Seit Monaten beherrscht das Flüchtlings- und Migrationsthema die öffentliche Diskussion. Gleichzeitig stellt jede Äußerung angesichts des gegenwärtigen Diskussionsklimas zu dem Thema ein Wagnis dar. Die Problematik ist von so vielen Emotionen, Ängsten und Projektionen überlagert, dass es nicht leicht ist, einen davon unbeeinflussten Blick zu wahren.

Der Eindruck von Kontrollverlust des Staates, vermeintlich oder berechtigt, hat entscheidenden Einfluss auf die Diskussion und politischen Entscheidungen. In meiner Wahrnehmung ist der Kontrollverlust nicht so eklatant, wie er häufig kommuniziert wird. Das ist ein wichtiges Kommunikationsthema. Um es auch vorweg zu sagen: ich bin für ein vernünftiges und umfassendes Grenzregime möglichst an den europäischen Außengrenzen, das von der Bevölkerung auch als solches wahrgenommen werden kann. Nur dann wird es möglich sein, die Menschen davon zu überzeugen, dass wir in Zukunft mehr Migranten aufnehmen müssen.

Eine Führungs- und Kommunikationskrise

Zunächst einmal möchte ich die Behauptung wagen, dass wir es hier in Europa zurzeit weniger mit einer Flüchtlings- oder Migrationskrise als mit einer europäischen Führungs- und einer Kommunikationskrise zu tun haben. Tatsächlich sind in Europa momentan weniger Flüchtlinge als vor 20 Jahren. Im Zeitraum 1992 – 1995 waren es 0,5 Prozent der EU-Bevölkerung, jetzt sind es 0,4 Prozent.  90 Prozent der Migranten sind legal nach Europa gekommen. Allerdings kann sich dieses Szenario ändern, wenn es nicht gelingt, die sich im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika weiter steigernde Flüchtlings- und Migrationsdramatik besser anzugehen.

Tatsächlich sind die Hintergründe der gegenwärtigen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen äußerst komplex. Das ist zunächst keine gute Feststellung, da sie impliziert, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Um noch eins drauf zu setzen: wir glauben, dass die Problematik und ihre Dynamik immer noch unterschätzt werden. Dabei scheint mir wichtig, dass die Erhebung von Tatsachen sowie die Analyse möglicher Entwicklungen und Handlungsoptionen zunächst einmal unabhängig von humanitären und werte-basierten Aspekten betrachtet werden. So kann vermieden werden, dass Handlungsoptionen vorzeitig als reine Wertentscheidungen diffamiert werden können.

Und nur wenn es gelingt, eine faktenbasierte Diskussion zu führen, wird es auch möglich sein, vernünftige Abwägungen zu treffen, bei denen ernstzunehmende Bedenken und Ängste einerseits und Wertmaßstäbe andererseits vernünftig mit einbezogen werden können.

Einige Zahlen zur Übersicht:

Wir zählen zurzeit ungefähr 244 Millionen internationale Migranten. 65 Millionen Menschen waren im letzten Jahr auf der Flucht. Zwei Jahre zuvor waren es 60 Millionen und die Zahl steigt weiter. Darunter sind ca. 43 Millionen, die innerhalb ihres Heimatlands geblieben sind, sogenannte "internally displaced people" (IDPs), 22 Mio. mussten ihr Land verlassen. Gemessen an einer Weltbevölkerung von 7,349 Milliarden Menschen ist damit statistisch jeder 113. Mensch, fast 1 Prozent, entweder asylsuchend, binnenvertrieben oder Flüchtling – ein noch nie dagewesener Höchststand. Während im Jahr 2005 durchschnittlich sechs Menschen pro Minute entwurzelt wurden, sind es heute 24 Menschen pro Minute – das sind statistisch zwei Menschen pro Atemzug. Etwas über die Hälfte der Flüchtlinge sind Jugendliche und Kinder.

Die Rolle und Geschichte der Malteser 

Vorweg kurz etwas zum Malteserorden und seiner Beschäftigung mit der Flüchtlings- und Migrationsfrage: Der Orden wurde vor fast 1.000 Jahren im Heiligen Land zur Versorgung kranker und verwundeter Pilger gegründet. Er wurde 1113 vom Papst als unabhängiger Orden anerkannt. Bereits in seiner ersten Verfassung aus dieser Zeit wird festgelegt, dass Hilfe für Arme und Kranke ohne Rücksicht auf Religionszugehörigkeit, Rasse, Herkunft oder Alter geleistet wird, lange bevor solche Prinzipien erst in der Neuzeit allgemein anerkannt wurden.

