Der Sieg von Giorgia Meloni und ihrer Partei "Fratelli d'Italia" (Brüder Italiens) bei den jüngsten Wahlen in Italien machte weltweit Schlagzeilen.

Meloni gewann mit einem Programm, das traditionelle Familien, nationale Identität und die christlichen Wurzeln des Landes verteidigt. In einer Rede Anfang des Jahres sagte sie "Nein zur LGBT-Lobby, Ja zur sexuellen Identität, Nein zur Gender-Ideologie".

Als Vorsitzende einer Partei, die aus einer Nachkriegsbewegung hervorgegangen ist, die wiederum aus den Trümmern des Faschismus hervorging, kann Meloni weder als Postfaschistin noch einfach als Rechtsaußen bezeichnet werden.

Ihre internationale Position ist transatlantisch geprägt. Sie hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unterstützt und ihm zu seiner Wahl gratuliert.

In europäischen Fragen steht Meloni der Gefahr kritisch gegenüber, dass die EU den Nationalstaaten ihre Politik aufzwingt, aber sie ist nicht gegen das Prinzip einer Europäischen Union.

Kurz gesagt, die Realität von Melonis Politik ist viel nuancierter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dies erklärt, warum die katholischen Strukturen in Italien nach ihrem Wahlsieg eine gewisse Offenheit gegenüber der Politikerin gezeigt haben.

Politischer Hintergrund in Italien

Die Geschichte Italiens spielt eine wesentliche Rolle für das Verständnis dieser Realität. Nach dem Faschismus wurde der italienische Staat mit einer starken katholischen Partei, den Christdemokraten, wieder aufgebaut, die jahrzehntelang unangefochten an der Spitze der Wahlergebnisse stand.

Die Katholiken gehörten zu den ersten Gegnern des Faschismus.

Die italienische Verfassung wurde von einer Gruppe von Katholiken angestoßen, die 1943, bereits gegen Ende des Krieges, im Kloster Camaldoli in der Toskana zusammenkamen, um die Grundsätze für einen postfaschistischen Staat zu definieren.

Anfang der 1990er-Jahre wurden die traditionellen Parteien, einschließlich der Christdemokraten, durch einen weit verbreiteten Korruptionsskandal in der italienischen Politik ("Tangentopoli") ausgelöscht.

Neue Parteien entstanden, und Mitglieder der Christdemokraten traten diesen bei oder waren Teil verschiedener politischer Formationen.

Die derzeitige Italienische Demokratische Partei, die als Mitte-Links-Partei gilt, setzt sich aus ehemaligen Mitgliedern der Christdemokraten sowie aus Mitgliedern der alten linken Parteien zusammen.

Der Sekretär, Enrico Letta, war früher bei den Christdemokraten. Auch Parteien, die in Italien als Mitte-Rechts-Parteien gelten, wie Berlusconis Forza Italia, haben in ihren Reihen Erben der Christdemokraten, aber auch ehemalige Sozialisten und ehemalige Mitglieder der italienischen Liberalen Partei, die traditionell säkular und in mancher Hinsicht sogar antiklerikal ist.

Die italienische Kirche hatte zunächst die so genannte Zentrumspartei unterstützt, welche die erste direkte Erbin der Christdemokraten war. Doch schon bald ging die Politik der italienischen Bischöfe dazu über, nicht die politischen Formationen zu unterstützen, sondern vielmehr die Werte und Themen, für die die verschiedenen Parteien eintraten – also nicht mehr eine katholische Partei, sondern Katholiken in der Politik.

In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren war Kardinal Camillo Ruini der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz. Angesichts der gewaltigen parlamentarischen Auseinandersetzungen prägte Ruini den Ausdruck "nicht verhandelbare Werte".

Mit nicht verhandelbaren Werten meinte er zunächst die Bedeutung des Lebens in einer Zeit, in der politische Aktivitäten Euthanasie, In-Vitro-Fertilisation und sogar Abtreibung als persönliche Gewissensfrage propagierten.

Nachdem der Bischofskonferenz Ruini und dann Kardinal Angelo Bagnasco vorgestanden hatten, ist die Frage der nicht verhandelbaren Werte nuancierter geworden.

Mit Kardinal Gualtiero Bassetti, der 2014 zum Vorsitzenden der italienischen Bischofskonferenz gewählt wurde, hat sich die Kirche in Italien stärker auf konkrete Fragen der Armut und der Wirtschaft konzentriert und dabei wohl die Werte-Plattform etwas aus den Augen verloren.

Dies war eine strategische Entscheidung, die von der Tatsache diktiert wurde, dass Katholiken in der Politik zunehmend an den Rand gedrängt wurden und dass die Soziallehre der Kirche immer weniger Raum in der Bildung der neuen herrschenden Klasse einnahm. In den frühen 2010er-Jahren gab es Versuche, neue Plattformen der katholischen Kultur zu schaffen. Diese wurden durch eine wirtschaftlich-institutionelle Notlage in den Hintergrund gedrängt, die dazu geführt hatte, dass der Ökonom Mario Monti die Regierung führte.

Zu all dem muss hinzugefügt werden, dass die Kultur in Italien stark von linkem Denken geprägt ist. Es sei daran erinnert, dass Italien nach dem Krieg die größte kommunistische Partei auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs hatte.

