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Gott ist uns in Jesus Christus entgegengekommen

Kreuzigung

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn wir heute zur Messe kommen, bringen wir vermutlich viele Sorgen mit, Sorgen vor allem um die Menschen im Erdbebengebiet in der Türkei und in Syrien. Vor allem bringen wir die Frage nach der Situation der Menschen, die vielleicht noch unter Trümmern liegen und leben. Und wir bringen die Sorgen mit über die Ukraine und vermutlich noch Sorgen über die Situation von Familienmitgliedern, von Freunden, vor allem von Kranken. Und dann werden wir plötzlich durch die Lesung und das Evangelium in eine ganz andere Welt katapultiert. Und wir tun uns vielleicht schwer, von der einen Welt in die andere umzusteigen. Versuchen wir es dennoch.

Vermutlich fragen wir uns: Warum lässt Gott solches Leid zu. Kann er es nicht verhindern oder will er es nicht verhindern. Ist er nicht allmächtig oder ist er nicht gut? Ich vermute, wir werden mit dieser Frage leben und eines Tages sterben. Wir schauen Gott nicht in die Karten. Er bleibt ein Geheimnis. Am ehesten gelingt es uns wohl noch, mit diesem Geheimnis zu leben, wenn wir auf Jesus am Kreuz schauen. Auch er ist ein unbegreifliches Geheimnis. Auch für die Jünger war und blieb er das. Er war gleichzeitig anziehend und mysteriös, geheimnisvoll. Einmal fragen sie ihn: Sag uns, wer du bist. Es lag und liegt ein Schleier um ihn.

Im heutigen Evangelium ist er scharf in die Kritik. Jesus sagt: Es reicht nicht, die Ehe nicht zu brechen, nicht zu stehlen, nicht zu morden. Es geht im Gesetz um mehr. Es geht um das rechte Denken, die innere Zustimmung, es geht um das Herz des Menschen, oder auch um seinen Geist.

Ich vermute: In jeder Religion besteht immer wieder die Gefahr, dass man sich auf die äußere Erfüllung der Vorschriften beschränkt. Denn das kann man leichter kontrollieren.

Wir können fragen: Woher kommt es, dass der Mensch sich schwer tut mit dem inneren Befolgen der Gebote und Gesetze? Warum tendieren wir dazu, Vorschriften nur äußerlich zu befolgen, aber unser Herz oder auch unser Geist draußen zu lassen. Die erste Antwort lautet natürlich: Weil es manchmal schwer ist, weil wir zu Oberflächlichkeit neigen, zu Bequemlichkeit. Wir wollen auch ein gutes Gewissen haben und befolgen daher die kontrollierbaren Gebote. Wir wollen uns sagen können: ich habe mich an alle Vorschriften gehalten. Mir kann niemand etwas vorwerfen.

Die eigentliche Antwort aber auf die Frage, warum wir dazu neigen, nur äußerlich und nicht aus tiefem Herzen die Gebote und Gesetze zu halten, liegt eine Stufe tiefer.

Unsere menschliche Natur, so wie wir sie vorfinden, ist in sich gebrochen. Die menschliche Natur ist in sich nicht einfach gut, sondern mit Defekten behaftet. Das nennen wir mit einem etwas missverständlichen Ausdruck Erbsünde. Wir haben Nächstenliebe nicht einfach im Blut, wir müssen sie lernen. Ebenso Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Treue. Wir kommen nicht einfach mit ihnen auf die Welt. Zwar sind Kinder leicht lernfähig, wenn sie von guten Eltern angeleitet werden. Deswegen liebt sie Jesus. Aber sie brauchen Erziehung. Das Wort Erziehung kommt von Ziehen.

Und hier stoßen wir – wie mir scheint – auf einen Defekt unserer Zeit. Unsere Zeit vergisst allzu leicht, dass wir Menschen Sünder sind, dass unsere Natur gebrochen ist. Seitdem wir die umgebende Natur, die Tiere und Pflanzen, die Nährstoffe der Natur, entdeckt haben, verehren wir die Natur. Bio ist zu einer Art Religion geworden. Wir meinen daher allzu leicht, der Mensch sei auch von Natur aus gut, wenn man ihn nur machen lässt. Das ist aber ein Irrtum. Wir neigen von Natur aus zum Egoismus. Wir sagen spontan: Ich! Nicht Du. Wir müssen Solidarität und Teilen erst lernen. Wir leben mit einer gefallenen Natur. Darauf weist der Bibeltext von der Sünde Adams und Evas im Paradies hin. So kam die Sünde, das heißt der Egoismus in die Welt. So wie es in der Natur Katastrophen gibt, so gibt es auch im Menschenleben Katastrophen, also Verbrechen, Sünde, Bosheit.

Und Jesus spricht auf diesem Hintergrund: Es reicht nicht, die Ehe nicht zu brechen. Ehebruch beginnt vorher. Es reicht nicht, den Nächsten nicht zu bestehlen oder umzubringen. Es geht vorher um Versöhnung. Jesus meint: Wir müssen erst die falsche Tendenz in unserem Herzen ins Auge fassen. Nur wenn es in unserem Inneren stimmt, kann es im Äußeren stimmen.

Wie gelingt es uns, dahin zu kommen? Gott ist uns in Jesus Christus entgegengekommen. Jesus hat uns nicht nur ein gutes Beispiel gegeben. Er hat uns auch in sein Herz aufgenommen. Am Kreuz breitet er die Arme zu uns aus. Er will uns umarmen. Und durch die Umarmung Jesu Christi ist es uns möglich, in unserem Herzen neue Menschen zu sein. Aus seiner Umarmung heraus können auch wir andere umarmen. Aber wir müssen auf die Umarmung Jesu schauen, auf ihn schauen, auf ihn am Kreuz zu schauen. Er breitet die Arme aus und will uns an sich ziehen. Es wird bis zum Ende der Welt Erdbeben und Verbrechen geben. Aber durch Jesus Christus ist es leichter möglich geworden, Erdbeben, Krankheiten und Verbrechen auszuhalten, wenn wir auf ihn am Kreuz schauen.  Ich kann heute nur empfehlen: Sich vor den Herrn hinzustellen oder hinzusetzen, sich von ihm anschauen und umarmen zu lassen. Mein Herz kommt in Ordnung, wenn ich schweige und mich von ihm in Ruhe anschauen und umarmen lasse. Amen.

Pater Eberhard von Gemmingen SJ war von 1982 bis 2009 Redaktionsleiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan.

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.

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