Nach der Ankunft des ersten Kreuzzugs 1099 schlossen sich viele Kreuzritter dem Orden an, der in der Folge dann auch Verteidigungsaufgaben übernahm. Nie wurde jedoch weniger als 60Prozent des Budgets für Kranken- und Armenhilfe aufgewandt. Nach der Vertreibung aus dem Heiligen Landetablierte der Orden sich auf Rhodos erstmals als staatliches Gebilde. Daher rührt seine Souveränität, die nach dem späteren Verlust von Malta im Zuge des Wiener Kongresses bestätigt wurde. Heute unterhält der Orden diplomatische Beziehungen mit 106 Staaten und der EU und ist als offizieller Beobachter bei der UN akkreditiert. Er ist in etwa 120 Ländern durch eigene Institutionen oder Projekte meistens im medizinischen oder sozialen Bereich aktiv. Einer der internationalen Schwerpunkte sind die Katastrophenhilfe und die humanitäre Hilfe im Zuge bewaffneter Konflikte. Die politische Neutralität des Ordens, seine Unabhängigkeit, die wesentlich durch den Status als souveränes Subjekt des Völkerrechts gewährleistet wird, sowie die Tatsache, dass er nicht mit einem bestimmten Land oder Bündnis in Verbindung gebracht werden kann, machen Einsätze möglich, die für viele andere schwierig wären.

Zurzeit gibt es Hilfsprojekte für Flüchtlinge und Migranten, in Südost-Asien (Myanmar, Thailand) in Zentralafrika (Burkina Faso), im Südsudan, Uganda, Kongo, im Nahen und Mittleren Osten und natürlich in Europa mit einem Schwerpunkt in Deutschland.

"Der Ärztemangel ist katastrophal"

Die Schwerpunkte unserer Aktivitäten liegen im Libanon, im Nordirak und im syrischen Grenzgebiet der Türkei – genaugenommen in und um Kilis (90 km nördlich von Aleppo). Wir haben Kilis ursprünglich gewählt, da es eine ruhige Region war und einen relativ einfachen und sicheren Zugang nach Aleppo geboten hat. Die syrischen Flüchtlinge wurden dort zunächst gerne gesehen; sie brachten Geld und einen Wirtschaftsaufschwung. Inzwischen hat sich das Bild gewandelt. Das Geld geht aus, mehr und mehr Syrer sehen sich gezwungen schwarz zu arbeiten. Manche Flüchtlinge sind schon über vier Jahre dort.

Als erstes verlieren die Kinder den emotionalen Kontakt zu ihrer Heimat. Man rechnet damit, dass in der Türkei ca. 80 Prozent der Flüchtlinge nicht registriert und nicht in Lagern sind. Je länger der Krieg dauert, umso weniger werden zurückkehren wollen.

In Kilis betreiben wir ein Hospital und bieten dort und in der Umgebung eine ganze Palette von sozialen Programmen an – schulische Hilfen, psychosoziale Beratung und Trauma Behandlung, Verteilung von Hilfsgütern.  Mit mobilen Kliniken, die fast ausschließlich mit syrischen Flüchtlingen bemannt sind, wird, wenn immer die Sicherheitslage es erlaubt, in Syrien Hilfe geleistet. Dabei liegen die Schwerpunkte in den ungeplanten Lagern auf der syrischen Seite der Grenze und in Aleppo. Die Menschen in den Lagern auf der syrischen Seite werden auch von der Türkei unterstützt, die ja daran interessiert ist, dass die Menschen dortbleiben; aber dennoch ist die Situation äußerst prekär. Über die Lage in Aleppo brauche ich nicht viel sagen. Es gibt kein wirklich funktionierendes Krankenhaus mehr. Unsere wichtigsten Kontaktpersonen einschließlich des letzten Kinderarztes sind bei Luftangriffen umgekommen.

