In seiner Weihnachtsansprache 2019 an die Kurie des Vatikans gab Papst Franziskus der Kultur einen hohen Rang für unser aller Glaubensfähigkeit. Und er sah in ihrem Verlust eine zentrale Ursache für die moderne Säkularisierung. "Wir haben keine christliche Leitkultur, es gibt keine mehr! Wir sind heute nicht mehr die Einzigen, die Kultur prägen, und wir sind weder die ersten noch die, denen am meisten Gehör geschenkt wird. Wir brauchen daher einen Wandel im pastoralen Denken…"  Um diesem Ausfall entgegenzutreten, seien Prozesse anzustoßen" ….in Treue zum depositum fidei und zur Tradition".

Ohne Frage war die Bischofssynode zu Amazonien als ein solcher Anstoß gedacht. Zwar bekundet das nachsynodale Dokument "Querida Amazonia" (=QA) in fast jeder Zeile: Der Titel "Geliebtes Amazonien" ist keine hingeworfene Formalität des gängigem Jargons; der Text ist vielmehr diktiert von der väterlichen Zuneigung und brüderlichen Sorge des Nachfolgers Petri für diese Region der Erde.  Dabei haben  die Darlegungen freilich ihren Schwerpunkt im Gewicht, das gerade die Kultur für das "buen vivir" – das "Gute Leben" (QA 8) hat. Das nötigt zunächst zu der Frage: Warum gibt der Papst einer Kultur überhaupt einen solchen Rang für das Gelingen unseres Daseins?

Kultur

Wir Menschen müssen uns in allen Lebensräumen Sachgesetzen unterordnen. In ihnen melden sich Bedürfnisse und Tätigkeiten an: Essen und Schlafen, Arbeit und Sozialkontakte, familiäre und private Verpflichtungen. Diese Gesetze haben ihre Berechtigung; sie lassen sich nicht ungestraft mißachten. Manchmal entgeht uns freilich, daß wir ihnen auf verschiedene Weise genügen können: pragmatisch-nüchtern, damit es uns weniger Zeit kostet – oder in einem Stil, der solchen Vollzug nutzt, unsern Alltag zu bereichern. Dann können sogar Pflichten Freude vermitteln. Und Kultur bietet die Chance, das Sinnvoll-Sachliche spezifisch zu gestalten und schön zu machen. Der Mensch trachtet darum nach Ausdrucksweisen, die seinem Dasein eine gewinnende Gestalt geben: für Wohnung und Kleidung, für die Tage des Jahres, für den Lauf der Zeit. Durch Umgangsformen und Lebensstil, durch Dichtung und Musik sowie durch Mythen und Kunstwerke prägen wir uns selbst und unsere Geschichte. In dem Maß, in dem uns solche Erfindungen gelingen, sind wir schöpferisch und übertreffen das Animalische.

Weil zum menschlichen Geist religiöse Elemente gehören, brauchen auch diese ihre greifbaren Formen. Andernfalls würde ja die menschliche Geisteswelt um ihre spirituelle Dimension verkürzt; sie gäbe unsern inneren Kosmos nur unvollständig wieder. Die Kirche  schafft folglich dem geistlichen Suchen zutreffende Objekte, Riten und Praktiken. Sie sind für uns Christen von der Offenbarung inspiriert und können verkündigend und glauben zeugend auf den Einzelnen und die Gruppe zurückwirken. Glückt Kultur, so ist sie eine sehr dienliche Hilfe für unsere Gottesbeziehung. Ein italienischer Philosoph und der Gründer der Geistlichen Bewegung "Comunione e Liberazione", Don Luigi Giussani, berichtet über seine langjährige und fraglos sehr fruchtbare apostolische Arbeit: "Die kulturelle Aktivität zielte darauf zu prüfen, ob der christliche Glaube ein Verständnishorizont für die Begegnung mit den nach und nach auftauchenden Problemen sein könnte" (Anm. R. Ronza, Comunione e Liberazione, Mailand ((7. Auflg. 1980)) 29f.). 

