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Kommentar: Was mich am Irak überraschte

Die geflohenen Christen des Irak hoffen darauf, irgendwann heimkehren zu können. Doch ihre Hoffnung trocknet aus.

Loai Behnam Toubia zieht sein Hemd hoch. Eine dicke, dunkle Narbe, gute 26 Zentimeter lang zieht sich der Länge nach über seinen großen Bauch.

Mit gebeugtem Arm zeigt er auf drei kleinere Narben an der linken Seite seines Unterleibs. Sie erinnern ihn daran, wie Kämpfer des Islamischen Staats (IS) letztes Jahr das Feuer auf sein Auto eröffneten.

Ich stehe im Staub, inmitten der langen Reihen vorgefertigter Wohnwägen, während er seine Geschichte erzählt. Ich blicke auf die Narbe, die zeigt, wo die Kugel nur um wenige Zentimeter am Herz vorbei in seinen dicken Körper drang.

Mein Übersetzer schildert den entsetzlichen Tag, an dem Toubias Auto im Kugelhagel des IS in Flammen aufging, mitten auf der Straße von Karakosch in das Dorf Sikhan. Ein Passant rettete ihm das Leben: Er zog ihn gerade noch rechtzeitig aus dem brennenden Wagen. Heute sagt Toubia: "Die Gnade Gottes hat mich gerettet".

In der ehemaligen Hauptstadt der Christen im Irak, Karakosch, war Toubia Taxifahrer.  Am 6. August 2014 kamen die Kämpfer des Islamischen Staates, um die Stadt zu stürmen. In jener Nacht stand der Himmel in Flammen. Bombenexplosionen und Gewehrfeuer zerrissen die Stille. Da packte Toubia seine Familie und ein paar Habseligkeiten in sein Taxi. Mit 120.000 anderen Christen floh er vor den anrückenden Islamisten; in Todesangst im Stop-and-Go Verkehr brachte er seine Familie nach Erbil.

Seitdem ist Toubia einer von 5.500 Christen, darunter 2.000 Kinder, die dort im Flüchtlingslager Aishty 2 leben. Von hier aus versuchte er, weiter als Taxi-Fahrer zu arbeiten; brachte Menschen von einer Stadt in die andere, um etwas Geld zu verdienen — bis der IS seinen Wagen zusammenschoss. Nun hat Toubia sein Heim verloren, seinen Lebensunterhalt, und einen von Narben entstellten Körper. Doch er gibt nicht auf, betont, dass er glücklich ist, am Leben zu sein.

Seine Geschichte ist nur eine von 70.000, allein in Erbil: So viele Binnenflüchtlinge fristen dort ihr Dasein, die meisten von ihnen Christen. Ich habe viele ähnliche gehört im vergangenen Monat, als ich sechs Tage im Irak verbrachte, als Teil einer Medien-Delegation die Kardinal Timothy Dolan von New York auf einer pastoralen Reise nach Erbil und Dohuk begleitete. Die beiden Städte sind Hauptanlaufpunkt der Menschen geworden, die vor dem IS flohen, als dieser im Sommer 2014 die Ninive-Ebene stürmte, die Heimat der syrischen Christen.

Als Delegation besuchten wir verschiedene Schulen, Projekte und Unterkünfte für hunderttausende Flüchtlinge, die eines Nachts praktisch alles stehen und liegen ließen, um mit dem nackten Leben davon zu kommen. DIe meisten sind Christen und Jesiden aus Mosul und Karakosch.

Diese Reise entsprache in keiner Weise meinen Erwartungen.

Es gab Augenblicke, in denen mir das, was ich hörte und sah, den Atem raubte. Ich lächelte. Ich rang damit, Tränen zurück zu halten. Ich ertappte mich dabei, wie nervös und unruhig ich wurde.

Als Amerikanerin, das gebe ich zu, erwartete ich auch ein Grad an Feindseligkeit und Schuldzuweisung für die derzeitige Lage. Aber das ist ganz und gar nicht, was geschah.

Stattdessen erlebte ich das Gegenteil. Die Menschen empfingen mich mit offenen Armen: Frauen umarmten mich, küssten mich auf die Wange und zogen mich in ihre Wohnwägen, wo sie mich zwangen, Obst und Cola anzunehmen. Die Männer schüttelten mir die Hand und die Kinder wollten alle ein Foto mit mir machen. Eine tödlich an Krebs erkrankte Frau — ob sie Zugang zu Schmerz lindernden Medikamenten hatte, weiß ich nicht — hieß mich in ihrem kleinen Anhänger Willkommen, in dem sie nun sterbend lag, und bat mich an ihre Seite. Vor Schmerz verkrümmt und flach atmend ergriff sie mein Gesicht, küsste meine Wangen und flüsterte "Danke".

