Wir Menschen sind es gewohnt, diejenigen selig zu preisen, die es in ihrem Leben zu etwas gebracht haben. Wir pflegen die Erfolgreichen, die Vorangekommenen und Arrivierten selig zu preisen: im Geschäftsleben, in der Politik, im Sport, im kulturellen Leben und oft genug auch in der Kirche. Wer es genau wissen will, wen unsere modernen Seligpreisungen vor Augen haben, der braucht sich nur die alltägliche Werbung im Fernsehen anzuschauen. Selig gepriesen werden hier allemal die Erfolgreichen, die Arrivierten und die Glücklichen. Selig gepriesen werden heute in erster Linie nicht die Gott-Sucher, sondern die Welt-Macher.

So jedoch denkt Jesus gerade nicht, wie das Festevangelium an Allerheiligen unmissverständlich zeigt. Denn Jesus preist ausgerechnet die Armen und Zu-kurz-Gekommenen selig. Er preist die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, die Barmherzigen, die Trauernden und die Gewaltlosen selig. Er sendet ein ganz besonderes Glückwunschtelegramm an die Verfolgten und die Um-seines-Namens-willen-Beschimpften. Wie könnte es denn auch anders sein, da das irdische Leben Desjenigen, der im Evangelium selig preist, nicht mit einem theologischen Ehrendoktorat zu Ende gegangen ist, sondern am Schandmal des Kreuzes, und da Er den ihm Nachfolgenden vorausgesagt hat, dass es ihnen nicht besser ergehen wird als ihrem Meister?

Von daher wird sichtbar, dass die Seligpreisung der Armen, die im Evangelium nicht zufällig am Beginn steht, die innerste Mitte aller Seligpreisungen bildet: „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Denn die Armut bringt es an den Tag, was christliches Leben im Geist der Seligpreisungen zutiefst ist: Sein im Empfang und Leben im Dank, Durst nach Liebe und deshalb Hunger nach Gott. Das Leben in Armut ist ein lebendiges Bekenntnis zum Schöpfergott, der alles Sein und Leben gibt. Arm sein vor Gott heisst das ganze Leben Gott verdanken, das Leben als Antwort und dankbare Rück-Gabe auf die Lebensgabe des Schöpfers gestalten und das ganze Leben in ein einziges eucharistisches Hochgebet verwandeln. Denn dankbare und eucharistische Menschen werden ist der Beginn des Himmelreiches, das den Armen vor Gott verheissen ist. In der Armut wird die schöne Würde des Menschen sichtbar, nämlich seine Unmittelbarkeit zu Gott oder, mit den Worten der heutigen Lesung aus dem ersten Johannesbrief, das gläubige Bewusstsein, nicht nur Kinder Gottes zu heißen, sondern es auch zu sein.

 

Wenn wir die ganze Kraft des heutigen Evangeliums auf uns wirken lassen, dann werden wir dessen inne, dass die Seligpreisungen in erster Linie auf Denjenigen zutreffen, Der sie spricht und Der nicht nur Kind Gottes, sondern Gottes einziger Sohn ist, und dass in ihnen die innerste Mitte des Geheimnisses Jesu Christi selbst aufscheint. Bereits im Übergang vom dritten zum vierten Jahrhundert ist dem heiligen Augustinus immer deutlicher bewusst geworden, dass nur Jesus Christus selbst wahrhaft und vollständig die Bergpredigt, in deren Mittelpunkt die Seligpreisungen Jesu stehen, verwirklichen konnte und verwirklicht hat. Die Seligpreisungen sind deshalb, wie es Papst Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch sehr schön zum Ausdruck gebracht hat, „wie eine verhüllte innere Biographie Jesu, wie ein Porträt seiner Gestalt“. Was es heisst, den Geist der Seligpreisungen zu leben, dies wird im Leben und Geschick Jesu authentisch sichtbar.