Vaticanum II

Unsere Gesellschaft will nach dem "Input" den raschen "Output"; wir haben den "Instant-Coffee" und die "Instant-Camera" erfunden. Was zum Warten nötigt, mißfällt uns.  Kultur aber greift nicht von heute auf morgen. So entgeht unserer Pastoral oft, daß der Umweg über christliche Kultur für Leben und Verbreitung der Heilsbotschaft kaum zu überschätzen ist.  Die zum Vaticanum II versammelten Konzils-Väter hatten sie offenbar deutlich vor Augen. Ihre Überlegungen zur Kultur sind in der Konstitution über die "Kirche in der Welt von heute" (=GS) nachzulesen. Der Diskussionsprozess, der uns erhalten ist, zeigt die Sorgfalt und Mühe, die auf das Thema verwandt wurden (Anm. LThK XIII, Freiburg 1968, bes. 447 – 485). Nach langen Beratungen widmete man ihr ein ganzes Kapitel (CAPUT II: GS 53 – 62). Es bleibt eine Fundgrube für sorgfältige Seelsorge. Das Diskussions-Protokoll hält fest, man hätte zwar auf den Versuch einer Definition verzichten wollen. Doch die in der Konstitution formulierte Beschreibung zeigt bestechend auf, was dieser oft oberflächlich gebrauchte Begriff enthält.

"Unter Kultur im allgemeinen versteht man alles, wodurch der     Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet; wodurch er sich die ganze Welt in Erkenntnis und Arbeit zu unterwerfen sucht; wodurch er das gesellschaftliche Leben in der Familie und in der ganzen bürgerlichen Gesellschaft im moralischen und institutionellen Fortschritt menschlicher gestaltet; wodurch er endlich seine groß0en geistigen Erfahrungen und Strebungen im Lauf der Zeit in seinen Werken vergegenständlicht, mitteilt und ihnen Dauer verleiht – zum Segen vieler, ja der ganzen Menschheit" (GS 53).

Der Text berührt mit dem großen Atem des Vaticanum II. Er versuchte, das im Phänomen Erfassbare anzusprechen. Diese Faktoren stellte er dann in den Horizont des Glaubens, überzeugt, daß der Kulturauftrag zum ursprünglichen Plan Gottes mit dem Menschen gehört. Schöpfungswerk und Erlösungsordnung sind nämlich aufeinander verwiesen (GS 57).

Querida Amazonia   

Die Exhortation zur Amazonas-Synode tut darum gut daran, ein halbes Jahrhundert nach dem Konzil "Kultur" neu ins Bewußtsein zu heben - als hohen Wert des Menschen sowie als ein zentrales Medium der Evangelisierung. Und Papst Franziskus widmet sich diesem lebensgestaltenden Element nicht nur generell und abstrakt. Er tut es für eine spezifische Form der Kultur: für die Kultur Amazoniens und – man möchte sagen – mit brennendem Herzen. Seine Liebe zu dieser Region der Erde und zu seinen Völkern treibt ihn und macht ihn gleichzeitig zu einem wortmächtigen Apologeten von Land und Leuten. Darum wird Ehrfrucht die Wurzel seiner Hochschätzung. So sagte er etwa schon in seinem Grußwort zu Beginn der Bischofs-Synode (7. 10. 2019):

"Denn die Völker, alle Völker, haben ein eigenes Wesen, haben eine eigene Weisheit, eine Hermeneutik und sind bestrebt, Protagonisten ihrer eigenen Geschichte zu sein, mit diesen Dingen, mit diesen Eigenschaften. Und wir nähern uns ihnen an, indem wir uns fernhalten von ideologischen Kolonialisierungen, die die Eigenart der Völker zerstören oder mindern. Heute sind ideologische Kolonialisierungen sehr verbreitet. Und wir nähern uns ihnen an ohne das unternehmerische Bestreben, ihnen vorgefertigte Programme zu erstellen, die amazonischen Völker zu »disziplinieren «, ihre Geschichte, ihre Kultur zu disziplinieren. Das nicht: dieses Bestreben, die Ureinwohner zu disziplinieren. Wenn die Kirche vergessen hat, wie sie sich einem Volk annähern soll, dann hat sie sich nicht inkulturiert: Sie ist sogar dahin gelangt, bestimmte Völker zu verachten." 

Pietät gegenüber dem Lebensstil dieser Menschen, ihren Wertvorstellungen, Frömmigkeitsformen und Riten verweisen den Hirten auf den Rang von Kultur. Schon die "vier Visionen" des 1. Teils vom QA haben im Bereich "Kultur" ihren roten Faden.

