CNA Deutsch veröffentlicht zum heutigen Feiertag – mit freundlicher Genehmigung des Autors – dieses Feature über die Begegnung der Gottesmutter mit einem indianischen Witwer im Dezember 1531 am Stadtrand Mexikos. Aufgezeichnet hat dieses Paul Badde an Bord der Medienmaschine Papst Johannes Paul II., vor dessen feierlichem Eintrag Juan Diegos in das Buch der Heiligen der katholischen Kirche. 

Mexico-City, 31. Juli 2002 - Ein Kolibri steht schwirrend über dem Rosenstock vor dem Hotel, als wir zur Basilika aufbrechen. Juan Diego lässt grüßen. Alle Vögel und Blumen erinnern hier schon seit Jahrhunderten an den neuen Heiligen, je gefiederter und farbiger, um so mehr, die schönsten Arten zu allererst. Denn die beiden wichtigsten Dokumente zu Juan Diego sind übersät mit kastilischen Rosen und tschirpen wie ein Park an einem frühen Frühlingsmorgen.

Der erste dieser "Texte" ist allerdings ein Tuch, das seit 1531 am Stadtrand des heutigen Groß-Mexiko in der "Basílica de la Santísima María de Guadalupe" ausgestellt wird und das Bild eines schwangeren Mädchens mit mestizischen Gesichtszügen und einen Sternenmantel trägt. Sie ist mit goldenen Sonnenstrahlen umkleidet, steht auf einer schwarzen Mondsichel und erscheint in einer rosafarbenen Mandorla, die sich in einer dichten Wolkendecke öffnet.

 

Das zweite Dokument ist ein kurzes Schriftstück, das erstmals von der Entstehung dieses Bildes berichtet. In einem Satz zusammen gefasst behauptet der Autor da folgendes: "Die Muttergottes erschien am 9., 10. und 12. Dezember 1531 insgesamt viermal einem Indio namens Juan Diego im Hochtal von Mexiko und ließ nach der vierten Erscheinung ihr Abbild auf seinem Mantel zurück." Das klingt natürlich völlig absurd und unmöglich. Für sich allein genommen, wäre die Geschichte deshalb vielleicht ein schönes Märchen. Zusammen mit dem Tuch jedoch ist sie ein Hammer, mit dem Bild der "Morenita", wie die Jungfrau ihres braunen Teints wegen genannt wird, wurde sie zu einer Art Gründungsurkunde des christlichen Mexiko.

Verfasst wurde der Bericht von einem gewissen Indio namens Antonio Valeriano (1520 - 1605) im kaiserlichen "Colegio de Indios de la Santa Cruz de Santiago de Tlateloco". Von ihm wird erzählt, dass er ein Neffe des letzten Azteken-Kaisers Montezuma gewesen sei und ein Mitarbeiter Fray Bernardinos de Sahagún, dem ersten großen Chronisten der aztekischen Kultur.

Der Bericht Antonio Valerianos ist im Original verschollen; und es ist auch unklar, wie er abgefasst war. Überliefert wurde er nur in einer Fassung, die Luys Lasso de la Vega im Jahr 1649 in der Sprache der Nahua-Indianer als eigenes Werk veröffentlichte. Das Schriftstück besteht aus fünfeinhalb durchnummerierten Doppelseiten, auf denen Setzer aus der Druckerei  eines gewissen Juan Ruyz die 218 Verse der Erzählung in fünf unterschiedlich großen Absätzen im Blocksatz angeordnet haben. Jedes Kind in Mexiko kennt diesen Bericht. Nach seinen ersten beiden Worten wird er Nican Mopohua genannt. Das heißt auf deutsch: "Hier wird erzählt." Und so soll es nun auch hier geschehen, in wenigen Auszügen aus dem zwitschernden Original, das verkürzt drei Begegnungen des Indios mit der Jungfrau Maria wiedergibt, die besser als jede Abhandlung den unglaublichen Enthusiasmus erklären helfen, der dem Papst in diesen Tagen bei der Heiligsprechung des ersten Mexikaners entgegen schlägt.

