Den Karsamstag aushalten

„Frühmorgens, als es noch dunkel war“, geht Maria von Magdala zum Grab Jesu, sie sieht zwar, dass der Stein weggewälzt ist, aber ihr einziger Gedanke ist, dass man den Leichnam Jesu weggenommen hat. Mit diesen Worten beginnt das Osterevangelium. Von Ostern ist freilich zunächst überhaupt nichts zu spüren. Mit der angeblichen Entfernung des Leichnams Jesu sind gleichsam auch die letzten Hoffnungen Marias mitgenommen worden. Sie hat die Schwelle zu Ostern noch nicht überschritten; sie lebt noch am Karsamstag. 

Es dürfte uns nicht schwer fallen, uns und unsere Welt in Maria abgebildet zu sehen. Allzu oft ist auch unser eigenes Leben von Angst, Hoffnungslosigkeit und Sinnleere stigmatisiert. Unsere Welt mit den vielen Krisenerscheinungen in Wirtschaft und Politik, mit den zahlreichen Kriegen im Nahen Osten, in der Ukraine und an vielen anderen Orten, mit Christenverfolgungen und den grossen Flüchtlingsströmen lebt weithin am Karsamstag und damit vor der Schwelle zu Ostern.

Der Karsamstag scheint der Tag zu sein, der unserer Lebenssituation irgendwie am besten entspricht und die elementare Frage aufwirft, wie es denn nach dem Karfreitag weitergehen soll. Der Karsamstag ist der Tag der Grabesruhe Jesu, der Tag der schweigenden Leere und der Tag der Verborgenheit und des Schweigens Gottes. „Gottesfinsternis“ dürfte das präzise Wort für diesen Tag sein. Jesus ist in unsere Welt gekommen, um den lebendigen und liebenden Gott in unsere Welt zu bringen und sein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und der Liebe anzusagen. Nun aber ist Jesus tot und ist begraben worden, und im Glaubensbekenntnis sagen wir, Jesus sei „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Im Grab Jesu sind auch die grossen Hoffnungen, die die Jünger auf Jesus als den gekommenen Messias gesetzt haben, mit begraben. Auch Gott, sein treuer und barmherziger Vater, rettet Jesus nicht: ihn, der sich allein Gottes Sohn nennen durfte. Tag des Begräbnisses Gottes: Das ist der Karsamstag.

Dies ist zum Weinen – und das an Ostern. Doch das Weinen ist dem Osterfest weder fern noch fremd. Denn das Weinen kommt immer aus der Tiefe der Seele, und die Tränen sind gleichsam das „Grundwasser der Seele“[1]. Zudem steht im Mittelpunkt des Osterevangeliums eine Frau, die weint. Damit wir es ja nicht übersehen, wird es sogar viermal ausdrücklich erwähnt: Maria von Magdala steht vor dem Grab und weint. Mit ihr zusammen müssen wir den Karsamstag aushalten. 

Die andere Seite des Karsamstags

Nur wenn wir ihm nicht ausweichen, können wir uns der anderen Seite öffnen, die dieser Tag auch hat. Denn die Aussage, dass wir in der heutigen Welt nicht recht über den Karsamstag hinaus kommen, enthält nur die Hälfte der Wahrheit. Sie verleitet vor allem zur Annahme, dass wir Menschen von uns aus in der Lage wären, den Karsamstag hinter uns zu lassen. Doch dies ist nicht wahr, wie wir aus eigener Erfahrung wissen: Wir Menschen können zwar sehr wohl Karsamstag schaffen – überwinden können wir ihn aber nicht, zumindest nicht allein.

So verhielt es sich bereits beim Karsamstag, den Jesus, aber auch seine Jünger und Maria im Evangelium erfahren mussten. In die Trostlosigkeit des Begräbnisses Jesu konnte nur Gott selbst eine Wende bringen. Ja, er wollte diese Wende bringen, weil er sich selbst treu bleiben wollte. Von sich aus wären die Jünger Jesu und Maria keineswegs auf die Idee gekommen, dass auf den Karsamstag Ostern folgen würde. Sie mussten dies selbst erfahren. 

