Drei meiner älteren Brüder fühlten sich, sobald sie erwachsen wurden, wie magisch von der Schweiz angezogen, nachdem Deutschland als Nation im Jahr ihrer Geburt dem mörderischen Wahn verfallen war, das alles beherrschende Zentrum der Welt zu sein. Dafür lernten sie als erste Fremdsprache sogar Schwyzerdütsch. Heute kann ich sie verstehen. Denn politisch, historisch und geographisch gesehen ist die Schweiz das klassische Exzentrikum Europas, das die Mehrzahl der Menschen des Kontinents und ihre Geschichte statt um ihre eigenen Pole von außen her mehr als viele andere Mächte bewegt hat. Das hat die Eidgenossenschaft mit der Genossenschaft der Heiligen gemein, ebenso ihre übernationale Universalität seit Anbeginn. Die Schweizer und die Heiligen bevölkern zwei Reiche des Exzentrischen. Da wundert nicht, dass einer der exzentrischsten Heiligen überhaupt natürlich auch ein Schweizer war. Das ist der heilige Nikolaus.

Also eben nicht der berühmte Bischof Nikolaus von Myra aus der Türkei im 4. Jahrhundert, dessen rappeltrockenen Gebeinen bis heute „Myron“ wie einer kosmischen Quelle entströmt, wie die duftende Flüssigkeit genannt wird, die sich stetig in seinem Sarkophag in der Kathedrale von Bari sammelt, wovon der Ortsbischof Jahr für Jahr einen halben Flacon voll bergen lässt, um dieses Myron mit Wasser verdünnt an zahllose Pilger aus aller Welt weiterreichen zu lassen. Sondern es ist „der andere Nikolaus“, dessen Leben sich im Licht wohl dokumentierter Geschichte im 15. Jahrhundert vollzog. Verwunderlicher Weise ist er der bislang einzige Heilige der Schweiz, der trotz einer früh einsetzenden allgemeinen Verehrung erst spät, am 15. Mai 1947, von Papst Pius XII. „zur Ehre der Altäre erhoben“ wurde. Doch er verströmt bis heute ein kaum weniger geheimnisvolles Aroma als Nikolaus von Myra mit seinem Myron.

Vor fünf Jahren bin ich deshalb eigens mit meiner Frau einmal im April mit unserem alten Volvo von Rom nach Flüeli im Kanton Obwalden gereist, um auf Niklaus’ Spuren herrliche Fotos von seiner Heimat zu machen, in der Schweiz, wo sie kaum schweizerischer sein könnte, zumindest für einen alten weißen Mann vom flachen Niederrhein. Die Gipfel der Alpen schneeweiß im Glanz der Gletscher, alle Bäume durchsichtig im lichten Grün des Frühlings. Der Ort selbst eher unspektakulär, obwohl viele den Flecken als einen unerklärlichen Kraftort verehren. Ich hingegen reihte mich hier vor allem in ein großes Staunen ein – und einem Hauch von Neid auf das große dunkle Holzhaus, das Niklaus am Rand einer Schlucht für sich und seine Familie gebaut hatte. So unglaublich solide! Ähnliches würde ich auch gern meiner Familie hinterlassen, nur mit etwas größeren Fenstern. Aber Bruder Klaus bekam wohl sein Licht von innen her und soll schon im Mutterleib Visionen gehabt haben. Daher wundert heute noch, wie lange er ein ganz normales, fast bürgerliches Leben führte, zumindest für seine Zeit, in der auch im christlichen Abendland ein 29-jähriger Mann noch ohne jedes Aufsehen ein 15-jähriges Mädchen aus dem Nachbardorf heiraten und mit ihr zehn Kinder in die Welt setzen konnte, fünf Buben und fünf Mädchen.

