Basilika del Volto Santo 

Manoppello, Sonntag, 17. Januar 2021

 

Liebe Mitbrüder im priesterlichen Dienst, 

 sehr geehrte Vertreter der zivilen Behörden,

liebe Schwestern und Brüder im Herrn. 

 

"Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn

und sagte: Seht, das Lamm Gottes!" haben wir vorhin im Evangelium gehört.  Dieselben Worte können wir hier mit dem Evangelisten Johannes auch jeden Tag im Blick auf das Antlitz Christi im Volto Santo sagen. 

"Omnis terra" heißt der heutige Sonntag im Liturgischen Kalender nach den lateinischen Worten des 65. Psalms am Beginn dieser heiligen Messe: "Omnis terra adoret te, Deus, et psallat tibi!" Das heißt auf italienisch: "A te si prostri tutta la terra, a te canti inni, canto al tuo nome.” Zu diesem uralten Gotteslob der ganzen Erde haben wir uns auch heute hier in der Päpstlichen Basilika des Volto Santo versammelt. 

Anlass für diesen Festtag ist die Erinnerung an denselben Sonntag des Jahres 1208, als Papst Innozenz III. dieses wahre Bild des Herrn, das wir hier über dem Hauptaltar sehen und verehren, so demütig wie ein Bettelmönch von der alten Petersbasilika in Rom zu den Kranken der Hauptstadt und den kranken Pilgern aus ganz Europa in das nahe Hospital des Heiligen Geistes trug. Der mächtigste und machtbewusste Papst des Mittelalters brachte das Urbild des barmherzigen Gottes barfuß zu den Kranken und Sterbenden!

Davor war diese kostbare Schleier-Ikone lange verborgen gehalten worden. Mit diesem Schritt trat das Bild ins Freie und wurde erstmals in der ganzen katholischen Weltkirche öffentlich bekannt – an diesem Sonntag im Winter, der schon damals, im Januar 1208, mit dem gleichen Psalmwort begann wie heute: omnis terra.

Daran aber, dass Papst Innozenz III. das heilige Antlitz mit seinen Kanonikern damals nicht zu den Schriftgelehrten und Adligen der Stadt trug, sondern zu den Kranken und den Armen Roms, daran müssen wir heute, am 17. Januar 2021, besonders erinnern, wo der Ausdruck "Omnis Terra – alle Welt" eine bestürzende Realität angenommen hat wie vielleicht nie zuvor!  Denn alle Welt ist urplötzlich von einem unsichtbaren Virus bedroht, alle Kontinente, alle Hautfarben, Nationen und Religionen – wahrhaftig alle Menschen dieser Erde, Jung und Alt! Alle Welt fürchtet plötzlich gemeinsam Krankheit und Tod, von Feuerland bis Wladiwostok. Wann war der Ausdruck "omnis terra" je aktueller und brennender!

Darum war es für mich heute eine ebenso heilige Pflicht wie große Freude trotz aller Corona-Hindernisse von Rom nach Manoppello zu kommen, wo wegen der Pandemie zur Zeit keine Pilger mehr kommen können. Ich musste kommen, um das Volto Santo zumindest über das Medium der bewegten Bilder des Fernsehens zu so vielen Kranken und Einsamen wie möglich zu bringen!

Deshalb erinnere ich mich jetzt auch dankbar an den heutigen Tag vor fünf Jahren, als Pater Carmine Cucinelli mich und den unvergessenen Erzbischof Edmund Farhat aus dem Libanon eingeladen hatte, am 17. Januar 2016 in der Kirche Santo Spirito in Sassia in Rom mit einer Kopie des Volto Santo die göttlichen Mysterien zu feiern. Denn Pater Carmine war als damaliger Rektor der Basilika in Manopello auf den Gedanken gekommen, im "Heiligen Jahr der Barmherzigkeit", das Papst Franziskus für das Jahr 2016 ausgerufen hatte, ein drittes jährliches Fest zur Verehrung des Volto Santo einzuführen. Und dazu eignete sich einfach am besten der Sonntag omnis terra, in Erinnerung an die bahnbrechende Initiative von Innozenz III. im fernen Jahr 1208. 

