sind, leicht als Waffe einsetzen. Religiöse Minderheiten und Menschen mit niedrigem sozialem Status sind dann besonders gefährdet, und das betrifft durchaus auch viele Muslime.“

Seit dem Inkrafttreten dieses völlig willkürlich anwendbaren Gesetzes wurden fast 2.000 Menschen der Blasphemie beschuldigt. Dutzende Menschen verbüßen wegen entsprechender Anschuldigungen nach Schätzungen aus den USA lebenslange Gefängnisstrafen oder sind zum Tode verurteilt, seit die umstrittenen Gesetze unter dem früheren Militärherrscher Zia ul-Haq vor mehr als 30 Jahren eingeführt wurden. Vollstreckt wurde die Todesstrafe zwar noch nie, aber es wird damit ein fatales gesellschaftliches Signal der totalen Kontrolle muslimischer Instanzen gesetzt: „78 Menschen, die nach den Blasphemiegesetzen angeklagt waren, wurden im Gefängnis durch Mithäftlinge oder später von ihren eigenen Nachbarn ermordet“, erklärt Eibner. Die Menschenrechtsorganisation Agenzia Fides hat sogar 81 Morde in diesem Zusammenhang gezählt. Auf ihrer Seite ist zudem die Bestätigung zu finden, dass CSI aktuell vier Christen und sechs Muslime, die in Pakistan wegen Blasphemie angeklagt sind, unterstützt. Haider Ali kann all dies nur bestätigen: „Jeder Tag im Gefängnis war schrecklich“, sagt er gegenüber CSI. „Ich hatte ständig Angst, dass mich jemand umbringen würde.“

„Beim Blasphemiegesetz ist der Willkür Tür und Tor geöffnet“, bestätigt CSI-Präsident Eibner. Falsche Anklagen würden „benutzt, um unerwünschte Personen aus dem Weg zu räumen. Das ist innergesellschaftlicher Terror, der sich gegen Angehörige aller Religionen richten kann, und wir versuchen, allen gleichermaßen zu helfen.“ Diese breit gestreute Hilfe ist dringend nötig, weil eine anwaltliche Verteidigung gegen dieses Gesetz, das wie eine willkürlich eingesetzte gesellschaftliche Keule wirkt, kaum möglich ist. Die Opfer sind entweder mittellos oder werden beraubt, eine anwaltliche Verteidigung scheitert meist schon allein deswegen. Ständig drohen zudem Lynchmorde, und es ist egal, wie fadenscheinig und durchsichtig die falschen Beschuldigungen sind.

Das international bekannteste Opfer der Blasphemiegesetze ist Asia Bibi. Sie wurde 2010 zum Tod durch Erhängen verurteilt, weil sie sich abfällig über den Koran geäußert haben soll. Es gab lediglich mündliche Anschuldigungen, keinerlei gerichtsfeste Beweise. Der starke Verdacht reiner Willkür lag über dem gesamten Prozess. Asia Bibi bestritt alle Anklagepunkte vehement. Aber auch sie war mittellos, und trotz internationaler Hilfe dauerte es dementsprechend fast neun lange Jahre, die sie im Gefängnis verbringen musste, bis im Januar 2019 das Urteil durch das höchste Gericht aufgehoben wurde. Dieser späte Freispruch führte in Pakistan trotzdem zu tagelangen gewaltsamen Ausschreitungen muslimischer Bürger. Im Mai 2019 konnte Asia Bibi nach Kanada ausreisen. 2021 bezeichnete sie das Blasphemiegesetz als „Schwert in den Händen der muslimischen Bevölkerungsmehrheit“.

Im aktuellen Fall Haider Ali deuten die Umstände der Verhaftung ebenfalls auf Willkür. Bekannt ist nur, dass ein anderer Muslim, Faisal Azi, den 13-Jährigen beschuldigt hatte, Seiten aus einer Koranausgabe herausgerissen zu haben. Nach Haiders Verhaftung zeigte eine Behauptung Faisals dann, wie das Blasphemiegesetz in Pakistan wirkt: Faisal sagte nach Angaben von CSI, er habe Haider mit der Anschuldigung „einen Gefallen getan“, weil er ihn damit vor einem Lynchmord durch radikalisierte Glaubensbrüder geschützt habe – denn es geht hier, es sei nochmals betont, um einen Konflikt unter Muslimen. Faisal wörtlich: „Die Leute wollten Haider töten, aber ich habe ihn gerettet, indem ich ihn der Polizei übergab.“

Ein lokaler CSI-Partner stützte die Familie des inhaftierten Jugendlichen sowohl rechtlich als auch finanziell. Es war sogar nötig, dass die Familie an einen anderen Ort umzog, denn in Pakistan ist der Hass speziell über das Blasphemiegesetz tief in die Gesellschaft eingedrungen und hat zu totaler Willkür und dem Verlust eines ausgewogenen Rechtsverständnisses in breiten Bevölkerungsteilen geführt. CSI-Präsident Eibner: „Wer auch immer der Blasphemie beschuldigt wird, berechtigt oder unberechtigt, ist fortan de facto vogelfrei. Seine gesamte Familie gerät in größte Gefahr, und es kann vorkommen, dass das Haus von Nachbarn in Brand gesteckt wird oder sogar Familienmitglieder ermordet werden.“

Am 23. November 2022 hatte Eibner den damaligen pakistanischen Justizminister Sardar Ayaz Sadiq aufgefordert, die Blasphemie-Anklagen gegen zehn pakistanische Bürger, darunter Haider Ali, fallen zu lassen. Unter anderem hatte er kritisiert, dass „Anklagen wegen Blasphemie in Pakistan in der Regel von Polizeibeamten und anderen Anklägern gegen unschuldige Menschen erhoben werden, um Rache zu üben oder andere Formen unwürdiger persönlicher Befriedigung zu erlangen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, hier zu helfen, und zwar unabhängig vom religiösen Bekenntnis der Betroffenen.“ Und auch wenn die mörderische Problematik der Blasphemiegesetze in Pakistan noch lange nicht behoben ist – immerhin einem jungen Muslim konnte CSI nun helfen: Ein Jahr nach dem Brief Eibners ist Haider Ali wieder frei.

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