Ich habe das Tal der Tempel in Akragas – dem heutigen Agrigento (Sizilien) – schon mehrfach besucht. Es ist einer der atemberaubendsten Orte von Magna Graecia (Großgriechenland) aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, dem goldenen Zeitalter der Griechen auf Sizilien, bevor die Karthager und die Römer kamen.

Seit 1993 ist das Tal für mich nicht mehr dasselbe. Ich berichtete für Radio Vatikan über den Besuch von Johannes Paul II. im Tal der Tempel am 9. Mai 1993. Alle Anwesenden waren fassungslos, als der Pontifex vom Text abwich und die sizilianische Mafia während seiner Predigt vor dem Concordiatempel scharf verurteilte.

Sein Besuch schrieb Geschichte: Johannes Paul II. war der erste Papst, der das Wort Mafia überhaupt in den Mund nahm. Seit dieser Rede wurde die ambivalente Beziehung zwischen La Cosa Nostra und der Kirche geklärt (etwas, das in Süditalien nicht immer klar war): die Mafia und die Kirche standen an entgegengesetzten Fronten. Und diejenigen, welche die Mafia bekämpfen und entlarven, darunter Helden – Kleriker und Laien – wie Richter Rosario Livatino, sind die Verbündeten der Kirche, die in denselben Schützengräben für die Gerechtigkeit kämpfen:

Gott hat einst gesagt: Du sollst nicht töten! Der Mensch kann nicht, kein Mensch, keine Gruppe, […] die Mafia kann dieses heiligste Gesetz Gottes nicht ändern und mit Füßen treten! […] Dieses Volk, das sizilianische Volk, das dem Leben zugetan ist, das Leben liebt, das Leben gibt, kann nicht für immer unter dem Druck einer widersprüchlichen Zivilisation leben, einer Zivilisation des Todes! […] Im Namen dieses gekreuzigten und auferstandenen Christus, des Christus, der Leben ist – Weg, Wahrheit und Leben. Ich sage es zu den Verantwortlichen: Bekehrt euch! Eines Tages wird das Gericht Gottes kommen!

Nur wenige wissen, dass das Plädoyer von Johannes Paul II. auf ein privates Treffen mit den Eltern des ermordeten Richters Rosario Livatino folgte, der bald seliggesprochen werden soll. Aber der Pontifex ging noch einen Schritt weiter: Er definierte den 38-jährigen Richter, der von der Stidda (dem Stern), einer kriminellen Mafiagruppe in Südsizilien, ermordet wurde, als einen "Märtyrer der Gerechtigkeit und indirekt des Glaubens".

Als Livatino ermordet wurde, wusste fast niemand von dem jungen, talentierten und vorbildlichen Richter, der in der Peripherie Italiens arbeitete. Die Ermittlungen des Richters befassten sich mit der Beschlagnahmung und Einziehung von Eigentum illegaler Herkunft, das von der sizilianischen Mafia angeeignet wurde. Er tat dies unter Wahrung der Rechte der Angeklagten, mit großer Professionalität und mit konkreten Ergebnissen. Und auch aus seiner Verpflichtung gegenüber dem katholischen Glauben heraus.

Im Jahr 2019 reflektierte Papst Franziskus über das, was Richter Livatino über die Verbindung von Glaube, Gesetz und Nächstenliebe schrieb:

"Entscheiden heißt wählen, […] und zu wählen ist eines der schwierigsten Dinge, zu denen der Mensch berufen ist. Und es ist genau in dieser Wahl zu entscheiden, […] dass der gläubige Richter eine Beziehung zu Gott finden kann. Eine direkte Beziehung, denn Gerechtigkeit zu üben ist Selbstverwirklichung, es ist Gebet, es ist Selbsthingabe an Gott. Eine indirekte Beziehung, durch die Liebe zu der Person, über die geurteilt wird. Und eine solche Aufgabe wird umso leichter sein, je mehr der Richter sich demütig seiner eigenen Schwächen bewusst wird, je mehr er sich jedes Mal der Gesellschaft gegenüber bereit und geneigt zeigt, den Menschen vor ihm zu verstehen und ihn ohne die Haltung eines Übermenschen, sondern mit konstruktiver Zerknirschung zu richten."

