Der Tod Benedikt XVI. war das dritte planetarische Ereignis, auf das sich in diesem Jahrtausend die Augen aller Welt gerichtet haben. Das erste dieser Ereignisse war der 9. November 2001, als Piloten der Al-Qaida zwei vollbesetzte Passagierjets in die Twin Towers in Manhattan steuerten. Das zweite war das lange Sterben Johannes Paul II. – Jetzt war es das Begräbnis Benedikt XVI.

Es war der „kleine Prinz“, der da gestorben war, wie sein Privatsekretär Georg Gänswein ihn zuletzt einmal nannte, und tatsächlich wird er vielen wie eine Ikone in Erinnerung bleiben, mit seinen roten Schuhen, den schneeweißen Haaren und seinen Rauchmänteln aus altem Brokat. Mit seinem Tod aber wurde er zum ersten Papst, an dessen Sarg auf dem Petersplatz ein anderer Papst stand und trauerte.

Er war der Sohn eines Dorfpolizisten, der zum letzten Priesterkönig des Westens geworden war, als erster Nachfolger des Apostels Petrus im neuen Jahrtausend. Herausforderungen ohne Zahl hatten auf ihn gewartet, denen er unerschrocken als Bewahrer des gesamten Glaubensgutes der Christenheit entgegentrat. Sein letztes Amt aber hat der große Konservative dennoch nüchterner und moderner betrachtet als fast alle seine Vorgänger, als er am 11. Februar 2013 in Rom auf Lateinisch erklärte, seine Kräfte reichten nicht mehr aus, „den Petrusdienst in angemessener Weise auszuüben“. Er fühlte sein Ende nahen.

Kosmische Zeichen hatten sein Pontifikat begleitet, angefangen am 8. April 2005, als er dem Requiem Johannes Paul II. auf dem Petersplatz vorstand und Wind die Seiten des Evangeliars auf dem Fichtensarg seines Vorgängers vor- und zurückblätterte. Schließlich klappte der Sturm das Buch zu, als würde damit ein neues Kapitel der Geschichte aufgeschlagen. „Amen, amen, das sage ich dir“, sang der Lektor wie in kosmischer Regie die Worte des Evangelisten Johannes dazu: „Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.“

Acht Tage später wurde Joseph Ratzinger 78 Jahre alt. Elf Tage später war er selber Papst und hieß Benedictus XVI. Dahin wollte er niemals geführt werden! Gut ein Jahr später wölbte sich ein Regenbogen über Birkenau, als der Papst aus Deutschland den Schöpfer des Himmels in Auschwitz mit den Worten des Psalmisten anflehte: „Vergiss Dein Geschöpf Mensch nicht!“

Am Abend des 11. Februar 2013 aber ließ mich ein ungeheuer lauter Krach plötzlich befürchten, Al-Qaida habe nun auch den Petersdom angegriffen, das große „weiche“ Ziel der Christenheit. Es war aber nur der kilometerlange Blitz, der am Abend seines Rücktritts in die Kuppel von Sankt Peter einschlug.

Darüber sprachen wir auch, als ich ihn nach seinem Rücktritt am 22. Januar 2014 noch einmal in dem Kloster Mater Ecclesiae aufsuchte. „Ja“, sagte er trocken, „manchmal erhält man solche Zeichen, wo der liebe Gott durch die Natur direkt spricht, sei es in diesem Regenbogen, sei es mit diesem Blitz, wo wir sehen, dass die Schöpfung in Gottes Händen ist, durch die er zu uns spricht.“ Anderen fuhr der Blitz wie ein Zeichen der Endzeit in die Glieder. Doch ganz aus heiterem Himmel war sein Rücktritt an diesem Morgen nicht erfolgt.

Denn es war eine Grunderfahrung seines Lebens, dass einmal alles nur gut geworden war, als er im April 1945 als zwangsrekrutierter 17-Jähriger zu einem Fahnenflüchtigen der Hakenkreuzfahne Adolf Hitlers wurde und als er den Krieg verließ, um einfach nur nach Hause zu gehen, zu Mutter und Vater, wie ein großes Kind. „Ich wusste, dass da Posten stehen“, erzählte er es Peter Seewald in ihrem letzten Gespräch, „dass man sofort erschossen würde und dass so etwas eigentlich nur schlecht ausgehen kann. Warum ich trotzdem so ungeniert nach Hause gegangen bin, kann ich mir eigentlich nicht mehr erklären, also welcher Grad von Naivität mir da zu eigen war.“ Er war ein Deserteur, doch die ganze Familie hatte ihn „sofort freudig aufgenommen“. Offensichtlich war es ein Schlüsselerlebnis, das ihn angesichts aller Gefahren und Aufgaben als Brückenbauer zwischen auseinander driftenden Universen diesmal wieder zu einem ähnlichen Schritt bewegte, der noch einmal neu beleuchtet, warum das Kloster, in das er sich danach zurückzog, „Mutter“ hieß: Mutter der Kirche, MATER ECCLESIAE.

