Die Erfahrung, von der ich heute erzählen muss, könnte weder natürliche noch künstliche Intelligenz ersinnen. Diese Geschichte hat mit dem Tod einer jungen Freundin zu tun, die ich im letzten November an dieser Stelle schon einmal vorgestellt habe. Das war Marie Czernin aus Österreich, die uns vor zwanzig Jahren in Rom viele Türen geöffnet hat, als wir die Stadt so gut wie ahnungslos erreichten. Am Sonntag, dem 23. Oktober 2022, erhielt ich nun aus San Francisco folgende Nachricht: „Wahrscheinlich wissen Sie schon, dass Marie auf der Palliativ-Station liegt? Jeden Abend versammelt sich eine große Gruppe von Menschen via Zoom um ihr Bett und betet gemeinsam den Rosenkranz. Könnte ich bitten, dass man Sie in den Chat aufnimmt, in dem immer der ZoomLink versendet wird? Marie geht strahlend ihrem himmlischen Bräutigam entgegen.“ Minuten später antwortete ich: „Weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, mich in ihr Krankenzimmer hineinzuzoomen. Bestellen Sie ihr bitte liebste Grüße.“ Darauf schrieb Nina: „Ich werde Ihre Wünsche an Marie weiterleiten. Allerdings glaube ich, dass sie sich tatsächlich sehr freuen würde, wenn Sie sich zur Rosenkranzgruppe dazugesellen. Sogar Terence Hill ist dabei!“ Ich musste lachen, weil ich mich gut erinnerte, wie Marie den alten Filmstar aus „Vier Fäuste für ein Halleluja“ einmal in Gubbio aufgestöbert hatte. Ihn habe ich dann nicht mehr kennengelernt, doch einen Tag später war ich mit meiner Frau in der Gruppe, obwohl ich noch nie an einer Zoom-Konferenz teilgenommen hatte, über die ich in Corona-Tagen so viele hatte stöhnen hören.

Es war ein Kinderspiel, nachdem mir ein freundliches Ehepaar eine Einladung zu dem Chat geschickt hatte. Ich kannte die Eheleute nicht und kannte auch sonst so gut wie keinen in der Gruppe, mit der wir uns von da an vor dem Bildschirm im Wechsel zu einem gemeinsamen Rosenkranz versammelten. Marie war schon sehr schwach, aber ließ mich wissen, dass sie sich freue, dass wir noch einmal zum Abschied per Zoom in Wien bei ihr auftauchten. Fünf Tage später, am 28. Oktober 2022, tat sie ihren letzten Atemzug. Im Sterben wurde Marie zu einem Stern.

Denn sie versammelte nicht nur rund 200 Personen per Zoom an ihrem Bett, sondern brachte es auch fertig, dass sich der Kreis der Beter nach ihrem Tod nicht einfach zerstreute. Stattdessen klickt seitdem eine wechselnde Zahl von Menschen jeden Abend den Bildschirm an, als gäbe es da eine Lieblingssendung in Fortsetzungen. Es ist aber nur der Rosenkranz, den wir da gemeinsam in verschiedenen Sprachen beten, wo Bob, ein alter Freund von ihr, am Shenandoah River in Virginia das Gebet immer wieder mit den Worten eröffnet: „Dearest Marie, please pray with us!“