Die Kommunistische Partei entwickelte ein starkes antifaschistisches Widerstandskonzept. Doch die kommunistischen Partisanen waren auch verantwortlich für abscheuliche Morde und die systematische Beseitigung von Priestern – zum Beispiel des kürzlich selig gesprochenen Priesters Rolando Rivi.

Die katholische Plattform in Italien

Der historische Kontext erklärt, wie sich das katholische Denken in Italien entwickelt hat, insbesondere in den Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Damals schwankte der Katholizismus in Italien zwischen dem Bedürfnis nach Identität und dem Narrativ eines Bruchs, der eine Kirche wollte, die sich mehr für soziale Fragen und weniger für die Zentren der Macht engagiert.

Ein typisches Beispiel: Der jüngste Gesetzentwurf gegen Homophobie, der die Einführung von Unterricht zum Thema Gender in den Schulen vorsah, wurde von der Italienischen Demokratischen Partei unter der Führung des ehemaligen Christdemokraten Letta nachdrücklich unterstützt.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die katholischen Wähler in Italien Giorgia Meloni den Vorzug gegeben haben. In Ermangelung einer politischen Bezugspartei wandte sich die katholische Mitte an die Partei, die ihren spezifischen Werten am meisten entsprach.

Bei Melonis Wählern handelt es sich wohl um Menschen, die 2007 und 2016 an Veranstaltungen zum Familientag in Italien teilgenommen haben, um sich gegen zwei Gesetzentwürfe zu zivilen Lebenspartnerschaften zu wehren.

Der Organisator des letzten Familientags, Massimo Gandolfini, sagte 2019: "Wir erkennen an, dass die Brüder Italiens und Giorgia Meloni eine Politik zum Vorteil der Familie, für den Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod und für die Erziehungsfreiheit der Eltern verfolgen."

Andererseits stößt Meloni auf Skepsis und Bedenken, weil sie eine Partei mit einem faschistischen Erbe führe.

Viel Aufmerksamkeit wurde ihrem Treffen mit Kardinal Robert Sarah, dem emeritierten Präfekten der Gottesdienstkongregation, gewidmet. Aber es gab auch andere Gespräche mit Persönlichkeiten des Vatikans. Gerüchte deuten auch auf Kontakte mit Kardinal Pietro Parolin, dem Staatssekretär des Vatikans, hin.

Hinzu kommt ein Treffen mit Kardinal Matteo Zuppi, dem derzeitigen Vorsitzenden der italienischen Bischofskonferenz. In einem Interview mit der italienischen Bischofszeitung Avvenire am 28. September machte Zuppi deutlich, dass er Meloni gut kennt. Er beschrieb auch, dass die Kirche in Italien zur Zusammenarbeit mit allen Parteien verpflichtet sei.

Um den Zusammenhang zu verstehen, muss man wissen, dass Zuppi ein Vertreter von Sant'Egidio ist – einer Bewegung, die den Forderungen von Mitte-Links näher steht als jenen von Mitte-Rechts.

Die Position der italienischen Bischöfe

Im Allgemeinen unterstützen die italienischen Bischöfe keine spezifischen politischen Kandidaten, halten sich zurück und geben nur Erklärungen ab, die den Vorsitzenden der Bischofskonferenz oder möglicherweise den Staatssekretär betreffen.

Auch Meloni hielt sich zurück. Im Vergleich zu anderen hat sie ihren Glauben in ihrer Kampagne nicht ausgenutzt. Meloni gab zwar einen allgemein als konservativ geltenden Ton an, aber ihre Rhetorik war politisch, nicht religiös.

Die Präsidentin der Brüder Italiens wird von denen, die sie kennen, als jemand beschrieben, "der sich als Teil der Kirche betrachtet und Papst Franziskus sehr respektiert, auch wenn sie vielleicht bestimmte [Aspekte] seiner Aussagen oder Handlungen nicht versteht oder teilt".

Sie war auch auf dem Treffen von "Communione e Liberazione" in Rimini anwesend, das jeden August stattfindet, und sprach über die katholische Soziallehre.

Brüder Italiens und die italienische Kirche

Kardinal Ruini, dessen Stimme immer noch Gewicht hat, sagte in einem Interview mit dem Corriere della Sera am 28. September: "Die Intellektuellen sind auf der linken Seite, aber das wirkliche Land ist auf der rechten Seite." Er erkannte die Realität von Melonis Rolle und der Wahl ihrer Partei an.

Dabei wies Ruini darauf hin, dass die katholische Welt in Italien eher der so genannten linken Mitte als der rechten Mitte zuzurechnen sei. In Italien, wie auch anderswo, herrscht der Eindruck einer tiefen Kluft zwischen denjenigen, die für nicht verhandelbare Werte eintreten, und denjenigen, die stattdessen einen pragmatischeren Ansatz zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen unterstützen. Aber das ist nur eine Wahrnehmung: Die Realität ist vielschichtiger.

Vielleicht ist es jetzt an der Zeit für eine nuancierte Versöhnung der Gegensätze in der katholischen Welt Italiens. Giorgia Meloni ist keine katholische Politikerin. Die Werte, für die sie eintritt, haben jedoch auch die katholische Wählerschaft überzeugt. Dies ist eine Realität, die man auf keinen Fall ignorieren darf.

Übersetzt und redigiert aus dem Original von Catholic News Agency, der englischsprachigen Partneragentur von CNA Deutsch.

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