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Thomas lesen

Portrait von St. Thomas des Malers Antonio del Castillo y Saavedra, ca. 1649.

Thomas von Aquins Werke sachgerecht ins Deutsche zu übertragen erweist sich als eine Herausforderung, ja als ein Wagnis. Ersichtlich wird dies besonders am Beispiel des eucharistischen Hymnus "Pange lingua", der einige Male – und nicht selten auf problematische Weise – übertragen wurde. Insoweit ist es grundsätzlich begrüßenswert und auch erforderlich, Klassiker der Theologie in zweisprachigen Ausgaben zu publizieren. Im Fall des vorliegenden Auszugs aus Thomas’ Kommentar zum Johannes-Evangelium ist dies geschehen. Dem Übersetzer, nämlich Josef Pieper, dem 1997 verstorbenen Münsteraner Philosophen, darf der Leser, der des Lateinischen nicht kundig ist, vertrauen, verzichtet dieser doch auf jeglichen kreativen Eigensinn. Thomas’ Werke sind im Deutschen mitunter mit rhetorischen Figuren und Metaphern versehen worden, hier geschieht das nicht. Die ausgezeichnete Hinführung von Hanns-Gregor Nissing veranschaulicht die Grundzüge der exegetischen Arbeit des Kirchenlehrers. Bezogen auf den Johannes-Prolog heißt das, dass Christus das "göttliche Wort selbst" ist, das Wort, das den Theologen auch als Exegeten demütig werden lässt: "Und alle Wort der Heiligen Schrift, alle Worte der Prediger und theologischen Lehrer stammen von ihm und künden von ihm. In ihrer Vielzahl sind sie nicht überdies zugleich nicht imstande, das Eine Wort erschöpfend zum Ausdruck zu bringen."

Wer das Wort Gottes bezeugt und verkündet, darf sich nicht in einer Vielheit von Wörtern verlieren, sondern muss transparent sein für Christus, der das Wort selbst ist. Eine biblisch verbrämte oder verzierte Theologie braucht kein moderner Mensch, im Gegenteil: Gerade heute, im Getöse des Beliebigen und Unbestimmten, im Zeitalter des Relativismus brauchen wir Gottes Wort. Theologie ist also, so schreibt Nissing – und das scheint heute inmitten der postmodernen pastoralen Praxis und exegetischer Praktiken nahezu vergessen zu sein – "ihrem Ursprung nach Interpretation von Offenbarung, d. h. Schriftauslegung": "Die erste grundlegende Aufgabe und Pflicht des Theologen ist daher die Lesung und Kommentierung der Heiligen Schrift." Der Geistliche hat also nicht als Visionär von pastoralen Räumen oder als seelsorglicher Obermanager zu wirken, sondern er ist Diener der Kirche, ein Schriftkundiger, der nicht nur den Weg weisen, sondern selbst auch gehen soll – anders gesagt: Ein Vorbild im Glauben.

Mithilfe der aristotelischen Philosophie, insbesondere der Syllogistik, erweist sich Thomas von Aquin als ein Exeget, vernünftig glaubend, der die "Widerspruchslosigkeit der Aussagen der Heiligen Schrift" aufzeigt. Er möchte die "kohärente Gottesrede" bezeugen, "in der doppelten Perspektive von Bestätigung und Verteidigung bzw. Selbstvergewisserung des katholischen Glaubens einerseits und Widerlegung von Irrtümern andererseits". Fehlerhafte Auslegungen und offenkundige Häresien werden oft als mögliche Betrachtungsweisen und alternative Zugänge zum Glauben vorgestellt. Diese gilt es eindeutig zu benennen und schriftgemäß abzuweisen. Thomas selbst macht das deutlich, wenn er altkirchliche Positionen differenziert diskutiert und auf problematische Denkwege u. a. von Origines hinweist oder die Irrlehren des Arius aufgreift und klärend deren Irrtümer benennt, ohne rhetorische Überhöhung, anschaulich und unmissverständlich.

Die Gläubigen sind in ihrer Begrenztheit an das Wort Gottes gebunden, zugleich "unvermögend, alle unsere Erfassungen in einem einzigen Wort auszusprechen; so müssen wir viele unvollkommene Worte bilden, durch die wir getrennt alles das aussprechen, was in unserem Wort." Im Gegensatz dazu vermag das "göttliche WORT" alles Wirkliche einzubegreifen.

Diskussionswürdig erscheint, warum Josef Pieper "ratio" mit "Begriff" übersetzt und nicht mit Vernunft. Thomas schreibt: "in Graeco, ubi nos habemus Verbum, habetur logos. Cum ergo logos significet in Latino rationem et Verbum, quae translatores transtulerunt Verbum, et non rationem […]", und Pieper übersetzt: "Wo es bei uns WORT heißt, da steht im Griechischen »logos«. »Logos« aber bedeutet, übertragen, sowohl »Begriff« als auch »Wort«. Warum also haben die Übersetzer »WORT« gesagt und nicht »Begriff« […]?" Warum, so fragt sich hier gewiss mancher Leser und erhält keine zureichende Antwort, wählt Pieper für "logos" nicht die naheliegende Übersetzung "Vernunft"? Das ist die einzige Textpassage, deren Übersetzung zu gewichtigen Nachfragen führt. Darüber könnte an Theologischen Fakultäten heute etwa nachgedacht werden.

Im Folgenden legt Thomas dar, dass der heilige Johannes, der durch seine "Teilhabe am göttlichen Lichte" mit "voller Größe" Christus bezeuge, sein Evangelium "würdiger als die anderen" Evangelisten begonnen habe. Er zeige, "wie das WORT Gottes alle Zeiten – Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft – übersteige und jenseits der gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Zeit sei". Das Wort sei Licht und Leben, so dass niemand an ein "Leben ohne Erkenntnis" denken möge. Den "Menschen als geistigen Wesen" komme es zu, sich auf das "Wesen der Wahrheit" auszurichten, über bloße sinnliche Wahrnehmung hinaus. Gleichwohl bewegten und lebten einige Menschen in der Dunkelheit, fern der "göttlichen Weisheit". Thomas schreibt: "Wenn aber auch einzelne Seelen voller Finsternis sind, das heißt, des Wohlgeschmacks wie der Leuchtkraft der Weisheit beraubt, so ist dennoch keine so dunkel, daß sie nicht noch irgend teilhätte am göttlichen Licht."

Eine "zweifache Teilhabe am göttlichen Licht" bestehe. Die eine sei die Schau in Herrlichkeit, die andere die "Teilhabe durch den Glauben", der zur Schau führe. So bewegen auch wir uns "zuerst glaubend, später aber im Vaterlande schauend-genießend" auf Christus zu. Thomas schreibt hier übrigens "in patria perfruendo", also ergänzt Pieper "schauend". Nötig ist es nicht, aber dass die Schau köstlich ist und in dieser Weise genossen werden darf, wer von uns wollte nicht darauf hoffen? Die Schriftauslegung des heiligen Thomas von Aquin öffnet neu den Blick auf den Prolog des Johannes-Evangeliums. Die Publikation der Übersetzung von Josef Pieper ist in jeder Weise lobenswert, nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Einführung von Hanns-Gregor Nissing.

 

Thomas von Aquin: Das Wort. Kommentar zum Prolog des Johannes-Evangeliums. Übers. v. Josef Pieper. Einführende Schriften Bd. 1. Hrsg. v. Hanns-Gregor Nissing und Berthold Wald ist im Pneuma Verlag erschienen und hat 168 Seiten.

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