Im heutigen Evangelium provoziert Jesus sehr stark und überfordert uns ganz schön. Wir sollen ihn mehr lieben als unsere Eltern oder unsere Kinder. Wir sollen unser Kreuz mit ihm tragen. Wenn wir unser Kreuz nicht tragen, seien wir seiner nicht würdig.

Wie können wir mit dieser Überforderung und mit dieser Provokation umgehen und leben?

Ich meine: Die Antwort lautet vielleicht: Wir müssen Jesus vertrauen, dass wir, wenn es gefordert wird, über uns hinauswachsen können. Millionen Christen haben Jesus vertraut und sind über sich hinausgewachsen. Nur kennen wir sie meist nicht oder zu wenig. Wir sollen daran glauben, dass uns durch Jesus Christus, Unmögliches möglich wird. Viele Christen vor uns hatten auch Zweifel, ob sie so über sich hinausgewachsen können. Man weiß es ja nicht im Voraus. Wenn es von uns gefordert ist, dann gelingt es, wenn wir vorab vertrauen, dass es uns dann der Herr möglich macht. Das ist eigentlich das Geheimnis des Christentums, dass jeder Mensch, der sich an Christus hängt, über sich hinauswachsen kann. Aber wir müssen uns an Christus hängen.

Fragen wir uns einmal: Hätten wir dem Petrus und den anderen Jüngern zugetraut, dass sie so über sich hinauswachsen würden wie es geschehen ist. De facto sind sie über sich hinausgewachsen, sonst gäbe es heute kein Christentum und keine Kirche. Es ist wirklich ein Wunder, dass aus dem Häufchen einfacher Männer eine Bewegung wurde. Man kann die Geburt der Jesusbewegung auch nicht einfach nur dem Genie des Paulus in die Schuhe schieben. Die Zwölf waren schon auch beteiligt. Schließlich wuchsen die recht einfache Leute – ganz ähnlich wie wir alle – über sich hinaus. Sie waren vorher keine Helden. Als es für sie gefährlich wurde, waren sie noch Versager. Dann aber kam das Wunder ihres Wachstums über sich hinaus.

Das Wunder des Christentums besteht darin, dass immer wieder im Lauf der Geschichte Menschen über sich hinausgewachsen sind, weil sie Jesus Christus ernst genommen haben. Es geht für uns nicht darum, Helden zu sein, sondern sich an Christus zu hängen und so über uns hinauszuwachsen. Wir sollten glauben, dass dies möglich ist. Auch dieses Wunder sollten wir glauben. Es geht nicht um meine Anstrengung, sondern darum, dass wir Jesus wirklich kennen lernen und uns mit ihm herumschlagen.

Wie kann das gelingen? Im Evangelium von heute steht auch ein Hinweis: Wer Euch aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. Das heißt: Gott identifiziert sich mit jedem Menschen. Wir begegnen Gott in jedem Menschen. Also der Herr identifiziert sich mit uns und mit jedem Menschen.

Und jetzt mache ich einen Sprung zu den Hunderttausenden von Flüchtlingen, die von uns Aufnahme erbitten und erwarten. Ich will hier keine politische Aussage machen. Aber der Umgang mit Flüchtlingen beginnt damit, dass wir zunächst mal unser Herz aufmachen und nicht schnell sagen: „Sie sollen zuhause bleiben. Wir haben keinen Platz für sie, wir haben schon zu viele aufgenommen. Und vor einigen jungen Männern aus fernen Ländern haben wir einfach Angst.“ Das erste ist, dass wir unser Herz aufmachen und an das Leid denken, das sie durchgemacht haben in ihren Heimatländern und unterwegs. Wir brauchen keine politischen Lösungen zu finden. Aber wenn wir unser Herz verschließen, dann hat Jesus Schwierigkeiten mit uns. Wenn wir unser Herz aufmachen, werden wir mitdenken und uns Sorgen machen. Das ist nicht angenehm. Wer um seine Gemütlichkeit und seinen Urlaub mehr Sorgen hat als um die Flüchtlinge, mit dem kann Jesus nichts anfangen.

Und ich kehre zurück. Wir sollen und müssen daran glauben, dass wir - wie viele Christen vor uns - über uns hinauswachsen können. Wir können es nicht aus eigener Kraft. Es ist nicht eine Frage der Moral. Wir müssen nicht groß werden, weil wir dazu verpflichtet sind. Christentum ist keine Moral, sondern ein Geheimnis.

Am meisten ist die Kirche dort gewachsen, wo Christen am meisten verfolgt wurden. Es gilt immer noch der alte lateinische Spruch „Sanguis martyrum – semen christianorum – Das Blut der Martyrer ist der Samen neuer Christen.“ Vor wenigen Tagen hörte ich von einem Mitbruder, der seit 25 Jahren in China arbeitet: Die Priesterseminare in China sind voll. Selbständiges Denken ist in China unerwünscht und gefährlich. Aber wer sich an Christus hängt, bleibt frei, selbständig zu denken.

Und damit möchte ich noch einen Satz sagen zur Kirche in Deutschland. Es ist wirklich dramatisch, wie viele Katholiken die Kirche verlassen. Vielleicht haben wir Priester sie auch zu wenig darauf hingewiesen, dass und wie sie sich an Christus hängen können. Dass sie mit Christus über sich hinauswachsen können, auch über ihren Ärger gegen die Amtsträger und über all ihren Zweifel an der Kirche. Es geht nicht um die Kirche, es geht um den Herrn am Kreuz. Wer sich an ihn hängt, der leidet unter den Sünden der Kirche, aber hängt sich an den Mann am Kreuz. Ihn können wir mehr lieben als alle unsere Lieben, weil Seine Liebe zu uns so gewiss ist. Aber wir müssen viel aufs Kreuz schauen. Amen

Pater Eberhard von Gemmingen SJ war von 1982 bis 2009 Redaktionsleiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan. 

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