Dies zeigt sich unübersehbar bei Maria, die Jesus bei den Toten sucht und gar nicht merkt, dass der Auferstandene vor ihr steht. Die Augen für die Gegenwart des Auferstandenen gehen ihr erst auf, als Jesus sie anspricht und sie bei ihrem Namen nennt: „Maria!“ Jesus sagt nur dieses eine Wort: „Maria!“ Weder hält er eine dogmatische Belehrung noch gibt er eine moralische Ermahnung. Nein, er nennt Maria nur mit ihrem Namen; und dies genügt: „Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heisst: Meister.“ Genau hier und genau so ereignet sich Ostern. Maria sucht den Lebenden bei den Toten und macht die Erfahrung, dass der Lebende sie jenseits der Todesgrenze, nämlich von der Zukunft Gottes her, beim Namen ruft. Im buchstäblichen Sinne „namentlich“ beginnt bei Maria der Osterglaube.

Auch bei uns Christen heute kann es sich nicht anders verhalten. Ostern beginnt genau da, wo wir uns vom Auferstandenen beim Namen gerufen wissen. Um diese Wende, die von Gott her eingetreten ist, besser zu verstehen, müssen wir aber noch etwas tiefer ausloten, was Karsamstag ist. Tod und Begräbnis Jesu zeigen, dass der eigentliche Schrecken des Karsamstags die totale Einsamkeit und Beziehungslosigkeit ist. Im Grunde unseres Herzens wissen wir darum, dass alle Angst, die wir in dieser Welt haben, letztlich Angst vor Einsamkeit und dass der Tod die Einsamkeit schlechthin ist. Einsamkeit aber, in die kein Wort der Liebe mehr reicht und kein Zeichen der Liebe mehr Zutritt hat, ist im buchstäblichen Sinn Hölle.

Angesichts dieses tiefsten Abgrunds beginnt der Satz im Glaubensbekenntnis zu leuchten, dass Jesus in das Reich des Todes hinab gestiegen ist. Jesus wollte selbst in die Hölle der Einsamkeit und Beziehungslosigkeit gehen und dorthin Liebe und Beziehung bringen, und er wollte mit uns Menschen auch noch in unserem Totsein solidarisch sein. Sein Sterben und sein Eingeschlossensein in das Grab einer letzten Einsamkeit ist zugleich das Zeichen seiner radikalen Solidarität mit uns Menschen.

Jesu Solidarität mit uns Menschen bis ins Letzte ist aber bereits die Morgenröte der Überwindung der Einsamkeit und Beziehungslosigkeit, die Gott an Ostern bewirkt hat. Denn Gott, der in sich selbst lebendige Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist ist, kann und will der Einsamkeit der Menschen nicht das letzte Wort geben. Er lässt ihr nur das zweitletzte Wort und behält das letzte Wort für sich; und dieses Wort heisst Beziehung und Gemeinschaft, Leben und Liebe.

Im Karsamstag auf Ostern hin leben

Das dunkelste Geheimnis des christlichen Glaubens, dem wir am Karsamstag begegnen, ist so zugleich das hellste Fanal einer Hoffnung, die ohne Grenzen ist. Dadurch, dass Jesus auch in die eiskalte Region des Todes das warme Wort der Liebe Gottes gebracht hat und in das Niemandsland einer letzten Einsamkeit eingetreten ist, ist die Hölle der Einsamkeit aufgesprengt und der Tod bereits im Kern überwunden. Seither gibt es Ostern mitten im Karsamstag: „Seitdem es die Anwesenheit der Liebe im Raum des Todes gibt, gibt es Leben mitten im Tod.“[2]

