Eine Kehrtwende um 180 Grad ist ungewöhnlich. In der katholischen Kirche ist sie außergewöhnlich, da ihr Fundament darin besteht, den von den Aposteln überlieferten Glauben authentisch weiterzugeben. Gegenwärtig bahnen sich beim „Synodalen Weg“ gleich mehrere Kehrtwenden in wichtigen Fragen des Glaubens und der Sittenlehre an. Bisher beteiligt sich die Mehrheit der deutschen Bischöfe offenbar an dieser Kehrtwende. Einzelne Bischöfe befürchten aber bereits einen tiefgreifenden „Bruch“. Nun steht die dritte Synodalversammlung vom 3. bis 5. Februar in Frankfurt bevor.
 
Vor gut fünf Jahren tagte die Rom die Generalversammlung der Synode auf Weltebene mit 265 stimmberechtigten Bischöfen und 120 weiteren Beratern, darunter Erzbischof Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof Dr. Heiner Koch und Bischof Dr. Franz-Josef Bode. Das Thema lautete: „Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Rahmen der Evangelisierung“. Es ging um grundlegende Fragen der Morallehre.

Radikaler Kurswechsel deutscher Bischöfe

Damals beschloss die Generalversammlung einzeln über die jeweiligen Absätze ihres Schlussberichtes. Der nachfolgende Text erhielt 245 Ja- und nur neun Nein-Stimmen. Er lautet: „Eine kulturelle Herausforderung, die heute von großer Bedeutung ist, geht von der 'Gender'-Ideologie aus, welche den Unterschied und die natürliche Verwiesenheit von Mann und Frau leugnet. Sie stellt eine Gesellschaft ohne Geschlechterdifferenz in Aussicht und höhlt die anthropologische Grundlage der Familie aus. Diese Ideologie fördert Erziehungspläne und eine Ausrichtung der Gesetzgebung, welche eine persönliche Identität und affektive Intimität fördern, die von der biologischen Verschiedenheit zwischen Mann und Frau radikal abgekoppelt sind. Die menschliche Identität wird einer individualistischen Wahlfreiheit ausgeliefert, die sich auch im Laufe der Zeit ändern kann.“
 
Eindeutiger ging es nicht, sich von der Gender-„Ideologie“ zu distanzieren. In dem Beschluss der Weltsynode wurde auch die Begründung geliefert: „In der Sicht des Glaubens trägt die geschlechtliche Verschiedenheit des Menschen das Bild und Gleichnis Gottes in sich (vgl. Gen 1,26–27).“ Die Synode bekräftigte die seit Jahrtausenden bestehende von Gott gebildete Anthropologie des Menschen, die bereits im jüdischen Glauben grundgelegt und vom Christentum übernommen worden war.
Die Weltsynode arbeitete nicht nur im Plenum, sondern auch in Arbeitsgruppen.
 
Die deutsche Sprachgruppe der Synode hielt es für sinnvoll, in Rom eine zusätzliche Erklärung abzugeben, die später auf der Homepage der deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht wurde und dort bis heute zu finden ist. Darin wird betont: „Nach christlichem Verständnis einer Einheit von Leib und Seele lassen sich biologische Geschlechtlichkeit („sex“) und sozio-kulturelle Geschlechtsrolle („gender“) zwar analytisch voneinander unterscheiden, aber nicht grundsätzlich oder willkürlich voneinander trennen. Alle Theorien, die das Geschlecht des Menschen als nachträgliches Konstrukt ansehen und seine willkürliche Auswechselbarkeit gesellschaftlich durchsetzen wollen, sind als Ideologien abzulehnen.“
 
Damit haben sich die teilnehmenden deutschen Bischöfe ausdrücklich hinter den Mehrheitsbeschluss gestellt und ihn bekräftigt.
 
Der deutschen Sprachgruppe gehörten auch Erzbischof Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof Dr. Heiner Koch und Bischof Dr. Franz-Josef Bode an. Jetzt beraten sie erneut im deutschen „Synodalen Weg“ über die grundlegenden Themen der Anthropologie. Allerdings haben sie entweder jetzt keinen bestimmenden Einfluss mehr oder haben ihre Meinung hat sich in dieser entscheidenden Frage der katholischen Moral- und Sittenlehre um 180 Grad geändert.
 
