CNA Deutsch veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors eine Leseprobe aus Giuseppe Gracias Satire "Der Tod ist ein Kommunist: Ein Fiebertraum". Das Buch erscheint am 1. Juli 2021 bei Fontis. Ein Interview mit dem Schweizer Schriftsteller lesen Sie hier

Bis zum Tag seines Nervenzusammenbruchs galt der Professor als freundlicher,  etwas schüchterner Philosoph. Er arbeitete 18 Jahre an der Universität Zürich und verfasste später ein Theaterstück, das der Professor nur einem einzigen  Menschen zeigte, da es sich um den ersten, ernsthaften Versuch einer Komödie handelte mit dem Titel «Der Tod ist ein Kommunist».  

Am liebsten verkehrte der pensionierte Denker mit zwei Freunden: erstens mit  einem 60jährigen Chemiker aus der Nachbarschaft (Schwäche für Platon und  Heidegger), zweitens mit einem 45jährigen Journalisten namens Hofstetter (ehemaliger Student). Diese Freunde begleiteten den Professor auf  Spaziergängen, die in Wahrheit längere Gedankengänge waren und in überraschende Höhen führen konnten, unterbrochen von Holzbänken mit  herrlicher Aussicht, von Ruhepausen mit frischem Trinkwasser und saftigen Äpfeln. Überhaupt stand der Professor im Ruf, die Natur zu geniessen, das Leben und die Menschen gern zu haben. 

Umso grösser die Überraschung, als er in der Psychiatrischen Klinik Hobelberg landete, wo sonst keine Philosophen landen, sondern Depressive und Schizophrene aus praktischeren Berufen, allenfalls Literaturkritiker oder Leute  aus der Gesundheitsbranche, welche die Menschen schon seit längerem krank  machte. Da der ältere Freund des Professors (der Chemiker) einige Wochen zuvor von der Leiter gestürzt war (defekte Deckenlampe) und sich das Genick  gebrochen hatte, fand das Hobelberg’sche Klinikpersonal zunächst keine Verwandten oder Bekannten des Professors, um sie zu kontaktieren. Man  wusste, dass der Patient ein emeritierter Akademiker war, verwitwet und  kinderlos. 

Zum Glück trug der Professor das dunkelgraue Notizbuch bei sich, mit dem er  sich angewöhnt hatte, jählings aus der Tiefe hochschnellende Gedanken festzuhalten, von denen es in seinem Kopf zuweilen wimmelte: Schwärme von  Schmetterlingen, jeder Flügelschlag eine Idee, sogleich davonflatternd,  verschwindend am Horizont der Vergessenheit – wäre das Notizbuch des  Professors nicht gewesen.  

Nun entdeckte man im Notizbuch nicht nur eine Sammlung verschiedener  Gedankenschmetterlinge, sondern auch die Handynummer des 45jährigen  Journalisten Hofstetter. Dieser arbeitete, wie die Klinik herausfand, für die  renommierte Zürcher Allgemeine Zeitung. 

Als einziger Bekannter des Patienten wurde Hofstetter über das Vorgefallene in  Kenntnis gesetzt. Gemäss Polizeirapport hatte man den Professor vor dem  Universitätsspital Zürich in Gewahrsam genommen. In der Notaufnahme hatte er versucht, Patienten von der brandneuen Impfung MultiPan abzuhalten, welche  verschiedene Regierungen in Europa den Menschen anboten, um sie gegen gefährliche Viren und Pandemien zu schützen (Covid 19, Nixon-Trump-Virus, Habakuk-Epidemie). Seit Monaten durften die Menschen nur noch mit einem  digitalen Impfausweis frei reisen, frei trinken oder Körpersäfte tauschen. Dagegen  hatte sich der Professor gewehrt und die Leute im Krankenhaus angebrüllt. Ja, er  war wohl gegen das Personal handgreiflich geworden.

Der Professor – ein Aggressor? Das konnte Hofstetter nicht glauben. Erst  kürzlich hatten sie miteinander einen friedlichen Spaziergang erlebt, wobei sich  der Professor zwar Scherze zur Klimaerwärmung und zur Gesundheitspolitik  erlaubt hatte, weil er diese für Schwachsinn hielt (die Politik, nicht die  Klimaerwärmung). Der Professor hatte auch schon behauptet, die MultiPan 

Impfung bringe nicht die grosse Gesundheit, sondern mache den männlichen Teil  der Bevölkerung unfruchtbar – doch nie war der Professor deswegen je aggressiv  geworden.  

Hofstetter wollte seinen Freund sehen. Zwar arbeitete er in der Redaktion in  Zürich gerade an einer Sonderbeilage zur kriselnden Schweizer Uhrenindustrie (Abgabetermin: 36 Stunden), aber für den Moment mussten die Zeiger der Dringlichkeit eben stillstehen. 

In der Klinik liess man Hofstetter kleingedruckte, versicherungstechnisch vertrackte Formulare ausfüllen, bevor er die Erlaubnis bekam, das Zimmer zu  betreten, in dem sein Freund untergebracht war.  

Der Professor sass auf einem Stuhl vor einem vergitterten Fenster, das auf den  Hobelberger Park hinausging – ein schöner, sanft durchwehter Park – und schien  sich zu freuen, Hofstetter zu sehen.  

Er wirkte vollkommen normal. Und er riet dem jungen Freund, sich auf keinen Fall  impfen zu lassen.

 

Giuseppe Gracia, "Der Tod ist ein Kommunist: Ein Fiebertraum", erscheint am 1. Juli 2021 bei Fontis