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Während nach unserer Wahrnehmung die meisten Flüchtlinge vor den Angriffen des Regimes fliehen und wohl auch nicht zurückkehren werden, bevor zumindest die grausamsten Vertreter keine Macht mehr haben, fliehen die Ärzte und das medizinische Personal vor dem IS, da sie der IS im ganzen Land kidnappt, um ihre Kämpfer zu versorgen. Der Ärztemangel ist katastrophal.

Seit der Schließung der Balkanroute sind wieder mehr Menschen nach Jordanien geflohen. Da die meisten Grenzübergänge geschlossen sind, weichen sie in den Nordosten aus, das heißt in die Wüste. Die Verhältnisse dort sind wegen des Wassermangels unerträglich.

Im Nordirak leisten wir medizinische Hilfe hauptsächlich für Menschen, die vor dem IS im Irak geflohen sind, darunter viele Christen und Jesiden. Die Zahl der IDPs steigt wegen der Schlacht um Mossul wieder. 

Schiitische Krankenschwestern tragen das Kreuz

Ein Schwerpunkt unserer Arbeit liegt seit dem Libanonkrieg vor knapp dreißig Jahren im Libanon. Wir betreiben im Libanon neun Kliniken – hier würde man sagen Ärztehäuser und Sozialzentren mit wenigen Betten. Viuer dieser Kliniken führen wir bewusst zusammen mit anderen Religionsgemeinschaften, mit den Sunniten, mit den Drusen und im Süden eine mit Schiiten. Das Vertrauen zwischen uns den verschiedenen Gruppen ist außerordentlich gut. Die schiitischen Krankenschwestern tragen auf ihrer traditionellen Krankenschwesterntracht mit Schleier unser Kreuz.

Ganz im Norden des Landes gegenüber Homs betreiben wir eine mobile Klinik mit finanzieller Hilfe des Auswärtigen Amtes. Anfangs waren wir gewarnt worden, da die Sunniten dort recht radikal sind. Uns war geraten worden, das Malteserkreuz nicht zu verwenden. Nach wenigen Wochen verlangte die Bevölkerung selber, dass wir unser Zeichen als Signal der Neutralität und Vertrauenswürdigkeit zeigen. Nicht viel später haben wir erfahren, dass der kleine Warteraum unter dem Vorwand medizinischer Behandlung von Führern oder Emissären verfeindeter Gruppen, als neutraler Treffpunkt für Gespräche genutzt wird.

Die Lage im Libanon ist kritisch. Offiziell sind 25 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge. Wir schätzen, dass jeder dritte ein Flüchtling ist. Es gibt keine offiziellen Camps, da die Libanesen mit den Palästinensercamps die Erfahrung gemacht haben, dass sich daraus bleibende Städte und sozial Brennpunkte mit einer fremden Bevölkerung bilden. Für die sowieso schon sehr instabile soziale Infrastruktur bedeutet das eine auf Dauer nicht zu bewältigende Last. Wegen des Überangebots an Arbeitskräften sinken die Löhne gleichzeitig steigen die Mieten rasant. Wachsende Armut bietet einen gefährlichen Nährboden für die Rekrutierung von Terroristen. Während die Führer der traditionellen Fraktionen es bisher gemanaged haben, den Libanon trotz ihrer Unfähigkeit, einen Präsidenten zu wählen und ein funktionierendes Regierungssystem aufzubauen, den Libanon aus dem Konflikt weitgehend herauszuhalten, wird die soziale Lage immer explosiver. Sollte auch der Libanon fallen, fürchte ich, wird die politische Lage und damit die humanitäre vollkommen außer Kontrolle geraten.

Die Männer verdienen ihr Geld als Söldner

Wie in Jordanien sieht man unter den Flüchtlingen hauptsächlich Frauen, Kinder und ältere Menschen. Viele Männer kämpfen in Syrien, die meisten nicht zur Verteidigung von Haus und Hof, sondern als Söldner, da dies die einzige Möglichkeit für sie bietet, etwas Geld für die Familie zu verdienen.

