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Machtmissbrauch in der Kirche – Machtmissbrauch im Evangelium?

Wer nimmt noch den Teufel ernst?

Vor wenigen Tagen hat der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer in einem großen Interview "Wir haben Gott zum Softie gemacht" am 12. Juni 2019 mit der "Süddeutschen Zeitung" erneut Stellung bezogen – zu Themen, die sowohl die römisch-katholische Kirche als auch weite Teile der Gesellschaft von heute bewegen oder zu erschüttern scheinen. Wir alle dürfen Bischof Dr. Wilmer dankbar sein. Glaubwürdig ist seine Erschütterung über den Missbrauchsskandal im Bistum Hildesheim, und glaubwürdig ist auch sein energisch artikuliertes Interesse daran, zu einer vollständigen Aufklärung der Vorgänge beizutragen. Ja, die römisch-katholische Kirche ist keine Sonderwelt und auch nicht dazu berufen, als religiös verbrämte Anstalt für die Vertuschung von Straftaten und damit am Schutz strafrechtlich schuldig gewordener Mitarbeitern sich besonders hervorzutun. Der sexuelle Missbrauchsskandal ist und bleibt erschütternd. Was bleibt, sind Sprachlosigkeit und Entsetzen. Was not tut, ist die lückenlose Aufklärung der Vorgänge. Wilmer sagt richtig, dass die Kirche eine Institution in der Welt sei, die selbstverständlich auch mit allen anderen Institutionen zusammenarbeiten müsse. Der Hildesheimer Bischof verdient dabei jede nur mögliche Unterstützung. Viele Gläubige und viele Menschen, die nach Gott und Seiner Kirche sehnsüchtig sind, waren bitter und schmerzhaft berührt von dem Skandal des sexuellen Missbrauchs. Auch könnten alle sich darin einig sein, dass das Leid der Missbrauchsopfer nicht für kirchenreformerische Absichten instrumentalisiert werden darf. Wer fordert, dass die Kirche gerade jetzt strukturell und theologisch erneuert werden müsste, ist für das, was er sagt, tut und plakatiert, persönlich verantwortlich. Darf man solches fordern? Ich weiß es nicht. Wir gehen alle auf das Gericht zu, Weltchristen wie Kleriker, sogar jene unter den Weltchristen und Klerikern, die längst nicht mehr mit dem Gericht rechnen.    

Bischof Dr. Wilmer erinnert in dem Interview an Selbstverständlichkeiten: an die Anzeige von Straftaten und an Opferschutz. Es ist eigentlich grotesk, dass man an diese Selbstverständlichkeiten heute erinnern muss. Aber es ist natürlich dringend erforderlich, in der Kirche genauso wie in allen anderen Institutionen, ob es sich um Schulen, Behörden oder Sportvereine handelt. Nötig wäre auch, aber nicht nur meiner unmaßgeblichen Meinung nach, eine energische, wortmächtige und entschlossene Bekräftigung der kirchlichen Glaubens- und Morallehre, nicht eine geschmeidige Anpassung an neue Lebenswirklichkeiten oder an den säkularen Mainstream der postmoralischen Gesellschaft. Man kann natürlich auch anderer Meinung sein – und wir alle bleiben trotzdem römisch-katholisch. Aber ist die Morallehre der Kirche nicht ein Gut, eine echte Kostbarkeit? Wer die Enzyklika "Humanae vitae" aufmerksam liest, wird staunend entdecken, wie schön dieser oft geschmähte und viel zu selten gelesene Text ist.