 
Vier Wochen vor der dritten Synodalversammlung vom 3. bis 5. Februar waren 27 Beschlussentwürfe mit einem Gesamtumfang von 211 Seiten auf der Homepage des Synodalen Weges eingestellt. Unter den Vorlagen befinden sich sieben Texte zum Themenbereich „Sexualität und Partnerschaft“, in denen das Gegenteil dessen ausgesagt wird, was vor knapp fünf Jahren in Rom einvernehmlich beschlossen worden war.

Argumente für Änderungen 

Die Kehrwende der deutschen Bischöfe unter Einflussnahme des Synodalen Weges zeichnet sich aber nicht allein in diesem Themengebiet ab. Sie betrifft nahezu alle wesentlichen in Deutschland kontrovers diskutierten Fragen der vergangenen Jahrzehnte. Weitere, bislang wenig bekannte Reformvorschläge sind dazu gekommen. Es lohnt sich, einen gründlichen Blick darauf zu werfen.
 
Wer einen radikalen Kurswechsel anstrebt, benötigt gute Argumente. Es muss ein begründetes Veränderungsklima erzeugt werden, das aussagt: Einzelne Reformen genügen nicht, vielmehr können nur grundsätzliche Schritte weiterhelfen. Im Präambeltext wird der Synodale Weg als Antwort auf den Skandal des sexuellen Missbrauchs in Deutschland dargestellt. Darin heißt es: „Wir bekennen unsere Schuld und wollen Konsequenzen ziehen. Wir arbeiten die strukturellen Ursachen sexualisierter Gewalt und deren Vertuschung in unserer Kirche auf.“ Es gibt also ein berechtigtes Anliegen von großer Tragweite.
 
Ist damit bereits eine grundsätzliche Veränderungsbereitschaft vorhanden? Nicht unbedingt. Im Präambeltext heißt es weiter: „Wir wollen, dass die Kirche auf den Weg der Menschen findet und nicht, dass die Kirche über die Wege der Menschen bestimmt.“ Ein auf den ersten Blick schlüssiger Satz, der aber voller Sprengstoff ist. Denn er besagt im ersten Teil, dass sich die Kirche noch nicht auf dem „Weg der Menschen (be)findet“. Darüber lässt sich vielleicht noch streiten; und ein ständiges Bemühen um die Nähe zu den Menschen muss ein zentrales Anliegen der Kirche sein. Die zweite Hälfte des Satzes bildet aber eine  folgenschwere Aussage, für die im unmittelbaren Kontext keine Begründung geliefert wird: „Wir wollen … nicht, dass die Kirche über die Wege der Menschen bestimmt.“

Die Freiheit des Glaubens

Natürlich vertritt die katholische Kirche die Auffassung, dass jeder Mensch von Gott die Freiheit geschenkt bekommen hat, sein Leben selbst zu gestalten. Es gibt ja nichts Freiwilligeres, als sich für oder gegen den Glauben an Gott zu entscheiden. Vor allem gibt es keine gesellschaftlichen Sanktionen für Ungläubige. Im Gegenteil: Während andernorts Abtrünnige einer Religion mit dem gewaltsamen Tod bedroht werden, hält sich in Deutschland die Gefahr sozialer Ausgrenzung im Rahmen. Da gibt es natürlich, je nach Bevölkerungsstruktur, Unterschiede zwischen Hamburg und München. 
 
Also, der Mensch ist in seiner Glaubensentscheidung grundsätzlich frei (DH 10, KKK 160, 166). Die Kirche bestimmt nicht über sein Leben. – Was meint dann der Beschlusstext des Synodalen Weges damit, die Kirche solle nicht über die Wege der Menschen bestimmen? Heißt es, dass sie den Gläubigen keine Vorgaben (mehr) machen soll? Also beispielsweise über die Zehn Gebote und die für jedermann eindeutigen Aussagen Jesu hinaus keine verbindlichen Aussagen über moralische und sittliche Verhaltensweisen mehr aufstellen soll? – Genau darum scheint es zu gehen. Aber nicht nur. Denn es steht außer der Auflösung der Moral- und Sittenlehre und damit der Entwertung oder zumindest teilweisen Abschaffung des Katechismus möglicherweise etwas Zusätzliches zur Disposition: die Gültigkeit der eigentlichen Glaubensfundamente. Sollen dort auch die verbindlichen Aussagen entfallen? Eine äußerst spannende Frage!
 