Aus der ersten Begegnung

Über dem östlichen Horizont begann es gerade hell zu werden, als Juan Diego zu dem Hügel kam, der Tepeyac heißt. Da hörte er ein Jubilieren von der Höhe herab, das wie ein Konzert wunderbarer Vögel den Abhang herunter klang. Verstummte das wechselnde Gezwitscher einen Moment, summte es vom Gipfel her wie in einem Echo zurück. Er blieb stehen. "Soll ich das wert sein?" sagte er sich. "Oder träume ich noch? Denn wo bin ich? Bin ich vielleicht in das Land des Himmels geraten?" Er blickte zum Gipfel. Gerade ging dort die Sonne auf. Und genau von dort erklang der himmlische Gesang zu ihm herab. Doch nun verstummte plötzlich der Chor. Und während sich die letzte Stimme noch verlor, hörte er, wie nach ihm gerufen wurde. Von der Spitze des Gipfels rief man ihn: "Kleiner Juan, Juanito, Diegolein!"

Keine Verwirrung bedrückte sein Herz. Nichts ängstigte ihn. Eilig stieg er den Weg hinauf. Als er die Höhe erreichte, sah er eine edle Dame auf dem Gipfel des Hügels stehen. Sie bedeutete ihm, näher zu treten. Als er aber vor ihr stand, überwältigte ihn ihre Schönheit. Ihr Gewand leuchtete spiegelnd wie die Sonne. Der Stein und die Felsen, auf denen sie stand, funkelten unter ihren Strahlen wie Geschmeide. Die Erde leuchtete um sie herum wie ein Regenbogen im Nebel. Die Kakteen und übrigen Kräuter blitzten wie Smaragde auf: strahlend grün. Das Blattwerk blau wie Türkis. Die Strünke, Zweige, Dornen und Stacheln glitzerten golden im Morgenlicht.  "Höre, Juanito!" sagte sie: "Kleinster meiner Söhne! Wo willst Du hin?" Er antwortete: "Meine Herrin! Königin! Mein kleines Mädchen! Dort drüben geh ich hin zu deinem Häuschen nach Mèxico-Tlatilolco. Da will ich Gott dienen und ehren, wie seine Priester es uns lehren."

Nach diesen Worten enthüllte sie ihm ihren Willen und sprach: "Präge Dir folgendes gut ein, Allerkleinster meiner Söhne! Ich bin die immerwährende heilige Jungfrau María, die Mutter des wahren Gottes, durch den wir alle leben. Er ist der Herr des Nahen und des Fernen, der Herr des Himmels und der Erde. Ich will und wünsche mir sehr, dass mir hier ein Heiligtum errichtet wird, wo ich ihn zeigen, preisen und für immer bezeugen kann.  Hier werde ich den Menschen meine ganze Liebe geben, meinen mitleidenden Blick, meine Hilfe, meinen Trost, meine Rettung. Denn ich bin wahrhaftig eure mitleidende Mutter: deine Mutter und die aller Menschen, die hier gemeinsam dieses Land bewohnen. Ich bin die Mutter all derer, die mich suchen und mir vertrauen. Hier werde ich ihr Weinen und ihr Klagen hören. Hier werde ich sie in ihrer Trauer trösten und all ihre Schmerzen lindern. Hier werde ich sie heilen in ihrer Pein, ihrem Elend und Leid. Geh zum Bischof und sag ihm, dass ich dich geschickt habe." Sogleich warf er sich wieder nieder vor ihrem Angesicht und rief: "Ich bin schon weg. Gleich reiß ich mich von Dir los, ich, dein armer kleiner Indio."