Seligpreisungen als innere Mitte der christlichen Heiligkeit

Im Licht des Geheimnisses Jesu Christi kommt in den Seligpreisungen auch an den Tag, was Jüngerschaft in der Nachfolge Jesu und damit christliche Heiligkeit bedeutet. Sie besteht im Kern darin, so gesinnt zu sein, wie es dem Leben in Jesus Christus entspricht, sich nämlich als Adressaten der Seligpreisungen Jesu zu verstehen und an der Heiligkeit Gottes Anteil zu bekommen und, wie Johannes sagt, sich zu heiligen, „so wie Er heilig ist“. Denn Heilige sind Menschen, die ganz aus dem Geist der Seligpreisungen Jesu leben und deshalb berufen sind, in aller Öffentlichkeit Gott zu loben, ihm die Ehre zu erweisen und seinen Namen zu heiligen, wozu uns das Herrengebet ausdrücklich auffordert: „Geheiligt werde Dein Name!“

Heilige Menschen sind die Fleisch gewordene Auslegung der Seligpreisungen Jesu, der selbst in Menschengestalt die Fleisch gewordene Exegese Gottes ist. Die Heiligen sind der wichtigste Kommentar zum Evangelium und seine Verwirklichungen im alltäglichen Leben. Sie sind in ihrer jeweils charakteristischen Originalität gleichsam die bunten Spektralfarben, die das Licht der Heiligkeit Gottes in unterschiedlichen Brechungen reflektieren. Das Licht der Heiligen ist zwar abkünftiges, das Licht Gottes reflektierendes Licht; aber das von Gott kommende Licht der Heiligen spiegelt den Reichtum der Liebe Gottes wider.

Die Heiligen sind die besten Interpreten des Evangeliums, weil sie das Wort Gottes mit ihrem Leben bezeugen und es dadurch anziehend machen. Die vom Wort Gottes erleuchteten Heiligen sind deshalb auch die wahren Reformer in der Kirche. Erinnern wir uns dabei an die beiden Gründer der Bettelorden, an den heiligen Franziskus und an den heiligen Dominikus, die in erster Linie gerade nicht neue Orden gründen, sondern die Kirche von innen her erneuern wollten, und zwar vor allem dadurch, dass sie in der evangelischen Lebensform das Evangelium „sine glossa“ (d.h. kommentarlos) und damit im Licht der Seligpreisungen Jesu zu leben wagten. Oder denken wir an den heiligen Karl Borromäus, der, als er seinen Bischofssitz in der lombardischen Metropole in Besitz genommen hat, eines der am weitesten verbreiteten Versäumnisse des Klerus in der fehlenden Predigt diagnostiziert und seine primäre Sendung als Bischof darin gesehen hat, Zeuge zu sein und das Evangelium Jesu Christi jedem Geschöpf zu predigen. 

An der Gestalt des heiligen Karl Borromäus zeigt sich, dass solche Heilige sogar wichtiger sein können als selbst ein Konzil, das sich wie dasjenige von Trient als Reformkonzil verstanden hat. Dieses Konzil ist gewiss sehr wichtig gewesen, doch die von ihm gewollte Katholische Reform konnte nur wirksam werden, weil es Heilige wie Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Ignatius von Loyola und eben Karl Borromäus gegeben hat, die sich vom Wort Gottes haben berühren lassen und den christlichen Glauben in glaubwürdiger Weise bezeugt haben. 

Überhaupt zeigt ein Blick in die Geschichte der Christenheit, dass sie sich in krisenhaften Situationen stets darauf zurückbesonnen hat, dass in ihrem Leben und in ihrer Sendung dem Evangelium der Primat zukommen muss, und dass es vor allem die Heiligen gewesen sind, die die Kirche im Licht des Evangeliums erneuert haben. Denn es sind die Heiligen, die uns den Weg weisen und uns zeigen, was christliches Leben in der Nachfolge Jesu und vor allem seiner Seligpreisungen ist. Sie führen uns deshalb auch vor Augen, was im Licht des christlichen Glaubens die Kirche ist. Wenn wir das wahre Antlitz der Kirche – bei allen Verstellungen und Verzerrungen, die wir in den vergangenen Jahren auch kennen lernen mussten - wieder erkennen wollen, müssen wir die Heiligen wieder entdecken.