Geboren als Sohn recht reicher Bergbauern entsprach er viele Jahre den Erwartungen seiner Familie. Als junger Mann nahm er an mehreren Kriegszügen teil, von 1440 bis 1444 als Offizier mit dem Schwert in der Hand im alten Zürich-Krieg, wo er die Reisläufer mit ihren scharf geschliffenen Hellebarden kommandierte, deren Anblick in den Händen von Schweizer Gardisten heute noch viele Touristen vor dem Petersdom mit wohligem Schauer erfüllt. Mit solchen Hightech-Waffen der Renaissance ließen sich keine sanften Kriege führen. Gerade diese blutigen Gemetzel haben Niklaus aber wohl besonders geprägt, wie wir noch sehen werden. Im zivilen Leben war er ein hochangesehener Politiker und unbestechlicher Richter, obwohl er weder lesen noch schreiben konnte. Doch wie die Unruh in einer Schweizer Uhr schlummerte tief in seiner Seele eine Gottesergriffenheit, von der wir uns kaum noch einen Begriff machen können. Mit fünfzig Jahren eröffnete er deshalb seiner Frau Dorothee, dass er sich von ihr im Namen Gottes friedlich trennen wolle, um fortan als Eremit unter Eremiten ganz für den Allerhöchsten zu leben. Ihr jüngstes Kind lag noch als Säugling in der Wiege. Seine Frau war entsetzt, doch er in seinem Entschluss so fest und überzeugend, dass sie ihm schließlich sogar die Kutte nähte, in der er fortan nur noch gesehen wurde, immer mit einem Rosenkranz in der Hand. Und hier, spätestens, begann für ihn ein Weg, auf dem ihm kein normaler Verstand mehr folgen konnte. Verrückt war er dennoch nicht.

Im Oktober 1467 verließ er seine Familie in Richtung Hochrhein, um sich im Elsass einer Gruppe von Eremiten anzuschließen, kehrte nach einer neuen Vision, die ihn unterwegs in Waldenburg bei Basel überfallen hatte, aber urplötzlich heim, schlich nachts am Haus seiner Familie vorbei, um dahinter in die Ranft-Schlucht hinabzusteigen und sich dort unten eine Klus, eine Klause, zu errichten, wo er die nächsten 20 Jahre mit nichts als Wasser und der eucharistischen Hostie leben sollte, eine Viertelstunde von seinem Wohnhaus entfernt, in das er nie mehr hinaufstieg. Er starb am 21. März 1487, seinem 70. Geburtstag, im Beisein seiner Frau, die ihn regelmäßig da unten besucht hatte.

Die Nachricht seines Todes verbreitete sich in unerklärlicher Windeseile durch Europa. In Wien wurde der Stephansdom schwarz ausgeschlagen und das Requiem für ihn von über hundert Priestern gefeiert. Seitdem wurden ihm unzählige Wunder zugeschrieben. Das meiste, was ich von ihm hier festhalte, habe ich aber von meinem Freund Klaus im Allgäu erfahren, der seine Mutter einmal fragte, warum sie ihn denn eigentlich nach dem „falschen Nikolaus“ benannt hatte. „Deine Taufe war neun Jahre nach Kriegsende. Er ist ja der große Friedensheilige,“ gab sie ihm darauf trocken zur Antwort. Damit sprach die Mutter meines Freundes das zweite große Geheimnis in der Biographie dieses Namenspatrons an, die ihn zu einem Heiligen des Friedens machte.