Nachdem der Zustrom der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten fast zum Stillstand gekommen ist, richtet sich das Augenmerk wieder mehr auf Afrika, ein Kontinent, der seit langem in Bewegung ist und noch lange in Bewegung bleiben wird. In dreißig Jahren werden dort wahrscheinlich 2,4 Milliarden Menschen leben. Afrika ist der einzige Kontinent mit wachsender Bevölkerung. Im Unterschied zum alternden Europa wird es eine sehr junge Bevölkerung haben. Die Gründe für die Wanderungen sind unterschiedlich, vom Fliehen vor Gewalt und Unterdrückung zum Beispiel aus Somalia, Eritrea oder den Gebieten, die von Milizen terrorisiert werden über Armuts- und Elendsmigration, weil die Lebensgrundlagen – häufig wegen Klimaveränderungen und Trockenheit – wegbrechen, oder weil die Menschen schlicht auf bessere Lebenschancen hoffen. Oft kommt auch eins zum anderen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Migrationsbewegungen in alle Richtungen gehen. Es sind aus den Gebieten der Subsahara wahrscheinlich sehr viel mehr Menschen nach Süden als nach Norden unterwegs. Sie erinnern sich wahrscheinlich, dass es in Südafrika deswegen gerade wieder zu Unruhen gekommen ist. Der Weg in den Norden ist sehr viel gefährlicher und teurer. Ihn können sich nur die leisten, die schon etwas Geld haben und die Schlepper und Schmuggler zahlen können. Seitdem Marokko dicht ist, konzentriert sich der Strom nach Norden auf Libyen. Die Internationale Organisation für Migration in Genf vergleicht das mit einem Luftballon. Drückt man ihn an einer Seite zusammen, bläht er sich auf der anderen auf.

Lage auf dem Mittelmeer

Wir haben inzwischen zweimal Vertreter der beiden feindlichen Regierungen in Libyen zu einer Konferenz zum Thema der Migration durch Libyen und der humanitären Situation dort nach Rom eingeladen. Da wir einen neutralen, extraterritorialen Ort für die Treffen anbieten können und die italienische Regierung nach einigen Gesprächen bereit war, auch den Vertretern der von Europa nicht anerkannten Regierung in Tripolis Visa zu erteilen, kamen die Treffen zustande. Die Libyer sehen verständlicherweise angesichts ihrer anderen Probleme die Migration nicht als ihre erste Priorität.

Die Schätzungen der Anzahl der dort auf eine Überfahrt wartenden Migranten schwanken zwischen 300.000 und 800.000. Wir halten etwas 500.000 für realistisch. Aus rein logistischen Gründen dürfte es nur schwer möglich sein, von dort mehr als 200.000 in den kleinen Booten über das Mittelmeer zu bringen.

Sorge bereite, dass im letztem Jahr die Zahl der aus Ägypten kommenden Flüchtlinge und Migranten um das Vierfache gestiegen ist. Es wird berichtet, dass an den Ausschiffungsplätzen erstaunlich wenig Polizei oder Militär zu sehen gewesen sei. Momentan ist dieser Weg wohl wieder versperrt.

So viele Flüchtlinge und Migranten wie in diesem Jahr sind noch nie im Mittelmeer ertrunken. Wir scheinen uns daran zu gewöhnen. Jedenfalls ist in der Presse keine große Aufregung mehr.

Unser italienischer Hilfsdienst stellt das medizinische Personal auf den Schiffen der italienischen Küstenwache und Marine. Wir haben daher einen guten Überblick und aus Gesprächen mit den Migranten Einblicke in deren Motivation und Schicksale. Die Zeit ist hier zu kurz, alles anzusprechen. Stichpunktartig ein paar Feststellungen:

  • Durchschnittlich sind die Migranten mehr als 18 Monate bis zur Mittelmeerküste unterwegs. Viele von ihnen werden unterwegs zur Sklavenarbeit oder Zwangsprostitution missbraucht. Eine relativ hohe Zahl der von uns betreuten Frauen kommt schwanger oder mit kleinen Babys an. Da sie länger als 9 Monate unterwegs sind, liegt fast immer eine Vergewaltigung vor.
  • Viele der Migranten sind zunächst von einem afrikanischen Land in ein anderes auf der Suche nach besseren Chancen migriert. Sie saßen also sozusagen schon locker, als sie sich aus Enttäuschung entschieden, sich auf den Weg nach Europa zu machen.
  • Der größte Teil der Migranten scheint aus eigenem Entschluss zu kommen. Aber natürlich kommen auch viele, weil sie von Schlepperorganisationen überredet oder wurden oder als Sklaven gefangen oder verkauft wurden. Es scheint auch so zu sein, dass einige der Schlepperorganisationen Arbeit in Libyen versprechen, die Menschen also ursprünglich gar nicht nach Europa wollten. Unter Gaddafi gab es in Libyen mehr als 1,6 Mio. Gastarbeiter.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig hinsichtlich der an der Flucht oder Migration beteiligten Helfer oder Organisationen zu differenzieren.