Sie wird vorgefunden und ist zu bewahren; denn sie trägt bei zum Besten der Menschen (QA 28). Der Weitsichtige liebt ihre Wurzeln und schützt sie; denn sie hilft dazu, den Lebenskampf zu bestehen (ebd. 33). "Über Jahrhunderte hinweg haben die Völker Amazoniens ihre kulturelle Weisheit mündlich weitergegeben in Mythen, Legenden und Erzählungen, wie es mit jenen urzeitlichen Erzählern geschah, die durch die Wälder zogen und Geschichten von Dorf zu Dorf trugen, um eine Gemeinschaft am Leben zu erhalten, die sich ohne die Nabelschnur dieser Geschichten in der Distanz und der Isolation zersplittert und aufgelöst hätte" (ebd. 34).  Eine globalisierte Gesellschaft schwächt und zerstört solche Kräfte. Doch das je eigene Recht von Völkern und Kulturen ist zu respektieren und zu sichern (ebd. 40).  So betrachtet, können wir Menschen nah und fern uns dann mit Amazonien "innig verbunden fühlen … Amazonien wird zu uns gehören wie eine Mutter" (ebd. 53). Die Region erscheint sogar - nach den Worten des Papstes – für die Glaubenden als ein "theologischer Ort, ein Raum, wo Gott selbst sich zeigt und seine Kinder zusammenruf" (ebd. 57).

Evangelisierung

Wie schon in der vatikanischen Konstitution angemerkt, wird für den Christen allerdings die Kultur nie auf das Licht der Offenbarung verzichten. Sonst würden letztendlich die sündhafte Abwendung des Menschen von Gott und der Erlösungstod des Gottessohnes verspielt. So fordert dann auch QA auf, von Christus "zu sprechen und andere auf seine Einladung zu einem neuen Leben aufmerksam zu machen: »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (1 Kor 9,16). "Unverzichtbare Verkündigung in Amazonien": Mit dieser Zwischenüberschrift macht Franziskus klar, dass es aus seiner Sicht nicht reicht, nur eine "soziale Botschaft" zu vermitteln. Diese Völker hätten "ein Recht auf die Verkündigung des Evangeliums", sonst "würde jede kirchliche Struktur nur zu einer weiteren NGO werden" (ebd. 61 – 65).

So interessiert den Leser, wie der Papst bei der Hochschätzung der vorgefundenen Kultur deren Identität zusammenbringt mit der Botschaft des Evangeliums. Wie denkt QA Inkulturation? 

Kerygma beinhaltet für ihn "die Verkündigung eines Gottes, der jeden Menschen unendlich liebt und der uns diese Liebe vollkommen in Christus geoffenbart hat" (64). Bei der Begegnung zwischen amazonischer Kultur und der biblischen Botschaft ist alles Gute vielmehr aufzunehmen "und im Lichte des Evangeliums zur Vollendung zu führten" (66). Auf neue Weise mag sich Gnade in Völkern inkarnieren, so daß Amazonien mit einem neuen Modell von Heiligkeit die Weltkirche herausfordert (77). Das Leben der Völker schafft sich religiöse Ausdrucksformen, die nicht als Aberglaube oder Heidentum  zu bezeichnen sind (78). Mythen von spirituellem Sinngehalt dürfen nicht immer als heidnischer Irrtum angesehen werden (79).

All diese herausgehobenen Formulierungen sind nicht auf theologische Klärung bedacht, sondern drängen zu einer umfassenden Rezeption der Amazonas-Kultur.  Eine Nummer mag als Synthese der Inkulturations-Vorstellung des Dokuments gelesen werden:

Wir können sehen, dass dies (sc. die Inkulturation) eine doppelte Bewegung impliziert. Einerseits eine befruchtende Dynamik, die es erlaubt, das Evangelium an einem bestimmten Ort zum Ausdruck zu bringen, denn »wenn eine Gemeinschaft die Verkündigung des Heils aufnimmt, befruchtet der Heilige Geist ihre Kultur mit der verwandelnden Kraft des Evangeliums«[92]. Auf der anderen Seite erlebt die Kirche dabei selbst einen Prozess des Empfangens, der sie mit dem bereichert, was der Geist bereits auf geheimnisvolle Weise in diese Kultur gesät hat (QA 68.).

Hier werden biblische Schlüssel-Begriffe für einen Inkulturations-Prozess gewiß nicht ausgespart. Doch erfolgt ihre Bezugnahme üauschal und gleichsam en passant.  Die geoffenbarte Glaubenswelt wird nicht konkretisiert, geschweige denn von Offenbarungswidrigem in der Kultur  Amazoniens abgegrenzt.

Hilfen der Kultur für das Glauben

Solche väterlich bejahende Umarmung der Kultur Amazoniens  motiviert zu ihrer Gegenüberstellung mit den Aussagen des Vaticanum II. Auch diese versichern, daß sich Christen immer wieder neuen Formen der Kultur zu öffnen haben (CS 57). Doch sie warnen auch vor möglichen destruktiven kulturellen Elementen. Der Text vermerkt:

"Die gute Botschaft Christi erneuert unausgesetzt Leben und Kultur des gefallenen Menschen und bekämpft und beseitigt Irrtümer und Übel, die aus der stehts drohenden Verführung zur Sünde hervorgehen. Unablässig reinigt und hebt sie die Sitten der Völker" (GS 58).