Niemand ist dazu befugt, die Kirche neu zu erfinden, kein Papst, kein Bischof, kein Weltchrist, ob kritisch-aufgeklärt, ganz normal oder traditionalistisch gesinnt. In dem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" bekräftigt Bischof Dr. Wilmer seine Aussage über die "DNA der Kirche", die im Dezember 2018 für Wirbel gesorgt, manche Dissonanz hervorrief und einen Dissens sichtbar werden ließ, der real fortbesteht. Ein Fantast wäre jemand, der hier nun noch auf eine einheitliche katholische Sicht zur Metapher "DNA der Kirche" hoffen würde. Ich selbst, darin bin ich gewiss einig mit Kardinal Müller, Kardinal Woelki, Erzbischof Gänswein und Bischof Voderholzer, halte diese Begriffsfigur weiterhin für sinnwidrig, objektiv falsch und auch irreführend, weil Jesus Christus selbst das Lebensprinzip der Kirche aller Zeiten und Orte ist und weil herrschende Strukturen und Machtverhältnisse von Organisationen und Institutionen wie die Kirche, die auch eine weltliche Gestalt besitzen, niemals schuldig oder mitschuldig sind oder sein können an den grausamen Verbrechen, die einzelne Täter begehen. Ebenso sind keinerlei Strukturen, Ämter und Positionen daran schuld, wenn Amtsträger – warum auch immer – daran mitwirken, dass Verbrechen vertuscht werden. Ob gibt es in Ordinariaten Vertuschungsbeauftragte? Die Täter bleiben schuldig, die Mitwirkenden mitverantwortlich. Wer sexuelle Missbrauchstaten vertuscht, kann sich nicht dahinter verstecken, dass er internen Regeln gehorcht habe oder dass das allgemein so üblich gewesen sei – nicht vor einem weltlichen Gericht, nicht vor dem Gericht, auf das wir alle zugehen. Auch ist – anders als das jüngste Interview von Bischof Dr. Wilmer – nahelegt, im Evangelium nicht vom Machtmissbrauch die Rede. Das Evangelium ist und bleibt in allem: die eine und einzig maßgebliche Frohe Botschaft, die Botschaft von der Menschwerdung Gottes, die Botschaft vom Kreuz, von Heil und Erlösung. In dem Interview lese ich: "Ja, die Kirche ist heilig von Gott her. Aber sie ist sündig von den Menschen her. Schon in den Evangelien streiten sich die Jünger, wer wohl der Erste unter ihnen sei – und Jesus sagt: Wer der Erste sein will, muss der Diener aller sein. Ihre Mütter raunen Jesus zu: Sorge dafür, dass dereinst mein Sohn bei dir ganz oben sitzt. … Der Machtmissbrauch ist so alt wie das Evangelium. Wir haben das vergessen." Ist das so? Offenbar spielt Bischof Dr. Wilmer hier auf den Abschnitt Mt 20,20-25 an. Mir scheint, dass in diesem Abschnitt des Evangeliums von Machtstreben, nicht aber von Machtmissbrauch die Rede ist – dieser gehört zum Alltag der Welt. Die Frau des Zebedäus möchte, dass ihre Söhne im Reich Gottes zur Linken und zur Rechten neben Christus sitzen können. Doch der Herr stellt klar, dass nicht er, sondern der Vater im Himmel die Plätze zu vergeben hat. Hier wird meines Erachtens nicht von Machtmissbrauch gesprochen, sondern ein weltliches Machtstreben wird deutlich – die Frau des Zebedäus möchte eine Art himmlische Karriere für ihre Söhne gesichert wissen, die offenbar auch nichts dagegen hätten –, ein Machtwunsch und Machtwille, der sofort vom Herrn korrigiert wird. Jeder Mensch kann Wünsche haben und Ämter streben, sogar Machtpositionen, aber im Reich Gottes hat die Kungelei ein Ende: Der Vater entscheidet, wer zu seiner Rechten und Linken sitzen wird, niemand sonst. Gott hat das letzte Wort. Deo gratias! Die anderen Jünger ärgern sich über dieses säkulare Machttheater, das ganz und gar von dieser Welt ist und deutlich älter als Evangelium. In Mt 20,25 fährt Jesus fort: "Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Vollmacht gegen sie gebrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein."

Wenn es heute in der Kirche um Machtstreben, Machtmissbrauch und Ämterverteilung geht, um einen Streit um säkulare Vorrechte, dann weht in ihr nicht der Geist Gottes, sondern dann ist – wie dies Paul VI. einmal treffend bemerkt hat – der "Rauch Satans" in die Kirche eingezogen. Den Teufel nimmt auch kaum einer mehr ernst. Einige Theologen wie Paul Zulehner verstehen nicht, warum Papst Franziskus öfter von ihm spricht. Andere sind irritiert, warum der Heilige Vater die Priester, die sich des sexuellen Missbrauchs beschuldigt haben, in seiner Ansprache am Ende der Kinderschutzkonferenz als "Satans Werkzeuge" bezeichnet hat. Wir müssen, so können wir immer neu lernen, die Wirklichkeit des Bösen in dieser Welt ernst nehmen. Wir sind realitätsblind, wenn wir das nicht tun. Unser aller Glaubenszeugnis ist gefragt, unsere unverbrüchliche Treue zum Glauben der Kirche aller Zeiten und Orte – und natürlich auch zur Morallehre, die uns an die Schönheit und das Geschenk des Lebens erinnert. Alle Bischöfe in Deutschland sind als Verkünder des Evangeliums dazu bestellt, unsere Lehrer und Weggefährten im Glauben zu sein – und wir sind dankbar, wenn sie uns Weltchristen, die ganz normal katholisch sind und bleiben möchten, durch ihr glaubwürdiges Zeugnis und ihren Einsatz unterstützen. Wir möchten keiner "modernen Kirche" angehören, sondern der Kirche unseres Herrn Jesus Christus. Alle Bischöfe sind dazu berufen, den Glauben der Kirche aller Zeiten und Orte zu bezeugen, und sie tun das alle, auch mit ihrem je eigenen Charisma. Die Bischöfe, die Kleriker und Ordensleute sind zu Zeugen des Herrn bestellt – und um nichts weniger: Sie und ich!

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