Natürlich trug der Greis am Ende Hörgeräte. Er war ein Seher und dennoch seit vielen Jahren halbblind, mit bewegend blitzenden Augen. Mit diesem Blick betrachtete er mich am 8. März 2018 ein letztes Mal, als ich noch einmal an seiner Morgenmesse teilnehmen durfte, an der er selbst nur noch sitzend teilnehmen konnte. Zu allem anderen fehlte ihm da schon die Kraft. Er hatte den Geist des Abendlands verkörpert, er war ein Schwergewicht der Überlieferung und Vernunft, doch am Ende war er fast durchsichtig geworden wie ein Engel, um wie eine Schneeflocke zu entschweben. Er konnte kaum mehr sprechen, aus seinen Stimmbändern war jede Kraft gewichen, nachdem ihm ein Leben lang das Gespräch und der Dialog gleichsam wie das Leben selbst erschienen waren. Ich war gekommen, um mir noch einmal seinen apostolischen Segen zu holen, den er bereitwillig erteilte. Denn war ja auch nach seinem Rücktritt der 264. Nachfolger des Apostels Petrus geblieben, als er ebenso „ungeniert“ wie 1945 für sich die Figur des „Papa emeritus“ als seine Neuschöpfung einführte, die es vorher in der Geschichte nie gegeben hatte.

Deshalb hat er am Ende seiner Amtszeit seinen Fischerring zertrümmern lassen, wie es nach dem Tod eines Papstes üblich ist, aber seinen Namen nicht zurückgegeben. Er war nicht mehr zu Joseph Ratzinger geworden, wie Papst Coelestin V., der sich im Dezember 1294 nach wenigen Monaten im Amt wieder in den Eremiten Pietro di Morrone zurückverwandelte. Benedikt XVI. ist als Revolutionär zurückgetreten.

An der Stirnwand seiner letzten Kapelle hatte er eine russische Ikone anbringen lassen mit dem greisen Simeon aus dem Lukas-Evangelium, dem wir den Gesang des „Nunc dimittis“ aus den Stundengebeten der Kirche verdanken: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, in Frieden scheiden.“ Das hat er sich im Frühjahr 2013 wohl auch für sich selbst gewünscht.

Nie hätte er geglaubt, dass er seinen Rücktritt so viele Jahre überleben würde. Anders als nach seiner Fahnenflucht 1945 wurde deshalb auch diesmal nicht einfach nur alles gut mit seinem Rückzug in die Mater Ecclesiae. „Sprungbereite Feindseligkeit“, die er als Papst einmal beklagt hatte, begleitete ihn auch über seinen Rücktritt hinaus. So musste er auch vor seinem Tod wohl schon mit wachen Augen ins Fegefeuer schauen, auch in das Fegefeuer der Mutter Kirche, und erleben, dass es viele Katholiken verwirrte, zwei Männer in Weiß im Vatikan zu wissen, Kardinäle eingeschlossen. Als er 91 war, musste er lesen, wie junge Nachwuchstheologen und der konvertierte und ehrgeizige Rabbiner Homolka ihn als Wegbereiter eines neuen Antisemitismus geißelten, weil er wieder einmal daran erinnert hatte, dass Jesus von Nazareth nicht nur der Herr der Christen sondern auch der Messias der Juden war.

Von Papst Leo XIII. (1810–1903) wusste er, dass er im Alter selbst alle Hochfeste wie Ostern und Weihnachten nur in der Sixtinischen Kapelle gefeiert hatte und niemals im Petersdom. „Man kann aber heute die Weltkirche nicht mehr von der Sixtinischen Kapelle aus regieren“, sagte er. „Heute kann ein Papst nicht so einfach abklingen.“ Er hätte es wohl gekonnt, doch er fühlte sich den Aufgaben, die den Päpsten im letzten Jahrhundert zugewachsen waren, zu sehr im Gehorsam verpflichtet. Darüber konnte und wollte er sich nicht hinwegsetzen.