  • Es gibt die altruistischen Fluchthelfer, die nicht aus wirtschaftlichen Gründen helfen;
  • Es gibt die Grenzschmuggler, meistens an den Grenzen lebende Familien oder Clans, die damit den Lebensunterhalt verdienen.
  • Und schließlich die wirklich kriminellen Organisationen die das Betreiben, was wir "human trafficking" nennen.

Die Infrastruktur für die beiden letztgenannten Phänomene ist sehr dezentralisiert und häufig informell, daher auch so schwer zu bekämpfen. Die wirtschaftliche Bedeutung wächst allerdings rasant. Dieselbe Infrastruktur kann, hat sie sich einmal gebildet, auch zum Schmuggel anderer Güter, beispielsweise Waffen und Drogen, genutzt werden. Der Wert der durch Libyen so geschmuggelten Drogen wird auf 12 Milliarden geschätzt. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage in Libyen verkaufen Kleinunternehmer ihr etabliertes Geschäft und steigen in dieses lukrative Metier ein.

Schlepper foltern Kinder

Minderjährige, die durch Libyen gekommen sind, berichten in unseren Einrichtungen immer wieder über Folter. Sie werden von den Schleppern zu Anrufen nach Hause veranlasst und dann gefoltert, um die Eltern zur Überweisung von weiterem Geld zu zwingen. So wurde zum Beispiel ein 13-jähriger Junge an den Händen aufgehängt und auf die Knie geschlagen, bis diese gebrochen sind.

Alle ernstzunehmenden mit der Migration befassten Organisationen und Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass eine Versiegelung von Grenzen zum Wachsen und zur Stärkung krimineller Schmuggelinfrastrukturen führt und eine Militarisierung der Migrationsabwehr zur Militarisierung der Trafficker. Die Boote für die libyschen Migranten kommen inzwischen zu einem großen Teil aus China. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: ich möchte nicht einer unkontrollierten Migration nach Europa das Wort reden. Ich glaube nur, dass Mauern und Zäune schlicht auf Dauer das Problem nicht lösen. Lassen Sie mich auch dazu ein paar Punkte ansprechen und wieder zwischen der Syrienkrise und Afrika unterscheiden:

  • Eine Versiegelung der Grenzen führt dazu, dass Migranten, die an sich eine Rückreise überlegen, eher bleiben.
  • Da ein Ende des Krieges in Syrien nicht absehbar und damit eine Rückkehr der Flüchtlinge nicht absehbar ist, muss insbesondere in Jordanien und im Libanon mehr geholfen werden. Neben der Verbesserung der gesundheitlichen und schulischen Versorgung ist die Schaffung von Arbeitsplätzen entscheidend. Die Schaffung zollfreier Wirtschaftszonen mit der Verpflichtung für die Unternehmen, die medizinische und schulische Versorgung sicherzustellen, wäre eine Idee. Die Wirtschaft und zum Beispiel die Golfstaaten müssten zu entsprechenden Investitionen veranlasst werden.
  • In unserem ureigenen Interesse müssen Jordanien und der Libanon stabilisiert werden. Wenn diese Länder unter der Flüchtlingslast zerbrechen, wird es eine unkontrollierbare humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmaßes mit unschätzbaren Sicherheitsrisiken für Europa geben. Ich habe mit zu vielen Flüchtlingen geredet, um nicht auch unsere humanitären Verpflichtungen im Blick zu haben. Mir ist aber wichtig mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass allein unvoreingenommene strategische Vernunft zu einer solchen Analyse führt. Das Abendland ist nicht mit Parolen, sondern nur mit Weitsicht zu retten.
  • Im Übrigen verschlimmern antiislamische Töne in Europa die Lage der Christen im Nahen Osten. Sie fürchten diese Entwicklung am meisten. Sie wollen weiter mit der moslemischen Mehrheit zusammenleben. Die Antiislam Bewegung im christlichen Europa bringt sie in noch größere Gefahr als sie schon sind.
  • Langfristig wird wohl die Entwicklung in Afrika die größere Herausforderung bedeuten. Traditionelle Entwicklungshilfe wird das Problem erst einmal nicht lösen, da sich ja nicht die Ärmsten auf den Weg nach Europa machen, sondern hauptsächlich diejenigen die etwas Geld haben. Es müssen also Chancen für junge Menschen mit weitergehenden Wünschen nach Bildung und Lebenschancen geschaffen werden, wenn man das Phänomen unter Kontrolle bringen will.
  • Die Rücküberweisungen von Migranten (remittances) werden auf 450 – 600 Milliarden geschätzt. Die Entwicklungshilfe weltweit beträgt ca. 160 Milliarden.
  • Auch für Afrika muss es aus meiner Sicht eine differenzierte und kluge Politik für Einwanderung und temporäre Aufenthaltsmöglichkeiten zur Ausbildung oder Gewinnung von Berufserfahrung geben. Die Kontingente müssen so großzügig sein, dass Bewerber eine Chance zum legalen Aufenthalt sehen. Nur so lassen sich die illegalen Strukturen austrocknen. Abgelehnte Bewerber könnten zum Beispiel Wartepunkte für eine zweite Bewerbung nach einem gewissen Zeitraum bekommen, damit sie sich nicht nach einer Ablehnung auf den illegalen Weg machen.
  • Nur dann, wenn sich Europa entschließen kann, über solche Möglichkeiten nachzudenken, besteht eine Chance langfristig die Kontrolle zu gewinnen.