Kein einziges Mal erlebte ich einen Moment der Feindseligkeit; statt dessen begegneten mir die oft tränenerfüllten Blicke so vieler Menschen, die sich völlig alleingelassen und isoliert fühlen, deren Blick aber gleichzeitig voller Freude war, dass wir sie besuchten — so kurz dieser Besuch war: Er gab ihnen Hoffnung, dass die Welt sie nicht vergessen habe, und dass vielleicht bald Hilfe käme, und sie heimkehren könnten.

Wie es wirklich ist, in einem irakischen Flüchtlingslager zu leben

Die Stadt Erbil selber wirkt, als wäre hier die Zeit stehen geblieben. Vor einigen Jahren noch sollte hier das nächste Qatar oder Dubai enstehen. Überall wurde gebaut. Neue Wohnhäuser schossen wie Pilze aus dem Boden, in einem Klima der Zuversicht und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Doch mit dem Aufstieg des IS und dem Einbruch der Ölpreise kam eine Schockstarre. Die Baustellen der Stadt, darunter offenbar ein geplantes gewaltiges Einkaufszentrum, liegen verwaist. In viele der halbfertigen Gebäude suchten Menschen Unterschlupf, die vor dem IS in die Stadt kamen. Die meisten kamen schließlich in einem der rasch überall von der Kirche hochgezogenen Binnenflüchtlingslager unter; einige harren weiter in den Baustellen aus.

Die meisten Lager sind überfüllt: Familien, manchmal bis zu acht Personen, sind in die kleinen Wohnwägen gepfercht, die manchmal nur aus einem Raum bestehen. Die größten bieten drei Zimmer. Das größte christliche Lager in Erbil trägt den Namen Aishty und befindet sich im christlichen Vorort Ain Qawa. Es ist in drei kleinere Lager unterteilt: Aishty 1, 2, und 3.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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In Aishty 1 lebt Fardos mit fünf Familienmitgliedern — ihrer Mutter und den eigenen Kindern —  in einem engen Anhänger mit zwei kleinen Räumen. Sie hat um ihr Jüngstes Angst: Schlangen und Insekten finden immer wieder den Weg in die Unterkunft.

Um den bescheidenen Küchentisch gezwängt sassen wir zusammen, als Fardos die Geschichte ihrer Flucht aus Karakosch am 6. August 2014 nach Erbil. Dort angekommen suchten sie erst einmal Unterschlupf in einer Kirche. Dort schliefen sie auf dem Fußboden mit über 100 anderen Menschen — insgesamt 14 Familien. Der Raum war so eng begrenzt, dass man nachts nicht aufstehen konnte, ohne andere aufzuwecken. Auch der Umzug in ein Lager brachte Probleme: Es gab kaum Toiletten, sie hatten kein Wasser, und im unsoliden Wohnwagen "stank es sehr".

Auch wenn mittlerweile die meisten dieser Probleme gelöst sind: der Gestank des Abwassers zieht durch das Lager. Viele der 250 Familien in Aishty 1 — rund 1.000 Menschen — leben in Einzimmer-Unterkünften, die in einem Warenlager ohne Fenster erstellt wurden. Auch wenn sie nun Toiletten haben, gibt es im Lager weiter keine Duschen. Die Bewohner müssen den langen Weg in andere Lager antreten, wenn sie sich waschen wollen.

An unserem zweiten Tag im Irak fuhr die Delegation auf der langen und holprigen Strasse nach Dohuk, nicht weit von der Grenze zur Türkei — und in der Nähe von Mosul. Hierher flohen die meisten Jesiden; und hier kamen wir in die Nähe des Territoriums des Islamischen Staats.

Als wir in das Dawodiya-Lager kamen — in dem zwischen 60 und 70 Prozent der Flüchtlinge Jesiden sind, gefolgt von Christen und einigen, wenigen Muslimen — war der Gerucht zuerst nicht offensichtlich. Der Abwasser-Gestank war erst nach einigen Minuten deutlich. Er kommt in Wellen, wenn eine Brise über die Rinnsale zieht, die in schmalen Gräben laufen, die am Rand der Fusswege als Abflüsse in den Boden gezogen wurden.

In allen "Heimen", die wir hier betraten, gab es Leid. Ich spürte einen regelrechten Stich im Herzen, als ich in der Unterkunft einer trauernden Mutter hörte, wie ihr Sohn, einen Monat nach seiner Hochzeit, den kurdischen Truppen anschloß, den Peschmerga. Er starb ein paar Wochen später im Kampf gegen den IS. Nun ist er "einer der Märtyrer", wie es hier heißt. An der Wand hängt ein Bild von ihm, darüber ist ein Rosenkranz drapiert.