Nikolaus stieg nach seinem Abstieg in die Ranft nicht mehr hinauf in sein altes Leben. Doch von jetzt an folgte ihm ein stetiger Strom von Pilgern aus ganz Europa, die bei ihm Rat suchten, hinab in die Schlucht, von denen er grosso modo als „leutselig, mitteilsam, behaglich, fröhlich und freundlich“ beschrieben wurde. Er wurde zum großen Ratgeber Europas, der auf die Frage, was die größte Gabe Gottes an die Menschen sei, knapp und kategorisch antwortete: „die Vernunft“. – Auch sonst erwies sich der letzte große Mystiker Europas als ein pragmatisches Genie des Praktischen. Im Dezember 1481 war er maßgeblich am „Stanser Verkommnis“ beteiligt, wie jener Vertrag in der Schweiz genannt wird, der die Eidgenossen von den letzten blutigen Bruderkriegen ihrer Gründungskantone befreite und von da an den friedlichen und zuverlässigen Weg einer erweiterten Eidgenossenschaft in die Zukunft ebnete. In der Kirchenspaltung der Reformation, die 40 Jahre nach seinem Tod die westliche Christenheit heimsuchte, wurde Niklaus als Patron aller Parteien und Konfessionen verehrt, der Katholiken, Calvinisten und Zwinglianern als gemeinsamen Schatz das Stoßgebet hinterlassen hatte: „Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu Dir. / Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu Dir. / Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen Dir.“ Heute pilgern Christen aller Denominationen an das Grab des Schweizer Schutzpatrons, auch viele Nichtchristen. Mitten in dramatisch bedrohlichen Truppenbewegungen der deutschen Wehrmacht im Südschwarzwald erschien am 13. Mai 1940 in Waldenburg, wo er im Oktober 1467 zu seiner wahren Berufung umgekehrt war, vor zahllosen Zeugen eine Hand („und keine Wolke!“) am Himmel, in der zahllose Zeugen sogleich einen Eingriff Bruder Klaus’ erkannten. Einen Tag später zog sich die deutsche Wehrmacht von der Schweizer Grenze zurück.

Papst Johannes XXIII., der im Oktober 1962 mit seiner diskreten Intervention zwischen Washington und Moskau die nukleare Kubakrise wie keiner sonst zu entschärfen half, hatte seine zärtliche Hochschätzung des exzentrischen Eremiten von seinem Vorgänger übernommen, der Bruder Klaus zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg heiliggesprochen hatte. Der unermüdliche Friedenspapst Johannes Paul II., dem Europa den Fall der Berliner Mauer verdankt, pilgerte mit seinen vielen Anliegen am 14. Juni 1984 in die Klause des heiligen Nikolaus. Konrad Adenauer kam vor seiner Reise nach Moskau 1953 eine Nacht lang an seinem Grab beten, um Nikolaus’ Beistand für die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen zu erbitten. Dem ersten deutschen Bundeskanzler stand Bruder Klaus auch bei dessen Schachzügen zur Seite, mit denen sich der alte Mann vom Rhein aus den schmeichelnden Verlockungen Stalins und das gespaltene Gesamtdeutschland der Nachkriegszeit aus der drohenden Umarmung des russischen Bären löste. Auch der Verleger Axel Springer verehrte Nikolaus von der Flüe neben dem heiligen Johannes von Patmos wie keinen anderen Heiligen, als er wegen seines unbeirrten Glaubens und einsamen Eintretens für die freie deutsche Wiedervereinigung in der alten Bonner Bundesrepublik noch als „Brandenburger Tor“ verhöhnt wurde.

Und heute ist der Krieg zurück im Zentrum Europas. Jetzt haben sich Moskau und Kiew durch eine Serie fataler Fehleinschätzungen und grober Irrtümer in eine mörderische Lage manövriert, aus der ein Ausweg unmöglich scheint, nicht aber eine Wendung zu immer größerem Unheil für die ganze Welt. Da sollten wir beten, dass Kurt Kardinal Koch aus der Schweiz Papst Franziskus dringend an den potentesten Friedensstifter Europas erinnert, damit der Pontifex den Sondergesandten Matteo Maria Kardinal Zuppi als Vermittler für seine päpstliche Friedensmission vor dessen nächsten Flügen nach Kiew und Moskau vielleicht besser zuerst einmal zu einer Pilgerreise in die Schweizer Flüe aufbrechen lässt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Schweizer Zeitschrift „Die Weltwoche“. CNA Deutsch veröffentlicht ihn mit freundliche Genehmigung des Autors.

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