In einer globalisierten Welt ist es schwierig, Verantwortung genau zuzuordnen. Keiner von uns hat direkte Verantwortung für die Zustände in Afrika oder den Krieg in Syrien. Keiner von uns hat Menschen überredet, sich auf den Weg durch die Sahara und übers Mittelmeer zumachen. Aber dennoch kann sich keiner aus der Verantwortung stehlen, dafür Lösungen zu suchen.

Das größte Massengrab seit dem Zweiten Weltkrieg

Wenn sich ein Gemüsebauer aus Ghana sich auf den Weg nach Europa macht, um dann in Italien auf einem Tomatenfeld zu landen, um für einen Hungerlohn Tomaten zu ernten, weil er seine Tomaten aus Ghana nicht nach Europa verkaufen kann; oder wenn Fischer in Nigeria zu Piraten werden, weil die Fischgründe vor ihrer Küste von hochmodernen europäischen Fangflotten leer gefischt werden, dann stimmt etwas nicht und dann können wir nicht sagen, die Toten im Mittelmeer, dem größten Massengrab seit dem Zweiten Weltkrieg gehen uns überhaupt nichts an.

Ich habe neulich mit einem Arzt und einer Krankenschwester unseres italienischen Hilfsdienstes gesprochen. Die Krankenschwester erzählte mir, wie sie auf einem Schlauchboot plötzlich vier Ertrinkende vor sich hatte. Sie wusste, sie würde nur einen aus dem Wasser ziehen können und musste wählen. Sie sagte mir, ich musste Gott spielen. Jede Nacht sehe ich die Augen der anderen vor mir. Der Arzt berichtete, vor ihm im Wasser sei eine Mutter aufgetaucht, die mit letzter Kraft ihr Baby über Wasser hielt. Er habe das Baby ergriffen als eine Welle kam und die Mutter wegspülte. Unsere deutschen Marinesoldaten wissen von ähnlichen Erlebnissen zu berichten.

Die Geschichte zeigt immer wieder, dass Gesellschaften, die sich Veränderungen nicht stellen, die sich nach außen abschließen, zunächst irrelevant werden und dann untergehen. Ich möchte in einem Land leben, das die Kraft hat, sich Veränderungen zu stellen und damit auch für meine und unsere Kinder in der Welt relevant bleibt. Ich möchte, dass unser Land auf Dauer nicht nur mit seinen traditionellen direkten Nachbarn, sondern auch mit den immer näher rückenden übernächsten Nachbarn in Frieden lebt und nicht durch absolute Abschottung Ressentiments und Hass erzeugt und an dessen Grenzen Massengräber wachsen.

Freiherr Albrecht von Boeselager ist Großkanzler des Souveränen Malteserordens.

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