Eine weitere Geschichte, die mir den Magen umdrehte, war die von Hazar Namir, einer 32 Jahre alten Frau, die in Sindschar geboren wurde.

https://twitter.com/CNAdeutsch/status/727046707272364033

Die Jesidin erzählte unserer Gruppe, wie der IS, nachdem er am 3. August 2014 die Stadt erobert hatte, sie, ihren Mann und die drei Söhne entführte. Während Hazar und ihre Kinder im November 2015 fliehen konnten, befindet sich ihr Mann weiter in der Hand der Geiselnehmer.

Als die anderen Mitglieder unserer Gruppe ihre Unterkunft verlassen hatten, bat ich sie um ein Foto (ich war eine von zwei Frauen in der Delegation). Sie öffnete ihren schwarzen Schleier, der die untere Hälfte ihres Gesichtes verbarg, und schenkte mir ein selbstbewußtes, aber auch ein reserviertes, fast schüchternes, Lächeln. Wie ich zurücklächelte und dabei die Aufnahme machte, mußte ich mich fragen, warum sie mit mir so offen war. Hatte Sie einfach Vertrauen in mir? Warum? Trotz des Terrors und Leids, das sie und ihr Familie erlitten hatte, vermochte sie so freundlich sein. Wußte sie, wo ihr Mann war? Hatte sie Albträume, in denen sie sah, was ihm widerfuhr, oder in denen sie wieder durchlebte, was sie und ihre Söhne durchmachen mußten? Fühlte sie sich nun sicher?

Solche Fragen schossen mir immer wieder in den Kopf, in den Gesprächen mit den Familien, mit unterschiedlichen Menschen, von denen die meisten verwirrt und verzweifelt sind.

Was die meisten Vertrieben mehr wollen als alles andere, ist heimkehren zu können. Aber nachdem sich die Lage nicht verbessert hat, über nunmehr bald zwei Jahre, sind viele frustriert und denken darüber nach, auszuwandern. Die Lage ist unsicher und unklar — vor allem für Christen.

"Wenn wir nicht gläubig wären, dann wäre die Hälfte von uns selbstmordgefährdet", sagte Ibrahim Shaba Lalo, der Leiter von Ashty 2 auf meine Frage nach dem geistigen Gesundheitszustand der Menschen im Lager. Für viele gebe es wenig Hoffnung, erklärte er. Immer mehr würden darüber nachdenken, den Irak zu verlassen. Die Sorge von einem völlig entchristlichen Nahen Osten sei begründet, wenn die Region nicht bald befreit werde.

Inmitten dieser desolaten Verzweiflung stieß ich jedoch immer wieder auf überraschende Widerstandskraft und Entschlossenheit.

Der Pfarrer von Alkosh, dem letzten christlichen Dorf der Ninive-Ebene, das noch nicht vom Islamischen Staat erobert wurde, erzählte mir, ein Glas des landesüblichen Tees in der Hand, dass "wir nun verstanden haben, dass der IS Teil eines Spiels" sei. Manche Nationen wollen, dass der IS bleibt, so der Geistliche — sei es, um Waffen zu verkaufen, oder den Krieg vom eigenen Territorium fern zu halten."

Die Mehrheit der Menschen vor Ort teilt die Wut und Frustration über die Unterstützung des IS durch benachbarte Länder. Sie werfen der Türkei, Saudi-Arabien und Qatar vor, die Islamisten zu unterstützen. Und obwohl mir persönlich die Menschen mit großer Freundlichkeit und Gastfreundschaft begegnet sind: Die meisten geben auch der USA Schuld am Aufstieg des IS, und am Chaos, dass das vermeintliche Kriegsende im Jahr 2003 veursacht hat. Gleichzeitig sind die Menschen aber überzeugt, wurde mir deutlich gemacht, dass allein die USA die Macht und Einfluß auf die internationale Gemeinschaft hat, etwas Konkretes zu tun. Im Gespräch mit Kardinal Dolan baten die religiösen Oberhäupter geradezu darum, dass der New Yorker Erzbischof sich für sie bei der US-Regierung einsetze.

Es wird gehofft, dass Mosul und danach Karakosch wirklich in naher Zukunft befreit werden. Und führende Köpfe wie Erzbischof Bashar Warda, Chaldäischer Erzbischof von Erbil, loben die Entscheidung der USA, die Verfolgung der Christen, Jesiden und Schiiten durch den IS zum Völkermord zu erklären. "Damit widerfährt den Opfern Gerechtigkeit", sagte er. Für viele Betroffene freilich stellt sich nach wie vor die dringende Frage, wie es nun weitergeht, welche Konsequenzen die Anerkennung des Völkermords hat.

Elise Harris ist Redakteurin im Vatikan-Büro der CNA.

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