Aus der zweiten Begegnung

Traurig, dass er seinen Auftrag nicht hatte ausführen können,  kehrte er zurück zu dem Gipfel des Hügelchens. Doch an der Stelle, wo ihm die Königin des Himmels in der Morgendämmerung erschienen war, da traf er sie auch jetzt wieder. Als er sie sah, warf er sich vor ihr in den Staub, und sagte: "Kleine Herrin, Königin, Kleinstes meiner Töchterlein, mein Allerkleinstes! Gerade so, wie du es verlangt hast, habe ich mich aufgemacht, um die Worte deines Atems unverzüglich auszuführen. Der Bischof war liebenswürdig und hat mir aufmerksam zugehört. Er sagte mir: ‚Komm ein anderes Mal zurück, und ich werde dir in Ruhe lauschen.' An der Art aber, wie er es sagte, konnte ich erkennen, dass er wohl dachte, ich müsse das Haus erfunden haben, das du dir wünschst - und dass die Botschaft nicht von deinen Lippen stammt. Darum flehe ich dich innig an, dass du einen Edlen hinschickst, damit ihm deine Worte geglaubt werden. Denn ich bin doch nur ein Mann des Ackers. Bin ein Spielbrett, bin Schwanz, bin Flügel, ich bin ein Tagelöhner und Lastenträger, der Allerletzte. Ich muss selbst geführt werden. Man muss mich auf dem Rücken tragen. Wo du mich hingeschickt hast, ist kein Ort für mich, mein Allerkleinstes."

Aus der vierten und letzten Begegnung

Als Juan Diego am Fuß des Tepeyac-Hügelchens angekommen war, wo der Weg zwischen den Bergen auf der Seite herauskommt, an der die Sonne untergeht, sagte er sich: "Bleibe ich weiter geradeaus auf dem Weg, sieht mich womöglich die vornehme Dame wieder. Bestimmt wird sie mich dann wieder aufhalten, damit ich dem Bischof das Zeichen bringe, wie sie es mir aufgetragen hat." Danach bog er um den Hügel herum, stieg bis zur Mitte der Anhöhe empor und von dort hinüber zur anderen Seite. Hier wandte er sich dem Sonnenaufgang zu, um schnell nach México zu gelangen. Jetzt sollte die Königin des Himmels ihm nicht in die Quere kommen und aufhalten! In dem Moment sah er sie aber schon vom Gipfel des Hügels herabsteigen. Sie hatte ihn von dort her beobachtet und erwartet. Sie kam zu der Seite herab, wo er nicht ausweichen konnte, stellte sich ihm in den Weg und sagte: "Was ist, Kleinster meiner Söhne? Wo willst du hin?"

Doch war er da etwa zerknirscht? Schämte und scheute er sich oder reute es ihn? War er vielleicht erschrocken und voller Furcht? Er warf sich vor ihr nieder und sagte: "Ach, mein Kleines, mein liebes Töchterlein, mein Kind und meine Königin! Hast du wohl gut geruht und den Tag gut angefangen? Und geht es auch deinem geliebten Körperchen gut, meine Herrin, mein ehrwürdiges Kind? Ich bin nämlich traurig, dass ich dein Gesicht und Herz bekümmern muss. Du musst nämlich wissen, mein kleines Mädchen, dass es meinem Onkel sehr schlecht geht. Darum eile ich gerade nach México, wo ich einen Priester rufen will. Entschuldige mich also bitte! Hab noch ein bisschen Geduld mit mir. Ich werde dich nicht enttäuschen, mein Kind und meine teure Tochter. Morgen schon werde ich ganz rasch wieder hier bei dir sein." Kaum hatte sie die Erklärung Juan Diegos gehört, da antwortete ihm die Jungfrau: "Höre, und nimm es dir zu Herzen, kleinster meiner Söhne! Da ist nichts, das dich erschrecken soll! Nichts soll dich betrüben und verzagen lassen. Dein Gesicht soll nicht bekümmert sein, und auch nicht dein Herz! Fürchte diese Krankheit nicht, noch irgendeine andere Krankheit, noch Angst oder Kummer. Bin ich denn nicht hier: ich, die ich deine Mutter bin? Stehst du nicht in meinem Schutz und Schatten? Bin ich nicht die Quelle deiner Freude? Bist du nicht in den Falten meines Mantels, habe ich dich nicht in meinem Arm? Was ist es, was dir sonst noch fehlt? "