 

Ich erinnere mich aber auch, als sei es gestern gewesen, wie ich Papst Benedikt XVI. am 1. September 2006 auf seiner "Pilgerreise" hierhin begleiten durfte, als er sich trotz einiger Widerstände entschlossen hatte, kurz vor dem Besuch seiner bayrischen Heimat als erster Papst nach über 400 Jahren das Volto Santo in Manoppello aufzusuchen und zu verehren. Und jetzt erscheint es mir fast wie eine göttliche Fügung, dass er sich damals dieselbe Stelle aus dem Johannes-Evangelium ausgesucht hatte, die wir gerade gehört haben, um seine Gedanken zu dieser historischen Begegnung vor den hier versammelten Gläubigen mit dem heiligen Schleier in folgende Worte zu fassen: 

"Als ich vorhin im Gebet verweilte, habe ich an die beiden ersten Apostel gedacht, die – ermutigt durch Johannes den Täufer – Jesus am Jordan nachfolgten (...). Der Evangelist berichtet, dass Jesus sich umwandte und sie fragte: »Was wollt ihr?« Sie antworteten: »Rabbi, wo wohnst du?« Er sagte: »Kommt und seht!«  Am selben Tag machten die beiden, die ihm nachfolgten, eine unvergessliche Erfahrung, die sie sagen ließ: »Wir haben den Messias gefunden«. Derjenige, den sie wenige Stunden zuvor nur als einfachen »Rabbi« angesehen hatten, hatte eine eindeutige Identität angenommen, die des seit Jahrhunderten erwarteten Christus. Aber welch lange Wegstrecke hatten jene Jünger in Wirklichkeit noch vor sich! Sie konnten nicht einmal erahnen, wie tief das Geheimnis des Jesus von Nazaret war, wie sehr sein »Antlitz« sich als unerforschlich, unergründlich erweisen sollte, so sehr, dass einer von ihnen, Philippus, nachdem er drei Jahre lang sein Leben zusammen mit Jesus verbracht hat, beim Letzten Abendmahl hören muss: »Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?« Und dann folgen jene Worte, die die ganze Neuheit der Offenbarung Jesu ausdrücken: »Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«" - soweit Benedikt XVI. am 1. September 2006.

 

Nehmen wir sein und dieses Wort des Herrn ganz ernst, sehen wir den Vater auch hier, wo der Sohn uns für immer sein Wesen offenbart und wo wir sehen: Er lebt – als Heiland und Erlöser. 

Papst Benedikt war nicht barfuß wie Papst Innozenz, sondern auf Einladung von Erzbischof Bruno Forte mit dem Helikopter von Castel Gandolfo nach Manoppello gekommen und ich erinnere mich noch sehr lebhaft an jeden Augenblick dieser Begegnung wie auch an den 15. Mai 2009, als Benedikt XVI. das Heilige Grab in Jerusalem besuchte, dem der Schleier des Volto Santo ebenso entstammt wie das Turiner Grabtuch, als unvergleichliche Nachricht der Auferstehung Christi von den Toten. Anders kann es nicht sein. Nach dem spektakulären Besuch Papst Pauls VI.  am 4. Januar 1964 haben das leere Grab Christi in Jerusalem auch noch Papst Johannes Paul II. im März 2000 und Papst Franziskus im Mai 2014 aufgesucht.  Die Pilgerreise Benedikts XVI. nach Manoppello am 1. September 2006 hingegen lässt sich bis jetzt darum nur vergleichen mit der Prozession, durch die Papst Innozenz III.  die "Wahre Ikone", die im Volksmund auch "Veronika" genannt wurde, vor über 800 Jahren in der westlichen Christenheit bekannt gemacht hat. Papst Benedikt aber hat am 1. September 2006 das persönliche und "menschliche Antlitz Gottes" wieder zurück in die Kirche und in alle Welt getragen. Er kam ganz allein und nicht im Gefolge seiner Berater oder der Kanoniker von Sankt Peter. Und er kam scheu und zurückhaltend, wie es seine Art ist, und nur zur Betrachtung und zum Gebet. An eine Eucharistiefeier oder einen öffentlichen Segen mit dem Volto Santo war damals noch nicht zu denken. Doch ihm sind dann Tausende von Pilgern hierhin gefolgt, die in seiner Nachfolge den Satz aus dem Evangelium des Johannes um die ganze Welt getragen haben: »Kommt und seht!«  

Das wird die Kirchengeschichte für immer festhalten. Und dafür haben ihm die zivilen Autoritäten der Stadt Manoppello schon am 3. November 2010 im Beisein Erzbischof Bruno Forte im Vatikan die Schlüssel der Stadt überreicht, wofür ich Ihnen ebenso wie allen Brüdern aus dem Kapuziner-Orden und allen Bürgerinnen und Bürgern Manoppellos noch einmal von Herzen danke, und heute noch einmal ganz besonders und persönlich für das kostbare Privileg, hier mit Ihnen für alle Kranken und Leidenden der ganzen Erde unter dem erbarmenden Blick Christi die Heiligen Eucharistie feiern zu dürfen: "Seht das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünden der Welt!"

Amen. 

Erzbischof Dr. Georg Gänswein

Präfekt des Päpstlichen Hauses,

  1. Januar 2021