Nur der Blick in die Beschlussentwürfe des Synodalen Weges kann eine Antwort liefern. Dazu gibt der „Orientierungstext“ weitere Anhaltspunkte. Er beinhaltet die theologischen Grundlagen des Synodalen Weges. In Nr. 10 heißt es zum Beispiel: „Zu den wichtigsten „Orten“ der Theologie gehören die Heilige Schrift und die Tradition, die Zeichen der Zeit und der Glaubenssinn des Volkes Gottes, das Lehramt und die Theologie.“ Der Satz ist in sich zutreffend, steht aber an einer Stelle, an der es um die Grundlagen des Synodalen Weges geht. Es kann der Eindruck entstehen, dass hier die Theologie an die Stelle des Lehramtes gesetzt wird. Es folgen dann einige Passagen, in denen spürbare Kritik am kirchlichen Lehramt geäußert wird, nicht aber an der Theologie. 

Wo bleibt das Lehramt der Kirche?

An einer weiteren Stelle wird das Problem noch deutlicher. In Nr. 59 heisst es: „Deshalb wird im Synodalen Weg versucht, auf differenzierte Weise theologische Argumentationen vorzulegen, die auch dem Lehramt helfen sollen, bisherige Äußerungen im Licht wissenschaftlicher Erkenntnisse und Reflexionen zu überprüfen und über eine mögliche Veränderung der Positionen nachzudenken.“ 
 
Dieser Satz trifft hinsichtlich des Auftrages der Theologie zu, aber nicht hinsichtlich des Synodalen Weges. Denn diese Passage wirkt – nicht nur den Worten nach – wie eine Instrumentalisierung des Synodalen Weges durch wortführende Vertreter der Theologie. Der Satz beantwortet auch die Frage eindeutig, wie sich der Synodale Weg selbst versteht: als Vertretung der Theologie, nicht des Lehramtes. Folgerichtig kann er sich dann aber nicht in die Aufgabe des Lehramtes transformieren, was er bisher massiv für sich beansprucht. Denn in den unterschiedlichen Foren des Synodalen Weges werden weitreichende Forderungen aufgestellt, die im Widerspruch zu Überlieferung und Lehramt der Kirche stehen. 
 
Bekräftigt wird diese Sichtweise erneut in Nr. 63 des Orientierungstextes: „In dem hier vorliegenden Text sind theologische Kriterien benannt worden, die für die Arbeit der Foren des Synodalen Weges und die Erstellung ihrer Beschlusstexte leitend sind.“ Diese Beschlüsse liegen also auf dem Niveau der Theologie und haben mit der besonderen Verantwortung, in welcher das kirchliche Lehramt in der Nachfolge des von den Aposteln überlieferten Glaubens steht, nichts zu tun. 
 
Hier kommt ein unüberbrückbarer Widerspruch zu dem Anspruch des Synodalen Weges zum Ausdruck. Denn bei ausreichenden Mehrheitsbeschlüssen haben alle Bischöfe die Vorgaben des Synodalen Weges unverkürzt in den jeweils zuständigen Bistümern umzusetzen. Dabei handelt es sich ohnehin um einen sehr umstrittenen Vorgang. Denn die Bischöfe wären in Konsequenz an die Mehrheitsbeschlüsse gebunden, auch wenn diese gegen ihr bischöfliches Versprechen verstoßen könnten, die Lehre der Apostel treu zu bewahren.
 
Die Sorge um die Zukunft des kirchlichen Lehramtes äußerte der Regensburger  Bischof Rudolf Voderholzer. In seiner Predigt am 26. September im Regensburger Dom berichtete er über den Synodalen Weg: „Vom Präsidium wurden eine Präambel und ein Orientierungstext vorgelegt, in dem die theologischen Grundlagen erörtert werden. Da wird, ich muss es so sagen, die Bibel, unsere Heilige Schrift, mit einer hinter das II. Vatikanische Konzil zurückfallenden Offenbarungstheologie relativiert. Der Text beruft sich zwar einerseits auf die historisch-kritische Exegese, aber andererseits – verhängnisvoll – auf die zeitliche und kulturelle Distanz, vor allem aber auf eine Hermeneutik der Vielfalt ohne Dogma. Damit verliert die Heilige Schrift ihren Charakter als Urkunde und Fundament unseres Glaubens.“
 