Die allermeisten Stimmen kenne ich nicht persönlich, wir siezen uns weiter, wie es sich gehört, doch in sechs Monaten sind wir uns in der Intimität des Gebets allesamt nah vertraut geworden. Wegen Maries Freundinnen in Rom wurde hier von Anbeginn an auch mindestens ein Geheimnis italienisch gebetet. Der Rest der „United Prayers“ aber ist über London, Wien, Rom, Schwaben und die Lausitz, über ganz Europa, die Vereinigten Staaten und sogar bis hin nach Brasilien verstreut, wo uns Pater Nikolaus I. häufig am Ende seinen Segen gibt, unter dem Stern des Südens, und wir schauen beim Beten nicht nur in verschiedene Gesichter und Wohnungen, Autos oder Eisenbahnabteile hinein, sondern auch in verschiedene Zeitzonen und Tageszeiten und ein jeweils verschiedenes Licht in einem weltumspannenden Netz. „So stelle ich mir den Himmel vor, dieses Verbundensein mit all jenen, die Gott lieben“, schreibt Stefanie aus Wien. Benedikta, eine Cousine Maries, berichtet gleichzeitig furchtlos von dem Wunder einer Versöhnung und einer niederschmetternden Diagnose, die sie gerade erhalten hat, in unerklärlich felassener Heiterkeit. Und seit Alexandra aus Namur in Belgien dabei ist, beginnt das Avemaria in einem Gesätz auch immer mit den schönen Worten: „Je vous salue, Marie!“ Auf Deutsch: „Ich grüße Sie, Marie!“ oder „Seien Sie gegrüßt, Marie!“

Im November streifte unsere Begegnung einmal kurz ein politisches Argument, worauf eine freundliche Stimme anmahnte, Politik doch bitte aus diesem Austausch herauszuhalten und nur beim Gebet zu verweilen. Dabei ist es geblieben. Keiner weiß deshalb wirklich, was der andere denkt oder macht. Alle wissen nur, dass wir Freunde Maries und Freunde Marias und ihres Lieblingsgebets sind, in wachsender Beglückung, uns abends wiederzusehen, in einer Freiheit, die selten ist. Keiner muss dabei sein. Andere kleine Gebete sind im Lauf der Wochen an unseren Rosenkranz angewachsen wie Muscheln an einen Felsen. Es gibt keine Regie, keinen Plan, keine Gebetspolizei und keinen Oberbeter. Und wenn einmal in einem der verschiedenen Geheimnisse aus Vergesslichkeit ein paar Avemarias zu viel gebetet werden, kommt dieser fromme Überschuss immer sogleich den Armen Seelen zugute, habe ich hier erfahren. Es ist „eine Gebetsschule der Zukunft als digitale Familie im Herrn“, sagt Melanie. Der Motor dieses Kreises aber sind dringende Gebetsanliegen. Begonnen haben wir mit dem Gebet für Marie, an dem sie sich im Hospital noch selbst beteiligte. Doch damals schon gestand sie Aglaë, einer Freundin, dass sie ein Wunder nicht mehr für sich, sondern „in anderer Hinsicht“ erwarte. Und nach ihrem Tod erzählte ihre Schwester Sophia, es sei Maries letzter Wunsch gewesen, dass dieses Gebet weitergehe „für die Kranken an Leib und Seele und die Einsamen“. Vielleicht ist das ja das Wunder, das Marie meinte. Jeden Abend beten wir für immer neue Kranke, deren Namen an uns herangetragen werden.

Die Kranken gehen nie aus, auch innerhalb unseres Kreises nicht, wodurch auch die Sorgen aller sogleich relativiert werden, sobald wir dem Zoom beitreten. Bob, der eine Liste unserer Anliegen führt, sagt, er habe in den letzten sechs Monaten neun Fälle protokolliert, wo Krebs oder andere schwere Erkrankungen geheilt wurden. Natürlich beten wir nur um das Menschenunmögliche und Aussichtslose, für das es keine menschliche Hoffnung mehr gibt – im Moment für eine sterbenskranke 14-Jährige, deren Mutter auf ein Wunder hofft. Wir beten nur um Wunder.

Inzwischen ist ein kleines Kraftwerk des Gebets daraus geworden. Pater Pio hätte vom Zoom nur träumen können, der ja keinen neuen Orden oder eine Bewegung gegründet hat, sondern nur Gebetskreise, die sich in regelmäßigen Abständen treffen. Marie aber lädt uns bis heute jeden Abend in den Traum dieses großen Heiligen ein.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Vatican-Magazin (Mai 2023) und wird hier mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht.

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