Mitten im Leben erfahren wir Menschen den Tod: den sozialen Tod der Einsamkeit und Beziehungslosigkeit und den biologischen Tod des Lebens. Der christliche Osterglaube aber hat den Mut, diese trostlose Wahrheit auf den Kopf zu stellen: Mitten im Tod gibt es Leben, weil Gott Jesus, seinen geliebten Sohn, nicht im Tod gelassen, sondern ihm neues Leben geschenkt hat. Dies ist Ostern: Die grösste Explosion des Lebens, die sich überhaupt ausdenken lässt und die sich im Grab Jesu ereignet hat. Sie ist an Jesus geschehen, und deshalb feiern wir Christen Ostern: als Tag der Überwindung der Angst in neue Zuversicht hinein, als Tag des ewigen Lebens, das das kostbarste Geschenk Gottes ist und als Tag des Sieges der Liebe Gottes über die scheinbare Allmacht des menschlichen Todes.

Angesichts von Ostern, das Gott bewirkt hat, leben wir Menschen freilich weiterhin im Karsamstag, aber in einem österlich erhellten und verwandelten Karsamstag. Wie Maria von Magdala leben wir im Übergang von Karsamstag auf Ostern hin. Sie hat zwar am Karsamstag alle Hoffnung fahren lassen müssen und hat sich angeschickt, den Leichnam Jesu aufzusuchen. Doch inmitten ihres Karsamstags ist bereits das Licht der Auferstehung, das Licht der Osternacht durchgebrochen. Genau so steht auch unser Leben zwar noch nicht im vollen Licht von Ostern; aber seit Ostern dürfen wir vertrauensvoll und in tragfähiger Hoffnung auf Ostern zugehen, indem wir uns Gottes Lebensliebe schenken lassen und selbst in Liebe dem Leben dienen. Dann zeigt der Karsamstag uns allen bereits jetzt sein österliches Gesicht. 

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Warum ist dem so? Die österliche Hoffnung trägt deshalb, weil es sich mit ihr gleichsam wie mit einer „Gruppe von Bergsteigern, die im gleichen Seil hängen“[3], verhält. Wenn der Führer der Seilschaft als Erster den Gipfel des Berges erreicht hat, dann kann es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein, wenn auch die Anderen, die ja vom Führer am Seil abgesichert sind, ebenfalls den Gipfel des Berges erreichen werden. Wenn der Führer der Seilschaft das Ziel erreicht hat, ist im Grunde auch die Seilschaft bereits am Ziel. Ostern schenkt uns so die gute Botschaft, dass Christus, der Führer der Seilschaft der Kirche, den Tod überwunden hat und bereits in der Herrlichkeit Gottes angekommen ist. Als Haupt der Kirche wartet er dort auf seinen Leib, den er auch zu diesem Ziel führen wird.

In diese österliche Seilschaft Jesu Christi sind wir aufgenommen worden in der Taufe, an die wir uns jeweils in der Heiligen Osternacht erinnern und deren Verpflichtungen wir erneuern. Die österliche Taufe ruft uns deshalb auch in Erinnerung, dass wir Ostern nicht für uns allein feiern können, sondern dass es ein Fest der Kirche, der Seilschaft Jesu Christi ist. Schöpfen wir deshalb am heutigen Osterfest neue Hoffnung. Ostern schenkt uns die Zuversicht, dass der Karsamstag, der Tag des Schweigens Gottes, bereits Ostern, den Tag des neuen Lebens vorweg nimmt und auf jeden Fall zu Ostern hin führt. Auch in diesem Sinn ist der Karsamstag der Tag, der unserem menschlichen Leben am meisten entspricht. Wir dürfen es leben in der Gewissheit, dass wir in der Taufe bereits Anteil am Ostern Jesu erhalten haben und sich der Karsamstag für jeden Einzelnen von uns endgültig in Ostern verwandeln wird. Dies ist der tiefste Grund unserer Freude an diesem Osterfest. Amen.

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[1]  F. Kamphaus, Zwischen Nacht und Tag. Österliche Inspirationen (Freiburg i. Br. 1998) 72.

[2]  J. Ratzinger, Meditationen zur Karwoche (Freising 1969) 25.

[3]  G. Greshake, „Und das ist heute“. Betrachtungen zu den Kar- und Ostertagen (Freiburg i. Br. 2007) 66.