Auf der Fensterbank an unserem Esstisch stehen meine Großeltern eingerahmt und sind immer dabei. Meine Töchter haben eine ihrer Urgroßmütter kennen gelernt und haben sie auch im Sterben liegend erlebt. Für beide war dies die erste Konfrontation mit dem Tod und der zunächst abstrakten Endlichkeit des Lebens.

Mein Mann und ich haben länger überlegt und diskutiert, ob wir die Mädchen zur Verabschiedung am Sterbebett im letzten Jahr mitnehmen sollen. Während meiner Ausbildung zur Erzieherin habe ich eine religionspädagogische Zusatzqualifikation erworben. Ein zentraler Inhalt war der Umgang mit Tod und Trauer mit Kindern.

Kinder trauern anders als Erwachsene. Zum einen ist die Absolutheit des Sterbens nicht emotional bei den Kindern verankert, weil sie sich nicht vorstellen können, dass jemand nie mehr zurück kommt. Zum anderen leben sie im Moment und trauern ganz punktuell und gehen danach wieder zum Tagesgeschäft über. Dennoch standen wir nun ganz konkret vor der Entscheidung, wie und ob wir die Kinder an dem Sterbeprozess ihrer Urgroßmutter teilhaben lassen sollen.

Meine Oma ist ganz natürlich und friedlich verstorben. Sie hat einige Wochen lang abgebaut, hat dann immer mehr im Bett gelegen und in der letzten Woche ihres Lebens, die Nahrungsaufnahme und das Sprechen eingestellt. Sie lag in ihrem Wohnzimmer in einem Bett, ihre Töchter waren rund um die Uhr bei ihr und der Pflegedienst kam, um beim Waschen und versorgen zu unterstützen. Mir wurde bewusst, dass wir uns mit der Frage beschäftigten, weil nicht nur unsere Kinder zum ersten Mal einen Menschen im Sterben liegend sahen, sondern ich genauso eine Premiere erlebte. Ich habe zwar schon während eines Jobs in meiner Schulzeit im Seniorenstift einige Verstorbene gesehen, aber jemanden, der einem auch noch nahe steht, im Prozess zu erleben, das hatte ich noch nicht.

Warum nicht? Gehört der Tod nicht zum Leben dazu wie Geburt oder Krankheit? In einem meiner vergangen Texte über Erziehung habe ich auch über veränderte Familienstrukturen geschrieben. So wie uns Eltern als Vorbilder für Erziehung in der verloren gegangenen Großfamilienstruktur fehlen, so privatisieren sich auch andere natürliche Wege der Menschen in der eigenen Familie. Früher lagen die Alten oder Kranken in der Nähe des wärmenden Ofens, umgeben vom Treiben der Familie, dem Lachen und Weinen der Kinder.

Nun lag meine Oma dort in ihrem Wohnzimmer. In den letzten Tagen und Wochen kam die ganze Familie viel zu Besuch. Auch wir entschieden uns an einem Sonntag zu ihr zu fahren und ihr ein letztes Mal die Hand zu halten und ihr zu begegnen. Die Mädchen spürten unsere Anspannung und Trauer und als wir den Raum betraten, erfüllte uns eine ehrfürchtige Stille. Wir setzten uns zu ihr, sie nickte uns zu und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die Große war etwas unsicher, fragte warum die Uroma im Bett liegt, ob sie Schmerzen habe und war vorsichtig mit ihr. Die Kleine war deutlich unbefangener, wollte auf die Uroma klettern und fand alles sehr spannend. Dann hielten wir ihr die Hand und sprachen mit ihr. Ein letztes Mal. Wir erzählten ihr von unseren Erlebnissen der vergangenen Tage, vom Zoobesuch und es fiel uns schwer einen gelungenen Satz zum Abschied zu finden.

Unsere große Tochter fand dann die richtigen Worte und sagte gerade heraus: Es war immer schön bei dir. Treffender hätte es niemand von uns formulieren können. Und so erlebten wir nicht nur gemeinsam das Sterben der Oma/Uroma, sondern unsere Tochter hatte uns als Kind den Moment leichter gemacht. Wir verließen das Wohnzimmer und die Mädchen entdeckten das Spielzimmer und machten sich daran, Einkaufsladen zu spielen.

Der Tod ist traurig und endgültig, aber ihn durch die Augen unserer Töchter zu erleben, hat ihn uns nahe gebracht und selbstverständlicher gemacht.

Im Jahr darauf ist dann die Patentante meines Mannes nach schwerer Krankheit im Krankenhaus verstorben. Dieses Mal ein Sterbeprozess, der alles andere als friedlich war und die ganze Großfamilie in tiefe Trauer versetzt hat. Unsere Töchter waren nun ein Jahr älter und bekamen die Trauer und das unaufhaltsame Sterben hautnah mit, da besonders mein Mann ein inniges Verhältnis zu seiner Patentante hatte.

Die Kinder fragten nun nach Bildern, um den Tod konkretisieren und begreifen zu können. Ich versuchte ihnen den Unterschied von Körper und Seele zu erklären und offenbarte ihnen meine Hoffnung und meinen Glauben, dass wir uns alle einmal bei Gott wieder sehen werden und es uns dort gut geht. Das tröstete sie und sie überlegten fantasievoll, was es wohl alles beim lieben Gott geben mag. Eis, Süßigkeiten, Spielzeug…in all ihrer kindlichen Leichtigkeit kreierten sie sich einen Himmel, den ich mir schöner nicht hätte vorstellen können.

Uns fiel die Entscheidung wieviel die Kinder mitbekommen sollten, nun leichter. Wir pflückten Blumen, brachten sie der Tante ans Sterbebett, wir tranken mit ihr einen letzten Wein auf ihren Wunsch und die Kinder aßen Schokoküsse mit ihr am Sterbebett. Sie strahlte die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod aus und unseren Mädchen fiel es nicht schwer, sich auf den Moment einzulassen.

Mit Kopf, Herz und Hand, sollen Kinder ihre Welt erleben, sagte einmal Maria Montessori und genauso hielten wir es auch im Umgang mit dem Tod. Wir versuchten ihn in den Köpfen greifbar zu machen, wir pflückten Blumen und bastelten Grabbeilagen und erreichten die Kinder so mitten in ihren Herzen, die sie mitten im Leben den Tod begreifen lassen konnten.

Heute sind von den Verstorbenen Fotos und Erinnerungen übrig geblieben und immer wenn uns unser Spaziergang in die Kirche verschlägt und wir eine Kerze anzünden, dann denken wir an sie und sprechen darüber, wie gut sie es haben mögen beim lieben Gott. Meine Töchter sind sich sicher: Uroma und Tante Maria sehen jeden Tag die Wolken von oben und sind gesund.

Elisabeth Illig ist Mutter von bald drei Kindern. Die gelernte Erzieherin hat ihr Theologiestudium bewußt unterbrochen, um sich um die Familie zu kümmern. 

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