Ist Wahrheit das Telos einer katholischen Universität? Ich verwende den Begriff Telos hier so, wie es der Sozialwissenschaftler Jonathan Haidt in einem einflussreichen Aufsatz tut (siehe hier). Das Telos einer Sache ist der ihr innewohnende, der sie durchdringende und sogar dominierende Zweck. Es ist in dem Sinne dominant, dass es in Konfliktfällen andere Zwecke übertrumpft.

In Anbetracht der vielen Fälle, in denen in jüngster Zeit Wissenschaftler "gecancelt" und ausgeschlossen wurden, fragt sich Haidt, ob für viele Universitäten irgendeine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit zum Telos geworden ist. (Man muss sagen "irgendeine Vorstellung von", denn wer kann schon sagen, ob diese Vorstellung, sobald sie von der Wahrheit losgelöst ist, wirklich soziale Gerechtigkeit darstellt?) Universitäten müssen sich entweder für die Wahrheit oder die soziale Gerechtigkeit als ihr vorherrschendes Telos entscheiden, sagt Haidt.

Wofür muss sich eine katholische Universität entscheiden?

Als Altphilologe und Experte für John Henry Newman ist mein erster Instinkt, die Frage aus der Natur der Sache heraus zu beantworten. Ich denke, dass jede Universität von ihrem Wesen her die Wahrheit als ihr Telos haben muss; daher muss dies auch für jede katholische Universität gelten.

Eine Universität ist ein Ort des universalen Wissens. Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen, wie Aristoteles zu Recht sagte. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass wir nur die Wahrheit kennen. Aber dieses natürliche Verlangen kann nur durch kooperative Bemühungen angemessen befriedigt werden – so wie unsere natürlichen Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung und Unterkunft nur kooperativ befriedigt werden können durch das, was man Wirtschaft nennt. Das ist es also, was die Universität ist, ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen, um durch gemeinsame Anstrengung zu aller Wahrheit zu gelangen, die der Mensch erreichen kann.

Die Universität ist eben eine natürliche Einrichtung – sie wird nie obsolet werden –, durch die das Menschengeschlecht alle erreichbare Wahrheit erlangt, pflegt, weitergibt, teilt und im weiteren Sinne anderen bei der Anwendung hilft. Die Kirche kümmert sich also in erster Linie um die Universitäten, weil sie sich um alle natürlichen Institutionen kümmert, wie die Familie und die politische Gesellschaft. Sie möchte, dass sich jede gemäß ihrem eigenen Telos entfaltet.

Newman vertritt in seinem Werk "Idea of a University" dieselbe Auffassung, obwohl er sich mehr auf die "Weitergabe" – die Erziehung der Studenten zur Wahrheit – und die Einheit der Wahrheit konzentriert. Er sagt bekanntermaßen, eine Universität sei kein Priesterseminar; sie ziele darauf ab, die intellektuellen, nicht die moralischen Tugenden zu kultivieren.

Letztere müssen als selbstverständlich vorausgesetzt werden, wobei sie durch ein Netz von Dozenten unterstützt werden, die nach Art von Freunden "persönlichen Einfluss" auf die Studenten ausüben. Aber alle intellektuellen Tugenden haben die Wahrheit als ihr Ziel. Die Schönheit des Intellekts, die Newman bekanntlich preist, hat eine wirksame Anmut bei der Unterscheidung der Wahrheit.

Auch für Newman muss eine echte Universität Gott studieren, der als erste und letzte Ursache wahrhaftig existiert und daher der einzige vereinigende Grund für alle Wahrheit ist, sozusagen als höchste Form. Nimmt man die höchste Form von irgendetwas weg, so bleibt ein "Haufen" (wie Aristoteles sagen würde) übrig, dem es an Einheit fehlt.

Nichts kann ohne Einheit existieren. In gewissem Sinne wird die Realität der Wahrheit geleugnet, weil die Realität der Wahrheit als Ganzes untergraben wird, sobald Gott weggenommen wird. Die Universität wird ihres Gegenstandes beraubt.