Der Kampf der Kirche gegen die Mafia wurde fortgesetzt unter Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus, der 2014 erklärte: "Jene, die in ihrem Leben diesem Weg des Bösen folgen, wie die Mafiosi, stehen nicht in Gemeinschaft mit Gott: Sie sind exkommuniziert!" Im Jahr 2020 promulgierte Franziskus die "Dekrete über das Martyrium des Dieners Gottes Rosario Angelo Livatino, eines gläubigen Laien". Damit ist der Weg frei für die Seligsprechung von Richter Livatino, der damit als erster von der Mafia ermordeter Richter-Märtyrer überhaupt seliggesprochen wird.

Theologisch betrachtet ist das Martyrium von Richter Livatino ein indirektes Martyrium des Glaubens. Dies ist ein weiteres Beispiel für das, was Johannes Paul II. die "neuen Märtyrer" nannte, ein anderes Modell des Martyriums, das im 20. Jahrhundert aufkam, als viele unter den Umständen ideologischer Angriffe oder groß angelegter sozialer Gewalt starben, auch wenn das manchmal indirekt mit dem Glauben zusammenhing.

Seit dem vierten Jahrhundert hat die Kirche zwei traditionelle Wege zur Heiligsprechung festgelegt: die via martyrii (der Weg des Martyriums) und die via virtutum (der Weg der Tugenden). Im Jahr 2017 führte Papst Franziskus, aufbauend auf der Formulierung von Johannes Paul II. ("ein Märtyrer der Gerechtigkeit und indirekt des Glaubens"), in einem Apostolischen Schreiben einen dritten Weg zur Heiligsprechung ein: "Die Hingabe des Lebens ist ein neuer Grund für das Selig- und Heiligsprechungsverfahren, der sich von den Gründen unterscheidet, die auf dem Martyrium und dem heroischen Tugendgrad beruhen."

Es gibt fünf Kriterien für die Bewertung der "Hingabe des Lebens":

  • eine freie und freiwillige Aufopferung des Lebens und die heroische Annahme propter caritatem eines sicheren und vorzeitigen Todes;
  • ein Zusammenhang zwischen der Aufopferung des Lebens und dem vorzeitigen Tod;
  • die Ausübung der christlichen Tugenden, soweit dies zumindest in der Regel möglich ist, vor dem Aufopferung des Lebens und dann bis zum Tod;
  • das Vorhandensein eines Rufes der Heiligkeit und von Zeichen, zumindest nach dem Tod;
  • die Notwendigkeit eines Wunders für die Seligsprechung, das nach dem Tod des Dieners Gottes und durch seine oder ihre Fürsprache geschieht.

Der junge, zähe sizilianische Richter opferte sein Leben und erfüllte damit die fünf Kriterien in hohem Maße: er opferte sein Leben durch seine Berufung, ein vorbildlicher Richter zu sein, der gegen ein öffentliches Übel – die Mafia – kämpfte, wissend, dass der Tod unmittelbar bevorstand; ein christlicher Richter, der die christlichen Tugenden in seiner Rechtsausübung anwandte; ein Richter, der bewiesen hat, dass Glaube und Gesetz oder Evangelium und Kirchenrecht nebeneinander bestehen können, wenn sie von der theologischen Tugend der Nächstenliebe geleitet werden; ein Richter, der sein Leben und seine Berufung als Anti-Mafia-Richter sub tutela Dei (in die Hände Gottes) legte, ein Ausdruck, den Livatino oft in seinem Tagebuch verwendete.

Dr. Ines A. Murzaku lehrt an der Seton Hall University in South Orange (New Jersey).

Das englische Original wurde am 8. Januar 2021 von The Catholic Thing veröffentlicht. Die Übersetzung wurde von Martin Bürger vorgenommen, mit freundlicher Genehmigung von The Catholic Thing.

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