Liebe Mitchristinnen und Mitchristen

Bei vielen Texten im neuen Testament liegen vor dem Verstehen Stolpersteine. Man versteht sie nicht auf den ersten Blick. Das ist beim heutigen Text vom barmherzigen Samariter nicht so. Man versteht ihn sofort: Du sollst dem Menschen in großem Elend sofort helfen. Dass ist eine klare Aussage Jesu. Jeder Mensch kann sie sofort verstehen – ob getauft oder ungetauft, ob gläubig oder nicht gläubig.

Und wenn man von dieser Aussage auf die heutige Kirchensituation hinüberwechselt, dann sieht es mit dem Glauben vielleicht doch nicht so schlecht aus. Denn sind nicht Millionen Menschen ohne Kirche sehr hilfsbereit? Sind Kirchgänger hilfsbereiter als Nicht-Kirchgänger? Sind Menschen, die von sich sagen, sie glaubten nicht an Gott, nicht ebenso sozial wie Menschen, die von sich sagen, sie glaubten an Gott?

Soll man also aus dem heutigen Evangelium schlussfolgern: Die Aufregung darüber, dass immer weniger Menschen sich zum Christentum bekennen, ist übertrieben, ja ist vielleicht sogar falsch?

Kann man nicht sogar sagen: Die Sünden von Kirchenleuten behindern das rechte Verhalten, die Nächstenliebe, die Solidarität mit Notleidenden?

Ich glaube, dass das auch wieder eine falsche Vereinfachung wäre.

Man muss meiner Ansicht nach zunächst einmal fragen: Woher kommt das Denken an Solidarität? Woher kommt das Denken an die Hilfe für den Menschen in Not? Ist der Mensch einfach gut, und ist ihm das von Geburt an eingegeben, sich dem Notleidenden zuzuwenden?

Ich denke: Gleichsam von Natur aus fühlt der Mensch sich solidarisch mit dem Familienmitglied, mit den Mitgliedern seines Clans, seiner Gruppe. Die Natur zeigt dem Menschen: ich bin nur sicher, wenn der Clan zusammenhält. Wenn ich Hilfe brauche, bekomme ich sie vom Clan. Aber ich muss auch Hilfe geben innerhalb meiner Familie, meines Clans. Sicherheit gibt es nur, wenn wir als Clan zusammenhalten. Darüber hinaus ist die Solidarität nicht so selbstverständlich.

Seltsamerweise hat sich im Lauf der Geschichte ein Zusammenhalt in einem Volk entwickelt. Unsere Großväter haben noch ihr Leben gewagt, wenn ihr Volk angegriffen wurde. Das erleben wir auch heute in der Ukraine. Es gibt also über den Clan hinaus eine Solidarität in einer kulturellen Gruppe, einem Volk.

Aber leider muss man auch sagen: Es gibt gerade auch auf diesem Hintergrund Feindschaft, Konkurrenz und Streit und Krieg zwischen Clans und Völkern. Und hier setzt nun Jesus ein: Nicht nur deinen Volksgenossen, sollst du lieben, sondern jedem, der in Not ist und der dir begegnet. Da muss der Mensch über seinen Schatten springen. Denken wir daran, dass der Samariter auch Angst haben konnte vor den Räubern, die den Mann am Straßenrand beraubt hatten. Er hätte wie Priester und Levit konnte schnell weitergehen, um nicht selbst zusammengeschlagen zu werden. Also Angst kann die Solidarität verhindern. Und wie überwindet der Mensch die Angst? Hier kommt eben der Glaube an Gott und der Glaube an Jesus Christus ins Spiel. Wir sind nicht von Natur aus mutig und hilfsbereit. Wir sind es nur in begrenztem Maß, in der Natursolidarität mit denen, die auch uns schützen.

Und nun wird Jesus zum Erlöser. Durch seine Solidarität zu uns, hilft er uns, auch solidarisch zu sein. Jesus springt über seinen Schatten, damit auch wir über unseren Schatten springen können. Das ist Erlösung. Und hier fallen mir halt mal wieder moderne Märtyrer ein. Ich nenne einmal den österreichischen Bauern, Franz Jägerstätter. Er hatte erkannt, dass Kriegsdienst unter Hitler amoralisch ist, verweigerte den Kriegsdienst, bis er ermordet wurde. Er half zwar nicht direkt einem von Räubern Ausgeraubten, aber er ist ein Vorbild, der durch Christus den Mut bekam, nein zu sagen, sein Leben zu wagen.

Aber Jägerstätter hatte Jesus durch die Kirche kennen gelernt. Ohne die Verkündigung in der Kirche hätte Jägerstätter vermutlich nichts über Jesus gehört. Er hatte wohl auch die Gemeinschaft derer kennen gelernt, die Jesus suchten. Und er war nicht blind und hat vermutlich auch gemerkt, dass keineswegs alle Kirchenbesucher Heilige waren. Kirche war also relevant. Man kann also nicht so einfach sagen: Hauptsache Solidarität, die Kirche kann man vergessen. Dass Jesus am Kreuz der Befreier ist, erfahre ich nicht nur aus einem historischen Dokument, der Bibel. Ich sollte es erfahren durch die hörende und glaubende Gemeinschaft der Gläubigen. Sie sind die Gruppe, die nach Jesus und dem Vater sucht und fragt. Und von diesem Suchen und Fragen her haben Tausende von Christen die Kraft und den Mut bekommen, den Menschen am Straßenrand zu helfen. Amen

Pater Eberhard von Gemmingen SJ war von 1982 bis 2009 Redaktionsleiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan.