30. Juni 2021
CNA Deutsch veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors eine Leseprobe aus Giuseppe Gracias Satire "Der Tod ist ein Kommunist: Ein Fiebertraum". Das Buch erscheint am 1. Juli 2021 bei Fontis. Ein Interview mit dem Schweizer Schriftsteller lesen Sie hier.
Bis zum Tag seines Nervenzusammenbruchs galt der Professor als freundlicher, etwas schüchterner Philosoph. Er arbeitete 18 Jahre an der Universität Zürich und verfasste später ein Theaterstück, das der Professor nur einem einzigen Menschen zeigte, da es sich um den ersten, ernsthaften Versuch einer Komödie handelte mit dem Titel «Der Tod ist ein Kommunist».
Am liebsten verkehrte der pensionierte Denker mit zwei Freunden: erstens mit einem 60jährigen Chemiker aus der Nachbarschaft (Schwäche für Platon und Heidegger), zweitens mit einem 45jährigen Journalisten namens Hofstetter (ehemaliger Student). Diese Freunde begleiteten den Professor auf Spaziergängen, die in Wahrheit längere Gedankengänge waren und in überraschende Höhen führen konnten, unterbrochen von Holzbänken mit herrlicher Aussicht, von Ruhepausen mit frischem Trinkwasser und saftigen Äpfeln. Überhaupt stand der Professor im Ruf, die Natur zu geniessen, das Leben und die Menschen gern zu haben.
Umso grösser die Überraschung, als er in der Psychiatrischen Klinik Hobelberg landete, wo sonst keine Philosophen landen, sondern Depressive und Schizophrene aus praktischeren Berufen, allenfalls Literaturkritiker oder Leute aus der Gesundheitsbranche, welche die Menschen schon seit längerem krank machte. Da der ältere Freund des Professors (der Chemiker) einige Wochen zuvor von der Leiter gestürzt war (defekte Deckenlampe) und sich das Genick gebrochen hatte, fand das Hobelberg’sche Klinikpersonal zunächst keine Verwandten oder Bekannten des Professors, um sie zu kontaktieren. Man wusste, dass der Patient ein emeritierter Akademiker war, verwitwet und kinderlos.
Zum Glück trug der Professor das dunkelgraue Notizbuch bei sich, mit dem er sich angewöhnt hatte, jählings aus der Tiefe hochschnellende Gedanken festzuhalten, von denen es in seinem Kopf zuweilen wimmelte: Schwärme von Schmetterlingen, jeder Flügelschlag eine Idee, sogleich davonflatternd, verschwindend am Horizont der Vergessenheit – wäre das Notizbuch des Professors nicht gewesen.
Nun entdeckte man im Notizbuch nicht nur eine Sammlung verschiedener Gedankenschmetterlinge, sondern auch die Handynummer des 45jährigen Journalisten Hofstetter. Dieser arbeitete, wie die Klinik herausfand, für die renommierte Zürcher Allgemeine Zeitung.
Als einziger Bekannter des Patienten wurde Hofstetter über das Vorgefallene in Kenntnis gesetzt. Gemäss Polizeirapport hatte man den Professor vor dem Universitätsspital Zürich in Gewahrsam genommen. In der Notaufnahme hatte er versucht, Patienten von der brandneuen Impfung MultiPan abzuhalten, welche verschiedene Regierungen in Europa den Menschen anboten, um sie gegen gefährliche Viren und Pandemien zu schützen (Covid 19, Nixon-Trump-Virus, Habakuk-Epidemie). Seit Monaten durften die Menschen nur noch mit einem digitalen Impfausweis frei reisen, frei trinken oder Körpersäfte tauschen. Dagegen hatte sich der Professor gewehrt und die Leute im Krankenhaus angebrüllt. Ja, er war wohl gegen das Personal handgreiflich geworden.
Der Professor – ein Aggressor? Das konnte Hofstetter nicht glauben. Erst kürzlich hatten sie miteinander einen friedlichen Spaziergang erlebt, wobei sich der Professor zwar Scherze zur Klimaerwärmung und zur Gesundheitspolitik erlaubt hatte, weil er diese für Schwachsinn hielt (die Politik, nicht die Klimaerwärmung). Der Professor hatte auch schon behauptet, die MultiPan
Impfung bringe nicht die grosse Gesundheit, sondern mache den männlichen Teil der Bevölkerung unfruchtbar – doch nie war der Professor deswegen je aggressiv geworden.
Hofstetter wollte seinen Freund sehen. Zwar arbeitete er in der Redaktion in Zürich gerade an einer Sonderbeilage zur kriselnden Schweizer Uhrenindustrie (Abgabetermin: 36 Stunden), aber für den Moment mussten die Zeiger der Dringlichkeit eben stillstehen.
In der Klinik liess man Hofstetter kleingedruckte, versicherungstechnisch vertrackte Formulare ausfüllen, bevor er die Erlaubnis bekam, das Zimmer zu betreten, in dem sein Freund untergebracht war.
Der Professor sass auf einem Stuhl vor einem vergitterten Fenster, das auf den Hobelberger Park hinausging – ein schöner, sanft durchwehter Park – und schien sich zu freuen, Hofstetter zu sehen.
Er wirkte vollkommen normal. Und er riet dem jungen Freund, sich auf keinen Fall impfen zu lassen.
Giuseppe Gracia, "Der Tod ist ein Kommunist: Ein Fiebertraum", erscheint am 1. Juli 2021 bei Fontis.