Heiligkeit und Schönheit in der Eucharistie

Darin liegt die besondere Aktualität des Hochfestes von Allerheiligen in der heutigen Situation der Kirche, in der allenthalben der Ruf nach Reformen zu vernehmen ist. Allerheiligen ruft uns in Erinnerung, dass die tiefste und wirksamste Reform der Kirche nur aus der Herzmitte des christlichen Glaubens kommen kann und im Leben der Heiligkeit im Geist der Seligpreisungen besteht. Bereits vor bald vierzig Jahren hat Kardinal Joseph Ratzinger betont, dass sich eine glaubwürdige Verkündigung des christlichen Evangeliums und eine wahre Reform in der heutigen Zeit eigentlich auf zwei Argumente konzentrieren können, nämlich auf die Heiligen, die die Kirche hervorgebracht hat, und auf die Kunst, die in ihrem Schoss gewachsen ist: „Der Herr ist durch die Grossartigkeit der Heiligkeit und der Kunst, die in der gläubigen Gemeinde entstanden sind, eher beglaubigt als durch die gescheiten Ausflüchte, die die Apologetik zur Rechtfertigung der dunklen Seiten erarbeitet hat, an denen die menschliche Geschichte der Kirche so reich ist.“

Die Heiligen und die Schönheit des Glaubens gehören dabei unlösbar zusammen. Denn die Heiligen bringen uns mit ihrem Leben der Seligpreisungen Jesu nahe, dass Gott nicht nur wahr und gut, sondern vor allem schön ist und dass wir die Kirche nur erneuern können, wenn wir die Schönheit des Glaubens in der Glaubensgemeinschaft der Kirche wieder entdecken. Diese Schönheit leuchtet auf in der „Gemeinschaft der Heiligen“, die wir im Apostolischen Credo bekennen und die wir am heutigen Hochfest mit besonderer Freude feiern. In der heutigen Lesung führt Johannes uns dabei vor Augen, dass diese Gemeinschaft der Heiligen eine Wirklichkeit ist, die hier auf unserer Erde beginnt, aber erst dann voll sichtbar sein wird, wenn wir Gott sehen werden, wie er ist: „Jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“

Dieser Vorausblick auf die vollendete Gemeinschaft der Heiligen dürfen wir in jeder Eucharistie feiern, indem wir sie im Hochgebet bekennen: Wir feiern Eucharistie in der Gemeinschaft mit dem einen Leib Christi, mit der ganzen Kirche aller Zeiten und an allen Orten. Im Memento der Heiligen vergewissern wir uns der Zuversicht des Glaubens auf die Vollendung der Teilhabe an der Heiligkeit Gottes. Und in diese Gemeinschaft der Heiligen werden im Memento der Toten auch alle Verstorbenen mit einbezogen, indem wir sie dem Erbarmen Gottes anempfehlen und um ihre Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen den himmlischen Vater bitten. 

Wenn wir diese dreigliedrige Gemeinschaft bedenken, ist jede Eucharistiefeier ein kleines Fest Allerheiligen, an dem wir die Seligpreisungen Jesu auch uns zusprechen lassen dürfen und allen Grund haben, Gott zu loben und ihm zu danken, dass er uns Menschen heiligt, wie wir es am Allerheiligenfest in der Präfation mit den Worten zum Ausdruck bringen: „Die Schar der Heiligen verkündet deine Grösse, denn in der Krönung ihrer Verdienste krönst du das Werk deiner Gnade.“ Amen.

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