Fraglos sahen die Konzils-Väter auch die Gefahren und Versuchungen, die jede unerlöste -  weil erbsündliche - Kultur für das "buen vivir" impliziert. Christliche Kultur darf das Licht des Glaubens nimmer ausblenden. Sie kann die Ambivalenz diesseitiger Modelle, die immer das letzte über das menschliche Leben sagen wollen, nicht bagatellisieren. Alle kulturellen Angebote haben sich für uns Christen an der Heilsgeschichte zu messen. Es zeugte ohne Frage von beängstigender Naivität, den christlichen Glauben mit einer Kultur-gewordener Weltsicht einfachhin auszutauschen;  Pater Ernesto Cardenal, der in diesen Tagen starb, dürfte sie jedem nehmen. 

Von Kardinal Giacomo Lercaro (+ 1976), eine der prägenden Persönlichkeiten des Vaticanum II und einer der vier Konzilsmoderatoren, ist eine bemerkenswerte Stellungnahme zum Thema Kultur überliefert.. Aber sie klärt in fundamentaler Weise auch die anstehende Problematik; denn sie gibt in der biblischen Offenbarung den Richtpunkt und die Grenze aller kirchlichen Inkulturation.

"Um sich dem wahren Dialog mit der Kultur von heute zu öffnen, muß die Kirche ihre Kultur immer mehr auf den absoluten Reichtum der Heiligen Schrift, der biblischen Denk- und Sprechweise konzentrieren. Sie darf nicht die Furcht hegen, darum nicht verstanden zu werden oder die Menschen zu enttäuschen; denn im Grund wünschen sie von der Kirche gar nichts anderes. Dann wird die kirchliche Kultur … als mächtige religiöse Kraft erscheinen, die fähig ist, alle Kulturen von heute und morgen zu durchsäuern" (Anm. LThK XIII, aaO. 466f.).

Grenzen der Inkulturation

In seiner 2000-jährigen Geschichte traf die jüdisch-christliche Tradition immer neu auf beeindruckende Kulturen. Sie forderten es heraus; denn immer neue Inkulturation ist ja unumgänglich, weil die Heilsbotschaft von den Hörern verstanden und innerlich angenommen werden sollte. Die dann gebotene Entwicklung vollzog sich allerdings nie im Hand-um-Drehen; ihre Komplexität hat gelegentlich bis zu substantiellen Erschütterungen geführt.

 Zur bislang dramatischsten Herausforderung für Christi Heilswerk wurde wohl seine Begegnung mit der Welt des Hellenismus.  Renommierte Wissenschaftler wie Adolf von Harnack (+1930) haben dieser Inkulturation sogar seine substanzielle Verfälschung durch Platonisierung, Stoisierung und Aristotelisierung nachgesagt. Ein überragender katholischer Theologe, der Jesuit Alois Grillmeier, ist Harnacks Befund detailliert nachgegangen.  (Anm. A. Grillmeier, Hellenisierung der christlichen Botschaft, in Fragmente zur Christologie, Freiburg 1997, 81 – 111). Seine rigorose Analyse kann hier nicht wiedergegeben werden.

So viel ist nur von ihm zu lernen: Zustimmung zur Inkulturation in das Christentum bedarf zunächst nüchterner Intellektualität; sie gelingt nicht in emphatischer Umarmung.  Sie ist ferner nicht mit einem Federstricht zu dekretieren, sondern benötigt lange Zeiträume: Für die untersuchte Periode zur Hellenisierung sind es mehrere Jahrhunderte; im erwähnten Fall kam sie erst durch das Konzil von Nikaia (325) zum Abschluß. Und zwar durch die prägnante Dogmatisierung der Gottessohnschaft Jesu Christi (HOMOUSIOS) gegen Arius (+336).   Für den erwähnten Vorgang - er ist gewiß exzeptionell, aber auch exemplarisch - wählt Grillmeier ein treffendes Stichwort; er spricht von einem "Doppelprozess: eine vorlaufende Hellenisierung, dann eine rücklaufende Enthellenisierung" (Anm. ebd. 83). Demnach ist gegenüber jeder neuen Kultur neben der Annahme integrierbarer Elemente unbedingt die Abgrenzung von Offenbarungswidrigem fällig. Bezeichnend ist nicht zuletzt, daß bei der Konfrontation des Hellenismus mit dem Christentum die Inkulturation nicht im Ungefähren blieb. Sie mündete in klare Lehr-Begriffe des "depositum fidei" – wie es auch Papst Franziskus eigentlich in der eingangs zitierten Weihnachtsansprache forderte.   

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