Bis hierher habe ich das Wesen der Universitäten betrachtet. Was aber, wenn ich mich als Katholik an die Autorität wende, in diesem Fall an "Ex Corde Ecclesiae", die große Charta über die katholischen Universitäten, die vom heiligen Johannes Paul II. dem Großen festgelegt wurde?

Seine Lehre ist unzweideutig. Gleich zu Beginn des Dokuments hebt er hervor:

Mit jeder anderen Universität teilt sie jenes "gaudium de veritate", das für den heiligen Augustinus so wertvoll ist, nämlich die Freude an der Suche, der Entdeckung und der Vermittlung der Wahrheit in jedem Bereich des Wissens. Die privilegierte Aufgabe einer katholischen Universität besteht darin, "durch intellektuelle Anstrengung zwei Ordnungen der Wirklichkeit existentiell zu vereinen, die allzu oft dazu neigen, einander gegenübergestellt zu werden, als ob sie antithetisch wären: die Suche nach der Wahrheit und die Gewissheit, die Quelle der Wahrheit bereits zu kennen."

Wie jede andere Universität hat auch die katholische Universität die Wahrheit zum Ziel. Aber eine katholische Universität genießt gegenüber anderen Universitäten den weiteren Vorteil, dass sie auch nach Wahrheit durch Offenbarung strebt.

Dieser letzte Punkt ist sehr wichtig. Manchmal werden Mitglieder katholischer Universitäten in die Defensive gedrängt, als ob die Katholizität ihrer Institution eine Einschränkung oder "Fessel" für die Suche nach der Wahrheit wäre. Doch in Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall.

Einer echten katholischen Universität liegt die Wahrheit so sehr am Herzen, dass sie keinen zuverlässigen Weg der Wahrheit vernachlässigt. Sie hat keine Skrupel angesichts der Tatsache, dass einige grundlegende Wahrheiten (über die Dreifaltigkeit, über die Menschwerdung) ihr faktisch in die Hand gegeben werden und nicht durch menschliche Anstrengungen allein erreicht werden können.

Theologische Wahrheiten werden niemals nach dem Wissenschaftler benannt, der sie formuliert hat, als ob der Wissenschaftler bestimmte Gesetze geschaffen und nicht nur entdeckt hätte. Die Tatsache, dass es sich um wichtige Wahrheiten handelt, reicht aus.

Manchmal setzen die Kritiker der wahrhaft katholischen Universitäten Waffen ein, die keinen Sinn machen und sich gegen jede Universität und jeden Einzelnen richten könnten. Sicherlich ist es nur sinnvoll, nach der Wahrheit zu suchen, weil wir die Wahrheit finden können, und sicherlich haben wir, wenn wir die Wahrheit finden, wie wir meinen, das Recht, sie anders zu behandeln als irgendeine noch unbestimmte Sache der Spekulation.

Für den Mathematiker Andrew Wiles hätte es zum Beispiel keinen Sinn gemacht, am Großen Fermatschen Satz zu zweifeln, nachdem er einen Beweis dafür gefunden hatte. Für jemanden, der zum Katholizismus konvertiert ist, macht es keinen Sinn, die Wahrheit des katholischen Glaubens als immer in Frage stehend zu betrachten.

Aber die Freiheiten, die für den Einzelnen gelten, gelten auch für freiwillige Vereinigungen. Was hindert viele, die von dieser grundlegenden Wahrheit überzeugt sind, daran, sich zusammenzuschließen und in diesem Rahmen alle erreichbaren Wahrheiten anzustreben?

Falls "das Geheimnis des Menschen im Geheimnis Christi offenbart wird" und falls gilt, dass "wenn der Schöpfer verloren ist, ist auch das Geschöpf verloren" (Gaudium et Spes), dann hat eine solche Vereinigung vielleicht eine noch größere Kraft, die Wahrheit zu finden und zu pflegen.

Der Autor, Michael Pakaluk, lehrt an der „Catholic University of America“ in Washington, D.C.

Übersetzung des englischen Originals mit freundlicher Genehmigung von „The Catholic Thing“.

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln allein die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht die der Redaktion von CNA Deutsch.

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