Die so genannte MHG-Studie, also eine wissenschaftliche Studie zum sexuellen Missbrauch, werde dagegen kritiklos als quasi-unfehlbares Dogma zum Ausgangspunkt aller Bemühungen erklärt. Dabei werde unterschlagen, dass es in der katholischen Kirche seit Jahren ein ernsthaftes und auch erfolgreiches Bemühen um Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs und um Prävention gebe. „Dass jetzt von interessierter Seite weiter so getan wird, als sei bislang eigentlich nichts geschehen, und die Besonderheiten der katholischen Kirche systemisch dafür verantwortlich gemacht werden, nährt meinen Verdacht, dass hier der sexuelle Missbrauch instrumentalisiert wird zum Versuch der Umgestaltung der katholischen Kirche nach dem Vorbild evangelischer Kirchenordnungen“, sagte Rudolf Voderholzer.

Worauf beruht der katholische Glaube?

Der katholische Glaube ruht auf drei Fundamenten: Überlieferung, Heilige Schrift und Lehramt von Papst und Bischöfen. An allen drei Glaubensgrundlagen wird derzeit gerüttelt. Um Fragwürdigkeiten des synodalen Orientierungstextes zu verstehen, ist ein Blick in den Katechismus der katholischen Kirche erforderlich. Dort heißt es in Nr. 83: „Die Überlieferung (oder Tradition), von der wir hier sprechen, kommt von den Aposteln her und gibt das weiter, was diese der Lehre und dem Beispiel Jesu entnahmen und vom Heiligen Geist vernahmen. Die erste Christengeneration hatte ja noch kein schriftliches Neues Testament, und das Neue Testament selbst bezeugt den Vorgang der lebendigen Überlieferung. 
Die theologischen, disziplinären, liturgischen oder religiösen Überlieferungen (oder Traditionen), die im Laufe der Zeit in den Ortskirchen entstanden, sind etwas anderes. Sie stellen an die unterschiedlichen Orte und Zeiten angepaßte besondere Ausdrucksformen der großen Überlieferung dar. Sie können in deren Licht unter der Leitung des Lehramtes der Kirche beibehalten, abgeändert oder auch aufgegeben werden.“
Hier wird also im Katechismus ausdrücklich von zwei Überlieferungen/Traditionen unterschieden: „der Überlieferung/Tradition“, die von Jesus stammt und von den Aposteln weitergegeben wurde. Sie ist unveränderlich. Und zweitens werden regionale Überlieferungen genannt, die veränderbar sind.
 
Der Orientierungstext stellt dieses Hauptfundament des Glaubens völlig anders dar. Dort heißt es: „Die Tradition gibt es nicht ohne, sondern nur in den vielen Traditionen; aber damit die Tradition in ihnen und aus ihnen erkannt werden kann, bedarf es der Traditionskritik. Sie ist Teil der ständigen Neuorientierung der Kirche am Zeugnis der Heiligen Schrift angesichts der Zeichen der Zeit.“
 
Hier wird nicht nur Verwirrung gestiftet, sondern auch eine irreführende Behauptung aufgestellt: Demnach gäbe es nicht nur eine unveränderbare, sondern viele interpretier- und veränderbare Traditionen. – Geschieht so etwas aus Nachlässigkeit oder mit Absicht? Haben das die zahlreich beteiligten Theologen und Bischöfe übersehen?
 
Wichtig sind auch die darauf folgenden Aussagen des Katechismus (Nr. 84 bis 85): „Das in der Heiligen Überlieferung und in der Heiligen Schrift enthaltene ’heilige Erbe’ des Glaubens ist von den Aposteln der Kirche als ganzer anvertraut worden. … Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch auszulegen, ist allein dem lebendigen Lehramt der Kirche – das heißt den Bischöfen in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri, dem Bischof von Rom – anvertraut (DV 10)…“ 
 
Der Katechismus enthält die maßgebliche Definition des katholischen Glaubens. Wer  die Gültigkeit der entscheidenden Grundlagen der Kirche relativiert, kann ihre Lehre verändern. Die im Orientierungstext erwähnten „Zeichen der Zeit“ stellen übrigens „keine Offenbarung dar“, wie Kardinal Kasper bei einem Studientag im vergangenen Herbst erwähnte. Das Konzil habe ihre Bedeutung betont, aber „sie erhalten vom Evangelium her ihre Deutung“, so Kardinal Walter Kasper. 
 
Die Fortsetzung lesen Sie morgen ab 14 Uhr bei CNA Deutsch.
 
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