Die Ärzte hätten ihm schließlich die Atlantik-Flüge verboten gehabt, nannte er als einen Hauptgrund für seinen Rücktritt, und dass er den Schritt darum rechtzeitig vor dem Weltjugendtag in Rio de Janeiro 2013 tun musste, um seinem Nachfolger genügend Zeit zur Vorbereitung zu lassen. Doch wie schön wäre es gewesen, er wäre im Flieger gestorben, dachte ich mir oft danach, hoch über den Wolken – und dass er dort in der Copacabana aufgebahrt worden wäre, wo die Jugend der Welt in gewaltigen Prozessionen um seinen Katafalk hätte Abschied von ihm nehmen können, auch als Akt der reinigenden Trauer, die die Herzen aller Katholiken auf seinen Nachfolger vorbereitet hätte.

Doch dieser Gedanke und diese Vorstellung waren ihm so fremd, dass weder ich noch sonst jemand diesen kleinen Gentleman des Südens je auf diese Möglichkeit anzusprechen gewagt hätte. So wird der Mann der Musik wohl als ein Papst der Ikonen in die Geschichte eingehen, mit dem weißen Helikopter, der ihn an der Peterskuppel vorbei in sein Exil nach Castelgandolfo flog. Dass er in seinem Pontifikat noch drei Bücher über Jesus von Nazareth schreiben konnte, kam ihm vor wie ein Wunder und er glaubte, dass sie geschrieben sein mussten. „Das war wirklich die Hand des Herrn, die das vollbracht hat, denn ich hatte ja so viel zu tun.“ Und dennoch: Diese Bücher, die er seinem Pontifikat wie ein Herkules abgetrotzt hat, werden in 100 Jahren höchstens noch Fachleute lesen. Vielleicht auch nicht. Denn das Gutenberg-Zeitalter, das er gleichsam exemplarisch verkörperte, ist mit ihm auch abgetreten und vorbei.

Lesen wird man von ihm gewiss aber auch dann noch ein Dokument, das er nicht selbst geschrieben, sondern im wohl unscheinbarsten Schritt seines Amtes wieder enthüllt hat, in einem jener Schritte, von denen er mir sagte, „dass Gott einen machen lässt, was man selber nicht machen kann“. Das ist das „nicht von Menschenhand geschaffene Bild“ Christi, das im Lauf der Jahrhunderte viele Namen hatte und von 706 bis 1527 in Sankt Peter aufbewahrt und davor im Byzantinischen Reich als „Mandylion“ oder als „Abgarbild“ verehrt wurde. Es ist ein überaus zartes Schleierbild, das in den Wirren des „Sacco di Roma“ im Mai 1527 aus dem Petersdom verschwand. Seit damals galt es als verschollen. Seit damals galt es als Legende, und es brauchte wohl einen Platoniker wie Benedikt XVI., um die Nachricht von solch einem Urbild ganz und gar ernst zu nehmen, als er am 1. September 2006 in Manoppello als erster Papst nach 479 Jahren wieder sein Knie vor der „wahren Ikone“ beugte.

Seit diesem Tag wurde „das menschliche Gesicht Gottes“ zum Siegel seines Pontifikats. Das ist sein Vermächtnis. Das wird am Ende von dem halbblinden Benedikt XVI. bleiben, dass er die Augen der Welt für die offenen Augen im lebendigen und heiligen Antlitz Gottes wieder neu geöffnet hat.

Nach den Weissagungen des Malachias, die dem heiligen Philipp Neri (1515–1595) zugeschrieben werden, der zu seinen Lebzeiten alle Päpste korrekt vorhergesehen hatte, die jeweils aus dem Konklave hervorgingen, endet die Liste der Päpste nach einem „Gloriae Olivae“, mit dem Benedikt XVI. gemeinhin identifiziert wurde, mit einem „Petrus Romanus“ als letztem Papst überhaupt. Ganz unvermittelt kam Benedikt in unserem letzten Gespräch darauf zu sprechen. „Ja, unserer Zeit ist eine besondere Zeit. Die Prophezeiungen des Malachias sind erschöpft. Das ist ja auch etwas Geheimnisvolles.“

Erstveröffentlicht in der katholischen Wochenzeitung „Die Tagespost“ vom 5. Januar 2023.